Leseprobe: Gefangener der Zeit

TIMEHUNTER – Band 1

1.

»Ich habe aber Angst, Daddy!«

Debbies kleines, süßes Gesicht verzog sich zu einem Anblick, den alle Eltern nur zu gut kennen. Die Mundwinkel gingen nach unten, die kleine Stirn legte sich in sorgenvolle Falten und in den Augen schimmerten die ersten Tränen.

Ich sah meine Frau hilflos an.

Sie rollte mit den Augen. Der Blick, den sie mir zurückwarf, war eine Mischung aus Wieso schon wieder ich? und Ich dachte, das hätten wir geklärt!

Bridget kniete sich neben unserer dreijährigen Tochter nieder und strich ihr sanft über den Kopf. »Mein Schatz, Daddy hat dir doch erklärt, warum wir nun alle schlafen gehen müssen. Du brauchst keine Angst zu haben. Mister Monkey darf ja mit dir in die Schlafkapsel. Er passt auf dich auf!«

Debbie drückte den schon arg abgegriffenen Stoffaffen noch enger an ihre bebende Brust.

»Ich will aber mit Daddy in die Kapsel!« Der Tonfall verriet, dass nicht viel fehlte, und sie hätte mit dem Fuß aufgestampft. Wie es schien, wandelte sich die Emotion meiner Tochter rasend schnell von Angst zu Trotz.

Ich kniete mich ebenfalls nieder. Zum einen, um meinem kleinen Schatz besser Trost spenden zu können, zum anderen, weil ich wusste, dass meine Frau es mir sehr übel nehmen würde, wenn ich die elterliche Pflicht weiterhin ihr alleine überließ.

Ein schneller Blick über die Schulter zeigte mir, dass wir beileibe nicht die einzigen Eltern waren, die ihrem Sprössling in letzter Minute nochmals gut zureden mussten, in die enge Röhre zu steigen.

Wir standen vor den drei Stasiskapseln, die uns zugewiesen worden waren. Jeder von uns trug eine Art locker über den Körper fallendes, hellblaues Nachthemd, wie es sich für den jahrelangen Stasisschlaf als vorteilhaft erwiesen hatte. Angeblich hatte Psychologen die hellblaue Farbe wegen ihres beruhigenden Effekts vorgeschlagen, bei unserer Tochter verfehlte sie jedoch offensichtlich ihren Zweck. Debbie war von einem Nachthemd nicht zu beruhigen.

»Honey, wir hatten doch über alles geredet«, sagte ich so liebevoll wie nur möglich zu ihr, doch eine trotzige Dreijährige ist mit Worten alleine nicht zu überzeugen.

»Aber alleine habe ich Angst«, antwortete Debbie mit dem Totschlagargument aller Kleinkinder. Was soll man als Eltern entgegnen, wenn der geliebte Nachwuchs sich vor etwas fürchtet?

Ich versuchte es mit einem jahrhundertealten Trick.

»Wenn du und Mister Monkey brav in die Kapsel steigt, bekommt jeder von euch ein großes Bananeneis, sobald ihr wach werdet.«

»Auch Mister Monkey?«, fragte meine schlaue Tochter nach.

»Natürlich! Auch Mister Monkey!«

»Was passiert, wenn Mister Monkey seines nicht haben will?«

Meine Frau grinste mich an. Sie war sich augenscheinlich sicher, dass unsere Tochter ihre Cleverness von ihr geerbt hatte.

»Wenn Mister Monkey sein Eis nicht mag, dann darf er bestimmen, wer es bekommt«, sagte ich und wusste genau, wie sich Mister Monkey entscheiden würde.

Meine Tochter wusste es ebenfalls.

»Na schön, Mister Monkey ist damit einverstanden, dass wir in die Kapsel steigen«, teilte sie mir gönnerhaft mit. Bei der Aussicht auf zwei Portionen Bananeneis war ihre Angst völlig verflogen.

Ich nickte der jungen Ärztin zu, die schon seit mehreren Minuten geduldig wartend neben uns stand.

»Entschuldigen Sie – und vielen Dank für Ihre Geduld«, flüsterte ich ihr zu.

Sie lächelte mich an. »Keine Ursache. Wir sind Schwierigkeiten mit Kindern gewöhnt. Die meisten werden unsicher, wenn sie erst einmal vor den Stasiskapseln stehen. Die enge Röhre sieht für die kleinen Racker ja auch furchterregend aus. Entsprechende Verzögerungen sind von vornherein eingeplant.«

Während die Ärztin unserem kleinen Racker in die Kapsel half, wo sie Debbie an die vielfältigen Kabel und Schläuche anschloss, wurde mir wieder einmal klar, wie komplex die Organisation eines Kolonistenschiffes war und an was die Verantwortlichen dabei alles denken mussten. Selbst die Angst der Kinder vor dem Stasisschlaf war berücksichtigt worden. Ich war beeindruckt.

Fast zwanzigtausend Menschen innerhalb eines vorgegebenen Zeitrahmens reibungslos in einem gigantischen Raumschiff unterzubringen war eine logistische Herausforderung ersten Ranges. Da es an Bord weder Kabinen noch Nahrungsmittel, nicht einmal genügend Trinkwasser oder auch nur eine ausreichende Zahl von Bordtoiletten gab, um eine derart große Zahl von Menschen mehr als nur ein paar Stunden versorgen zu können, musste alles laufen wie am Schnürchen, und die im Minutentakt anlegenden Shuttles, mit denen die Kolonisten von den Weltraumbahnhöfen in Florida, Australien, Tansania und Baikonur ins All gebracht wurden, hatten exakt zehn Minuten Zeit, ihre menschliche Fracht auszuladen, bevor ihr Dockingport für das nächste Shuttle gebraucht wurde. Entsprechend mussten auch die Kolonisten so schnell wie möglich in den Stasiskapseln verschwinden, da es ansonsten zu einem gewaltigen Rückstau kommen würde.

Und unser Schiff war nur eins von fünfzig, die in drei Tagen nach Kepler-186f aufbrechen würden. Sinnigerweise waren die Schiffe der Kolonistenflotte als Kepler-1 bis Kepler-50 durchnummeriert. Wir befanden uns auf der Kepler-17 .

Es war der Beginn der dritten Auswanderungswelle während der letzten fünfzig Jahre. Die erste Million Siedler war im Jahr 2473 auf fünfzig Schiffen nach Proxima Centauri b aufgebrochen, nachdem astronomische Beobachtungen des neuen Mondobservatoriums im Jahr 2427 zweifelsfrei bewiesen hatten, dass dort lebensfreundliche Bedingungen herrschten. Proxima Centauri b – oder Terra Nova , wie der Planet zunächst von den Medien und später auch offiziell getauft worden war – besaß eine erdähnliche Atmosphäre. Fast ein Viertel der Oberfläche war von einem großen Binnenmehr bedeckt. Es war dort jedoch deutlich kälter als auf der Erde, besonders nachdem der Klimawandel hier die Durchschnittstemperatur bis heute im Jahr 2523 um fast acht Grand nach oben getrieben hatte. Terra Nova wies eine gebundene Rotation um die Sonne auf, die er in nur etwas mehr als elf Tagen einmal umkreiste, was für heftige Winde, aber auch für einen Temperaturausgleich zwischen der Tag- und der Nachtseite sorgte. Die ersten Siedlungen sollten im Bereich der Dämmerungszone errichtet werden, sobald die Schiffe den rund 4,2 Lichtjahre entfernten Planeten demnächst erreichen würden.

Es hatte über vierzig Jahre gedauert, die fünfzig Schiffe der ersten Kolonistenflotte im Orbit um die Erde zusammenzubauen. Für die zweite Flotte hatte man nur noch fünfundzwanzig Jahre Bauzeit benötigt.

Vor 23 Jahren war die nächste Welle von Kolonisten nach Trappist-1e aufgebrochen , der rund vierzig Lichtjahre von der Erde entfernt war. Der Planet war annähernd erdgroß, hatte jedoch eine geringere Masse und somit eine geringere Schwerkraft. Das Mondobservatorium zeigte, dass es sich um eine Wasserwelt handelte, die von Abertausenden großer und kleiner Inseln übersät war. Wieder wurden eine Million Glückliche ausgelost, die die völlig übervölkerte und überhitzte Erde verlassen durften. Als die Besiedelung feststand, wurde der Planet vom Kolonialamt sofort offiziell Trappist getauft, da man befürchtete, die Medien würden sich wieder einen zugkräftigen Namen einfallen lassen. Während der Flug über nur etwas mehr als vier Lichtjahre nach Terra Nova fast sechzig Jahre dauern sollte, würden die verbesserten Schiffe der zweiten Welle nur etwas mehr als einhundert Jahre für die 40 Lichtjahre nach Trappist benötigen.

Die fünfzig Schiffe unserer Flotte waren in weniger als zwanzig Jahren im Orbit um die Erde erbaut worden. Inzwischen war zudem die Antriebstechnologie der Kolonistenschiffe nochmals weiterentwickelt worden, sodass unser Flug nach Kepler-186f – oder Kepler , wie das Kolonialamt ihn in seiner Einfallslosigkeit getauft hatte, nur rund sechshundertundfünfzig Jahre in Anspruch nehmen würde. Eine beachtliche Geschwindigkeitssteigerung der modernen Schiffe, wenn man bedachte, dass Kepler 490 Lichtjahre von der Erde entfernt war. Kepler war der erdähnlichste unter den Exoplaneten, die das Mondobservatorium in den vergangenen Jahrzehnten untersucht hatte. Seine Durchschnittstemperatur betrug knapp über 0° Celsius, er war fast genau erdgroß mit ähnlicher Masse und seine Oberfläche bestand zur Hälfte aus Ozeanen. Spektroskopische Fernanalysen hatten ergeben, dass die Zusammensetzung seiner Atmosphäre fast genau derjenigen der Erde entsprach. Weitere Analysen wiesen auf ausgedehnten Pflanzenbewuchs hin und es war nicht auszuschließen, dass es sogar eine heimische Fauna gab. Wenn ein Planet den Namen Terra Nova verdient hatte, dann war es Kepler .

Debbie war inzwischen verkabelt und die Ärztin hatte die letzten Schläuche an die Ports in ihren Venen angeschlossen, die in den letzten Wochen gelegt worden waren. Mir stiegen fast die Tränen in die Augen, als ich das kleine, zerbrechliche Menschenwesen in der Stasiskapsel liegen sah.

»Schlaf gut, Prinzessin«, sagte ich und küsste Debbie auf die Stirn.

»Mach dir keine Sorgen, Daddy«, sagte meine Kleine und lächelte. »Mister Monkey wird schon auf mich aufpassen!«

Sie drückte den kleinen Stoffaffen, den sie mit sich herumschleppte, seit sie laufen konnte, fest an ihre Brust.

Ich zwinkerte ihr zu und versuchte, den Kloß in meinem Hals zu ignorieren. Bridget drückte heimlich meine Hand. Sie musste spüren, wie es in mir aussah, aber wahrscheinlich ging es ihr genauso. Auch sie küsste unsere Tochter noch einmal auf die Stirn, dann nickte sie der Ärztin zu.

Zunächst floss ein leichtes Beruhigungsmittel in Debbies Venen, dann ein Betäubungsmittel. Der Deckel der Stasiskapsel schloss sich. Ich wusste, dass als Nächstes Debbies Blut vollständig durch eine Kryoflüssigkeit ersetzt werden würde, die zelluläre Schäden beim Herunterkühlen verhindern sollte. Die Todesrate in der Kryostasis betrug weniger als ein zehntel Prozent pro Jahr, was mich angesichts der langen Reise jedoch nicht sonderlich beruhigte. Ich wusste aber auch, dass die Ärzte während ihrer Wachphasen alle 'Schläfer' sorgsam untersuchen würden.

Die Crew eines jeden Kolonistenschiffes war fünffach besetzt. Reihum wurden die Crews alle zehn Jahre vom Schiffscomputer geweckt und jede Crew tat für zwei Monate Dienst, bevor sie sich wieder schlafen legte. In dieser Zeit wurde das Schiff komplett durchgecheckt, der Kurs überprüft, die 'Schläfer' untersucht, eventuell notwendige Reparaturen durchgeführt oder Kurskorrekturen veranlasst. Jede Crew kam also dreizehn Mal an die Reihe und würde somit nur um etwas mehr als zwei irdische Jahre gealtert sein, wenn die Schiffe Kepler erreichen würden.

Außerdem wurden die Crews der in enger Formation fliegenden fünfzig Schiffe versetzt geweckt, sodass fast immer auf zumindest einem Schiff eine menschliche Besatzung wach war, die im Notfall die Crews der anderen Schiffe würde aufwecken können.

Wir hingegen würden durchschlafen. Wie alle der eine Million Auswanderer auf den fünfzig Schiffen der Kolonistenflotte.

Bridget war die Nächste. Wir küssten uns noch einmal, bevor sie in die Kapsel stieg.

»Wir sehen uns in sechshundertfünfzig Erdjahren«, sagte ich, nachdem die Ärztin meine Frau an die Systeme angeschlossen hatte.

»Sechshundertfünfzig Jahre! Mein Gott! Hoffentlich willst du eine so alte Ehefrau dann überhaupt noch haben«, scherzte Bridget und zwinkerte mir zu.

»Falsch gerechnet, mein Schatz!«, konterte ich. »Durch die Zeitdilatation werden hier auf dem Schiff nur etwas mehr als dreihundert Jahre vergehen. Du wirst also im Vergleich zur Erde immer noch eine junge Frau sein, wenn wir ankommen.«

»Aber trotzdem mehr als dreihundert Jahre alt!«, beharrte Bridget.

Ich sang eine Zeile eines uralten Beatles-Songs und änderte den Text von sixtyfour auf threehundertsixtyfour . Meine Frau verzog das Gesicht.

»Singen solltest du noch etwas üben, mein Schatz. Aber du hast ja ein paar Jahrhunderte Zeit dazu.« Dann lächelte sie. »Ich liebe Dich! Daran können lächerliche dreihundert oder auch sechshundertfünfzig Jahre nichts ändern.«

Ich musste schlucken und konnte nur nicken. »Ich liebe dich auch«, brachte ich schließlich krächzend hervor.

Der transparente Deckel senkte sich über Bridgets Stasiskapsel.

Nur Sekunden später schloss sie die Augen.

»Sind Sie bereit?«, fragte die Ärztin und sah mich an.

»Natürlich«, antwortete ich und stieg in meine Kapsel.

Der weiche Konturschaum war überraschend warm. Mit geübten Griffen schloss die Ärztin mich an das System an. Der Deckel hatte sich kaum über mir geschlossen, als meine Augenlider schwer wurden.

Hoffentlich bekomme ich keine Albträume , war mein letzter Gedanke.