Rückblick: Terra 4177 S.S.Z.

Es hatte etwas mehr als zweihundert Jahre gedauert, bis der Feind schließlich vor dem Sol-System stand. Zweihundert Jahre, vom Überfall auf eine kleine Obervierungsstation am Rand der Terranischen Planetenunion bis ins Herz eines Reiches, das noch vor zweihundert Jahren ein Viertel der Milchstraße beherrscht hatte. Zweihundert Jahre, von den ersten siebzehn Toten bis zum billionenfachen Mord an der Menschheit.

Nur zweihundert Jahre!

Die Artificials waren auf ihrem Siegeszug nicht aufzuhalten gewesen. Es war der Raumflotte nie gelungen, auch nur eine Schlacht zu gewinnen, auch nur ein System zu halten, auch nur einen Planeten zu verteidigen. Der Gegner war übermächtig und verfügte anscheinend über unbegrenzte Ressourcen. Egal wie viele Verluste man ihm zugefügt hatte, nach der nächsten Raumschlacht waren sie doppelt und dreifach ausgeglichen gewesen.

Es gab schon lange keine Hoffnung mehr, diesen Krieg noch gewinnen zu können. Nun konnte man nur noch darauf hoffen, unter Einsatz aller Kräfte wenigstens das Sol-System, die Heimat der Menschheit, nicht in die Hände der Artificials fallen zu lassen.

Doch jeder wusste, dass auch dies nur vergebene Hoffnung war.

Die künstlichen Lebewesen hatten auf ihrem Rachefeldzug Planeten um Planeten, Mond um Mond und Habitat um Habitat aufgesucht und mit geradezu chirurgischer Präzision vernichtet. Sie kannten keine Gnade. Jede Kolonie der Menschheit wurde angegriffen und vernichtet. Jedes Fluchtschiff wurde gnadenlos abgeschossen und es wurden keine Gefangenen gemacht. Wer in einem System zu Hause war, das die Artificials als Angriffsziel auserkoren hatten, war unrettbar verloren. Und früher oder später würde jedes System an der Reihe sein, darüber herrschte im Rat der Planetenunion bereits wenige Monate nach Kriegsbeginn kein Zweifel mehr.

Die Menschheit war von der Ausrottung bedroht und man hatte sich in dieser verzweifelten Lage wieder einmal an jenen Mann gewandt, der die Artificials kannte wie kein anderer.

An den Mann, der sie einst erschaffen hatte.

Und dieser Mann weigerte sich nun, das Sol-System einfach aufzugeben.

»Wir werden das Sol-System nicht halten können, ob mit oder ohne Ihre Hilfe«, sagte der Rat für Verteidigung nicht zum ersten Mal. »Unsere letzte Hoffnung ruht nun auf dem Geheimprojekt Phönix

»Wir können die Erde nicht einfach widerstandslos preisgeben«, widersprach General Marty Joorthan ebenfalls nicht zum ersten Mal.

Seit man ihn vor fast einhundert Jahren auf Anweisung des Rates aus seiner letzten virtuellen Inkarnation geholt und zum Dienst in der Raumflotte zwangsverpflichtet hatte, war er Rang um Rang nach oben geklettert, obwohl auch er keinen großen Erfolg auf dem Schlachtfeld vorzuweisen gehabt hatte. Niemand hatte das! Doch alleine die große Zahl der Gefallenen ließ die Überlebenden schnell Karriere in der Raumflotte machen.

Selbst Alexya hatte sich zu seiner Überraschung bereit erklärt, in der Flotte Dienst zu tun. Obwohl sie seit ihrer Auseinandersetzung über das Upgrade für die Artificials kaum noch miteinander geredet hatten, war sie bereit gewesen, an seiner Seite zu kämpfen. Da es kaum noch Freiwillige gab und man mit dem Züchten von Klonen nicht mehr hinterherkam, war auch sie genommen worden und ebenso rasch die militärische Karriereleiter hinaufgestiegen. Im Moment befehligte sie als Colonel der Space Force einen Verband von schweren Kreuzern.

»Die Erde ist verloren«, gab der Rat kalt zurück. »So wie alle anderen Planeten vor ihr werden wir auch sie nicht halten können. Aber Projekt Phönix darf nicht scheitern. Sie sind einer der wenigen, die eingeweiht wurden. Tatsächlich haben Sie an der Konzeption sogar mitgearbeitet, ebenso wie Colonel Koppa. Der Krieg ist verloren und wir müssen uns auf die Zeit nach dem Krieg vorbereiten. Wenn die Menschheit eine Zukunft haben soll, dann nur mit Projekt Phönix.«

Der Rat für Verteidigung hatte natürlich recht. Doch Marty war nicht klar, wie die beinahe kampflose Preisgabe des Sol-Systems dazu beitragen sollte, Projekt Phönix zum Erfolg zu verhelfen.

»General Joorthan, hiermit ernenne ich Sie zum Fleetadmiral der Space Navy«, sagte der Rat zu Martys Überraschung. Die Space Force und die Space Navy waren zwei getrennte Waffengattungen der übergeordneten Terranischen Raumflotte. Es war selten, dass ein hochrangiger Offizier von einer Waffengattung zur anderen überwechselte, und es war noch nie vorgekommen, dass er dann dort sogar den höchsten Rang einnahm. Fleetadmiral war der höchste Rang, den die Space Navy zu vergeben hatte.

»Fleetadmiral Doxter ist gestern bei der Schlacht um Proxima Centauri gefallen«, teilte ihm der Rat mit. »Sie werden seine Position übernehmen, um das größte Täuschungsmanöver in der Menschheitsgeschichte durchzuführen. Colonel Alexya Koppa wird ebenfalls befördert, bleibt jedoch bei der Space Force. Sie erhält den Rang eines Generals und den Befehl über ein Geschwader schwerer Schlachtschiffe. General Koppa wird Ihnen unterstellt. Von allen Generälen, die unter Ihnen an dem Einsatz beteiligt sein werden, ist sie als einzige vollständig in Projekt Phönix eingeweiht.

Sie, Fleetadmiral Joorthan, werden die größte Flotte befehligen, die die Menschheit je zusammengestellt hat, und damit ins Krungthep-System fliegen. Wir haben Projekt Phönix nicht ohne Grund dort untergebracht. Die extremen thermischen Bedingungen auf dem in gebundener Rotation seine Sonne umkreisenden Planeten machen es so gut wie unmöglich, das Geothermie-Kraftwerk zu orten, das Projekt Phönix für viele Millionen Jahre am Leben halten soll. Zudem liegt Krungthep auf dem Vernichtungsfeldzug der Artificials aus logistischen Gründen mit Sicherheit an letzter Stelle in der Reihe der wichtigsten Planeten, was uns reichlich Zeit gab, Projekt Phönix dort zu etablieren.

Ihr Auftrag lautet, so zu tun, als würden Sie Krungthep mit allen Mitteln verteidigen wollen, dabei aber unbedingt dafür Sorge zu tragen, dass die Artificials keine Gelegenheit erhalten, sich den Planeten genauer anzusehen. Besser gesagt das, was sich unter seiner Oberfläche verbirgt. Ihre Verteidigungsanstrengungen dienen alleine der Ablenkung des Gegners. Solange er seine Augen auf Sie und Ihre Flotte gerichtet hält, solange Sie ihn beschäftigen, solange wird er hoffentlich den Planeten selbst nicht allzu genau unter die Lupe nehmen. Der Feind darf Projekt Phönix keinesfalls entdecken, wenn es für die Menschheit noch eine Zukunft geben soll. Haben Sie verstanden, Fleetadmiral Joorthan?«