Ihr habt euch dafür entschieden, ein KI-Produkt zu entwickeln? Glückwunsch! Ab jetzt wird nichts mehr so sein wie vor dieser Entscheidung. In diesem Kapitel findet ihr die wichtigsten Phasen der KI-Entwicklung, ein paar plastische Anwendungsbeispiele sowie die Grundlagen, wie KI in die Organisation eingebettet wird.
Die Erstellung einer KI läuft anders ab als »herkömmliche« Software-Entwicklung. Man verwendet zwar einerseits viele vergleichbare Methoden und Werkzeuge, andererseits unterscheidet sich der Prozess in zwei wesentlichen Punkten:
Wie bei einer konventionellen Softwarelösung fängt die KI-Entwicklung zwar bei der Problembeschreibung oder einer Idee an, beispielsweise einen Prozess zu optimieren oder zu automatisieren. Diesen Teil habt ihr in den ersten sechs Schritten der Checkliste im letzten Kapitel schon geklärt. Nun geht’s weiter mit dem 7. Schritt: Loslegen!
KI oder nicht KI – das ist hier die Frage! Handelt es sich bei eurer Idee wirklich um ein Problem oder eine Zielstellung, die zwangsläufig mit einer KI besser gelöst werden kann als mit herkömmlicher Digitalisierung oder Automatisierung? Um diese Entscheidung zu treffen, sollte der dazugehörige Geschäftsprozess minutiös analysiert werden – mit einem Fokus auf die Datenlage. Hierfür braucht’s also mindestens Expertise aus den Bereichen Prozess und KI.
Was häufig unterschätzt wird, ist die Einbindung weiterer Expertise aus der Organisation. In einem klassischen Unternehmen wäre dies das Produktteam entlang des gesamten Entwicklungsprozesses. Praktisch gesprochen sollten die Prozessexpertin und der KI-Experte gemeinsam viel Zeit darauf verwenden, mit den Beschäftigten bei den Kernprozessen der Firma zu sprechen – im Laden, in der Werkstatt, im Büro oder im Callcenter. Ihr könnt euch noch so lange zu zweit Gedanken über die schönsten Anwendungsfälle machen, doch ohne Einblicke der Angestellten am Ort des Geschehens (»shop floor«) wird das nichts. Erstens erhaltet ihr so einen viel besseren Einblick und O-Töne über die tatsächlichen Abläufe und Bedarfe, was essenziell wichtig für das spätere KI-Produkt ist. Zweitens erhöht dieser frühe Kontakt zwischen der Basis und der Innovation das Vertrauen in die KI auf allen Seiten. Und drittens werdet ihr so einen qualitativ hochwertigen Überblick erhalten, wo der höchste Veränderungsdruck herrscht.
Darüber hinaus ist es bei vielen KI-Anwendungen ratsam, den Betriebsrat oder mindestens die Personalstelle einzubeziehen. Je nach Umfang der Lösung stellen sich zudem ethische Fragen, die rechtzeitig im Prozess und in die Datenplanung einbezogen werden sollten: Hat die KI das Potenzial, Menschen zu diskriminieren oder zu gefährden? Hierzu gibt es inzwischen sehr viel spezialisierte Literatur, deshalb gehen wir an dieser Stelle nicht tiefer drauf ein.
Dann kommt die Gretchenfrage für die beiden Welten: Sind wir, also sowohl Management als auch Angestellte und Arbeiterschaft, bereit, Prozessschritte zu automatisieren und Entscheidungskraft an eine KI abzutreten? Als wäre das noch nicht genug, folgt eine der schwersten Aufgaben: die Frage nach den Daten. Genauer:
Je nach Anwendungsfall und Organisationsgröße kann sich die Beantwortung dieser Fragen sehr lange hinziehen und endlose Diskussionen auslösen. Es gibt nämlich keine Schablone für die richtige Menge und Qualität von Daten! Zu bedenken ist hier vieles, von rechtlichen Fragestellungen über die Anzahl der benötigten Daten bis zur Erkenntnis: »Au weia, die benötigten Daten haben wir ja gar nicht …«
Wenn ihr zu letzterer Erkenntnis kommt, lasst euch jedoch auf keinen Fall davon abschrecken! Ihr habt folgende Wahl:
Somit kann es sein, dass nach dem Entschluss, eine KI-Lösung zu entwickeln, noch einige Jahre oder Saisons ins Land gehen, bis die Datenbasis für KI ausreicht.
Sobald die Datenfrage geklärt ist und feststeht, dass KI benötigt wird, geht es in die nächste Phase: Ihr findet heraus, ob eure Idee überhaupt umsetzbar ist. Dazu entwickelt ihr einen Prototyp.
Anders als bei einer vollständigen Produktentwicklung ist hier die Mission, ihn mit möglichst geringem Aufwand (Zeit, Personal, Geld) zu erstellen. Typischerweise sollte der zeitliche Aufwand zwischen 20 und 50 Personentagen liegen. Um dies zu erreichen, solltet ihr auf sämtliche Standards und Vorgaben für die Programmierung, Software- und Hardware-Architektur und aufwendige Dokumentationspflichten verzichten. Ihr arbeitet sozusagen im »Labor«.
Im besten Fall erhaltet ihr so nach vier bis acht Wochen bereits ein Ergebnis, mit dem ihr euch einen ersten Eindruck des Produkts verschaffen könnt. Im Extremfall werden solche Aufgaben sogar an wenigen Tagen in sogenannten Hackathons erarbeitet – die größte Hürde hierbei ist die anhaltende Motivation der Beteiligten über einen extremen Sprint sowie ein agiles Projektmanagement vor Ort.
Diese Phase ist absolut erfolgskritisch und gleichzeitig das Element, das in vielen Unternehmen und anderen Organisationen eine grundlegende Herausforderung darstellt. Warum das so ist, erklären wir im späteren Unterkapitel »KI-Einbettung in die Organisation«.
Nach der Auswertung des Prototyps und der Entscheidung, weiterzugehen, kommen wir zur Pilotphase. Hier sollten alle Erfahrungen aus der zweiten Phase einfließen, für gewöhnlich wird aber alles komplett neu programmiert, da nun auch gewisse Standards wie Coding Guidelines und andere Software- und Hardware-Anforderungen berücksichtigt werden müssen – im besten Fall sind wir schließlich gerade dabei, ein Produkt zu entwickeln, das in der bestehenden Infrastruktur funktionieren muss. Man spricht hier auch vom MVP, dem Minimum Viable Product.
MVP (Minimum Viable Product)
Deutsch: Minimal brauchbares Produkt. Ein MVP ist eine noch nicht serienreife Demonstration eines geplanten Produkts oder Dienstleistung, für die nur sehr überschaubare Ressourcen verwendet wurden und bei der Verbesserungen im weiteren Prozess fest eingeplant sind.
Es liegt in der Natur der Sache, dass der Aufwand nun viel höher ist als beim Prototyp. Schließlich operiert ihr nun nicht mehr in der Sandbox, dem gesicherten Raum, sondern am echten Geschäftsprozess. Spätestens an dieser Stelle werden also auch die Perspektiven anderer Teile der Organisation benötigt. Für die Daten aus dem aktuellen Prozess braucht ihr eine Schnittstelle zur IT und möglicherweise zu anderen Niederlassungen, vielleicht sogar zu Lieferanten. Für die Bedarfsermittlung benötigt ihr Unterstützung des Marketings (Marktforschung), des Shop Floors (s. o.) oder des Personalwesens (HR).
Ihr habt also das »Labor« verlassen und beeinflusst bereits jetzt mit jeder Kommunikation die reale Welt. Es wird nun recht schnell auch darum gehen, das KI-Produkt nicht nur auszuprobieren, sondern Daten darüber zu erheben, wie es funktioniert, wie die Anwenderseite darauf reagiert und ob es sich lohnt, die nächste Phase einzuläuten. Davor kommt aber noch die gravierende Management-Überlegung: Was kostet uns die Implementierung und – was oft vergessen wird – der Betrieb der KI? Wann amortisieren sich die Investitionen?
Die Pilotphase ist deutlich langwieriger als die Prototypphase, sollte aber nicht länger als sechs bis neun Monate dauern. Der tatsächliche Aufwand der Implementierung ist allerdings stark abhängig davon, wie reibungslos die vorhandenen Prozesse ineinandergreifen und wie eingespielt das Produktteam ist.
Ist die Entscheidung gefallen, den Piloten weiterzuentwickeln, sind wir in der Produktphase angekommen – die heißeste aller Phasen. Denn hier laufen nun alle Stränge der Organisation zusammen: Was muss berücksichtigt werden, damit das Produkt im Betrieb robust, wartbar und automatisiert läuft? Komplette Automatisierung gibt es nicht umsonst, unvollständige Automatisierung wiederum kann hohe Opportunitätskosten verursachen oder menschliche Arbeitskraft verschwenden, die in Zeiten des Fachkräftemangels woanders besser genutzt werden könnte. Versteift euch hier also nicht zu sehr auf quantitative Kennzahlen, sondern behaltet die qualitativen Trendentwicklungen auf dem Radar.
Erfahrungsgemäß kann ein hoher Automatisierungsgrad die Wartbarkeit und den Betrieb deutlich vereinfachen und Ausfallzeiten minimieren. Falls zum jetzigen Zeitpunkt das Budget oder die Finanzierung für eine vollständige Automatisierung fehlt, sollte mit dem Entwicklungsteam ein Fahrplan erarbeitet werden, welche Module in den kommenden Jahren nachträglich ergänzt werden können.
Zusätzlich ist es in dieser Phase entscheidend, die wichtigsten Teile der Organisation auf das Produkt vorzubereiten. Gar keine leichte Aufgabe, denn dazu muss vorher geklärt werden, welche Auswirkungen die Einführung des KI-Produkts auf die Infrastruktur, das Personal, die Kundenbeziehungen etc. haben wird. Handelt es sich außerdem um ein Produkt, das ausschließlich zur Optimierung der internen Abläufe eingesetzt wird, oder werden auch Wechselwirkungen mit äußeren Beziehungen davon erwartet? Hier müsst ihr also sicherstellen, dass alle möglichen Fallstricke berücksichtigt wurden, außerdem kann es sinnvoll sein, schon vorab Fokusgruppen auszuwählen, die in den nächsten Wochen und Monaten zum Produkt befragt werden, um dieses weiterzuentwickeln.
Wenn ihr tatsächlich die vierte Phase geschafft habt – viele KI-Entwicklungsprozesse scheitern spätestens hier –, Glückwunsch!
Nun kommt der Go-Live, also die Inbetriebnahme des KI-Produkts, was in etwa so abläuft wie bei anderen Softwareprodukten. Möglicherweise müsst ihr allerdings die Beteiligten intensiver mitnehmen und besser erklären, warum es zur Entscheidung kam, bestimmte Prozessschritte zu automatisieren. Das heißt: Auch die Fortbildungseinheiten in der Personalentwicklung müssen anders als bei Standard-Schulungen noch sensibler auf mögliche Ängste beim Umgang mit der KI eingehen. Diese Ängste vor Arbeitsplatzverlust oder vor dem Geist in der Flasche sind real, jedoch in der Regel unbegründet – das solltet ihr so transparent wie möglich kommunizieren!
Nach Inbetriebnahme der KI ist es möglich, dass die Qualität oder Güte der KI mit der Zeit abnimmt. Das liegt unter anderem daran, dass die KI im Nachhinein noch an die neuen Datenflüsse oder -kategorien angepasst werden muss; ihr Training ist nicht abgeschlossen. Im besten Falle einer kompletten Automatisierung des KI-Produkts kann das anders sein, doch je stärker dieser Automatisierungsgrad reduziert wurde, umso mehr müssen nach Inbetriebnahme im laufenden Prozess KI-Profis kontinuierlich den Code aktualisieren.
Ein weiterer, schwieriger Aspekt ist die sogenannte technische Schuld eines KI-Produkts. Aktuell erscheinen im Wochentakt neue Algorithmen, Methoden oder Netze, wodurch der Pflegeaufwand des KI-Produkts entsprechend hoch ist und proportional steigt. Das kennen wir aus dem Straßenbau; hier wartet man ja auch nicht, bis der Asphalt komplett verschwunden ist, sondern die Schlaglöcher werden permanent geflickt, bis schließlich ganze Fahrbahnen monatelang gesperrt sind, um sie zu ersetzen. Noch besser wäre es, von vornherein auf besseres Material und kleinteiligere Instandhaltung zu achten.
Das heißt: Nach dem Go-Live ist vor dem Go-Live. Mithilfe der zeitgemäßen, iterativen Projektmanagementmethoden lässt sich aber vermeiden, dass ihr eines Tages die ganze KI-Fahrbahn entsorgen und neu bauen müsst.
Um diese Phasen etwas anschaulicher zu gestalten, folgen nun drei gängige KI-Beispiele, die bereits mehrfach umgesetzt wurden.
Das Jahr 2023 wird wohl als das »Jahr der generativen KI« in die Geschichtsbücher eingehen. Noch nie sind in unserem beruflichen Umfeld in so kurzer Zeit so viele KI-Ideen auf uns zugekommen. Die häufigste ist folgende:
Beispiel
Ein Verkaufsmitarbeiter hat die Idee, seine Kundenansprache und die Kommunikation mit seinen Kund:innen zu optimieren und vor allem zu automatisieren. Anstatt einfach ChatGPT dafür zu benutzen, setzt er sich mit einem GenAI-Entwickler zusammen und evaluiert seine Ideen.
Die Idee ist es, Produkttexte je nach Kund:in individuell und vollautomatisch anzupassen. Der Entwickler sieht schnell, dass die Idee umsetzbar ist, aber einige Risiken zu beachten sind, schließlich wird dazu auf hochsensible Engineering-Daten zugegriffen. Als erste Grundsatzentscheidung schlägt der Entwickler daher vor, die Daten im europäischen Raum zu hosten. Anschließend steht er vor der Wahl, Open-Source- oder proprietäre Modelle zu verwenden. Um eine möglichst hohe Qualität des Modells zu erreichen, macht er sich an die Arbeit, anhand der Gesprächsdokumentation mit dem Verkaufsmitarbeiter sowie den CRM-Daten das Sprachmodell zu optimieren (Feintuning).
Nach Rücksprache des Konzepts ist der Verkaufsmitarbeiter vom Plan begeistert und kann schnell auch seine Führungskräfte davon überzeugen. Schon drei Wochen später steht der Prototyp, der die Erwartungen mehr als erfüllt. Nun geht es an die Evaluation und die Einschätzung der Kosten für die Produktentwicklung, woraufhin der GenAI-Entwickler die Umsetzung startet. Gut zwei Monate später ist das Minimum Viable Product (MVP) fertig und wird an alle Verkaufsmitarbeitenden verteilt – diese sind zu großen Teilen begeistert und freuen sich vor allem, dass sie durch das KI-Tool Zeit gewinnen, um dem direkten persönlichen Kontakt mit ihren Kund:innen wieder in die volle Aufmerksamkeit widmen zu können.
Ähnlich wie generative KI erlebt Computer Vision seit einigen Jahren einen anhaltenden Boom. Anwendungsfälle gibt es in allen Industriebereichen, insbesondere in den Bereichen Gesundheit, Produktion, vernetzte Mobilität, Einzelhandel und Smartphones.
Beispiel
Eine Mitarbeiterin in einem Fertigungswerk kommt auf die Idee, in der diskreten Produktion an einem Punkt der Prozesskette die Qualitätskontrolle an eine KI zu übergeben. Schließlich gibt es immer weniger Kolleg:innen, die diesen Job machen und sich stundenlang darauf konzentrieren können, kleinste Abweichungen in den immer gleichen Teilen zu finden. Mit der Idee geht sie also zum Prozessingenieur, der gleich die KI-Entwicklerin dazu ruft. Die drei erhalten von der Werksleitung die Freigabe und dürfen sich näher damit befassen mit dem Ziel, einen Prototyp zu entwickeln.
Als Erstes besorgen sie sich eine notwendige Kamera, die sie probeweise an den Fertigungslinien anbringen. Sie informieren außerdem den Betriebsrat, da dieser natürlich zustimmen muss, wenn Videoaufnahmen in mehreren Schichten gemacht werden. Anschließend macht sich die KI-Entwicklerin ans Werk, die technischen Voraussetzungen zu ermitteln, die für den Prototyp notwendig sind. Zum Glück findet sie direkt Vorlagen im Internet, wo andere KI-Experten ihr Wissen über Qualitätskontrolle geteilt haben.
In der Zwischenzeit diskutiert unser kleines Innovationsteam mit Kollegen im Werk, ob nicht auch herkömmliche visuelle Methoden ausreichen würden, um Qualität zu überprüfen. Das ist zwar grundsätzlich möglich, stellen sie fest, jedoch nicht übertragbar auf andere Produktteile, und im Fall ihres Arbeitgebers kommen alle paar Monate neue Varianten auf den Markt. Damit bleiben sie bei ihrem ursprünglichen Plan, KI dafür zu verwenden. Denn diese können sie so trainieren, dass sie auch auf neue Spezifikationen flexibel reagieren kann.
Die technische Machbarkeit ist also inzwischen geklärt, nun kommt die wichtige Frage: Was kostet die Lösung? Diese Frage ermitteln sie in der Pilotphase, denn hierfür müssen sie schließlich auch berechnen, was ein Roll-out über mehrere Werke sowie der Betrieb kosten wird, aber auch, welche Personalkosten eingespart werden können. Dazu berechnen sie ein durchschnittliches Szenario, in dem die KI Abweichungen nur minimal zuverlässiger erkennt als die menschlichen Kolleg:innen. Die Pilotphase zeigt, dass die KI sogar noch besser und akkurater nicht nur Fehler entdeckt, sondern auch analysiert, um welche Arten von Problemen es sich handelt und diese an die Produktentwicklung und Entwicklungsabteilung weiterleitet.
Diese sehr erfolgreiche Umsetzung des Piloten bewirkt, dass die Geschäftsführung die Mittel für die Lösungsentwicklung für das gesamte Unternehmen freigibt.
Jetzt wird’s also ernst. Unser Innovationsteam entwickelt über mehrere Monate hinweg Lösungen für alle Werke, besorgt die nötige Hardware, überträgt die KI auf die unterschiedlichen Gegebenheiten und testet, testet, testet. Schließlich wird die Lösung an allen Standorten eingeführt und die gesamte Firma profitiert fortan von KI-optimierter Qualitätskontrolle.
Besonders im Einzelhandel ist Forecasting ein sehr spannendes Thema, denn die Einkäufer müssen bestmöglich mit dem Kapital, den Lagerkapazitäten und schwankenden Nachfragesituationen umgehen.
Beispiel
Stellen wir uns ein modisches Bekleidungsgeschäft mitten in der Fußgängerzone einer mittelgroßen Stadt vor. Für die Absatzvorhersage nutzt die Inhaberin bereits KI, die dem Einkäufer zeigt, welche Mengen er einkaufen soll. Andere Nutzer dieser KI-Lösung wenden sich nun mit Verbesserungsvorschlägen an die Entwicklerfirma, welche kurzerhand beschließt, alle Interessierten zu einem Workshop einzuladen und die Vorschläge zu prüfen. Im Workshop beschließt die Gruppe gemeinsam, die gewünschten Verbesserungen probeweise zu implementieren und nachher zu vergleichen, welches Modell besser funktioniert hat. Anstatt sämtliche historische Daten für das Modell zu verwenden, nimmt man ab nun nur die Verkaufsdaten der Jahre 2021 und 2022 – und siehe da: Das Gespür der Einkäufer erweist sich als richtig, und durch die Corona-Pandemie hat sich tatsächlich das Einkaufsverhalten der Kundschaft geändert. Das neue Modell liefert viel bessere Absatzprognosen und wird fortan ins Produktivsystem implementiert.
Das zeigt: KI ersetzt keine menschliche Intuition, sie skaliert sie.
Wie wir nun mehrfach angedeutet haben, ist KI nichts, das eine Organisation einfach einkauft und womit anschließend unmittelbare Veränderungen oder Produktivitätssteigerungen eintreten. KI geht mit einem neuen Paradigma der Organisation und Aufbaustruktur einher. Warum?
Wie wir im ersten Kapitel schon gezeigt haben, entwickelt sich KI bzw. Digitaltechnologie auf einer exponentiellen Skala. Die aktuelle Zunahme an KI-Innovationen ist nicht nur gefühlt rasant schnell und medienwirksam – sie ist es wirklich. Das liegt daran, dass die Kurve ab jetzt steil bergauf geht, nachdem sie über Jahrzehnte flach war. So wie bei den Blumenläden.
Die meisten Wirtschafts- und Verwaltungsorganisationen sind allerdings in einer Zeit und in Märkten entstanden, die maßgeblich von linearen Innovationslogiken geprägt waren und teilweise heute noch sind. Entsprechend sind sämtliche Bestandteile ihrer Organisationsweise auf »langsame« äußere Veränderung mit seltenen Schocks sowie die Erhaltung und permanente Wiederherstellung des eigenen Geschäftskerns optimiert. Anders ausgedrückt: In den meisten Organisationen dauert es mehrere Monate oder eher Jahre, bis eine Innovation von der Idee bis zum marktreifen Produkt oder einem optimierten, allseits validierten Geschäftsprozess gelangt.
Lasst uns wieder den Strom-KI-Vergleich bemühen: Vor 120 Jahren kamen alle Unternehmen gut ohne Stromanschluss aus, doch die ersten Pioniere in den infrastrukturell privilegierten Gegenden konnten anfangen, das Potenzial der Elektrizität in ihren Fabriken einzuführen und beispielsweise Öl- und Gaslampen durch Glühbirnen auszutauschen. Der Produktivitätsgewinn stellte sich natürlich nicht sofort ein, es dauerte Jahre oder Jahrzehnte, bis ausreichend Strom und Netze verfügbar waren, um die zweite Welle der Industrialisierung anzufeuern, Fließbänder anzutreiben und komplett neue Anwendungsfälle für Energie zu finden (und auf der anderen Seite Wege zu finden, mehrere Megawatt Elektrizität überhaupt zu erzeugen).
Heute arbeiten noch die wenigsten Organisationen wirklich mit KI. Wer jetzt denkt: »Ach, gut, dann warten wir ein paar Jahre ab«, irrt. Viele KI-Lösungen liegen nämlich dieses Mal schon bereit, viele Grundlagen sind im Internet frei verfügbar, Entwickler:innen tauschen sich auf Plattformen wie Substack oder Reddit über die besten Lösungsansätze für die Probleme ihrer Arbeitgeber aus und die weltweite Forschungsgemeinschaft (öffentlich und privatwirtschaftlich) entwickelt permanent neue Algorithmen – und veröffentlicht diese auch! Das bedeutet: Jeder Mensch mit KI-Basiswissen und Internetanschluss kann darauf zugreifen! Was beim elektrischen Strom noch eher ein lebensgefährliches Expertenthema war, ist heute teilweise frei verfügbar.
Zurück zum Kern dieses Unterkapitels: Was ist denn nun die Grundlage für die Einbettung von KI in die Organisation? Das lässt sich am besten mit einem Zitat zusammenfassen:
»Fail fast, fail often!«
ASTRO TELLER, X16
»Scheitert schnell, scheitert oft«, sagt jemand, der bei einem der wertvollsten Unternehmen der Welt mit riesigen Innovationsbudgets beispielsweise an autonomen Fahrzeugen, smarten Kontaktlinsen oder Humangenetik forschen lässt. Das klingt auf den ersten Blick für ein deutsches KMU oder eine Kommune vielleicht arrogant, doch der Kerngedanke funktioniert grundsätzlich auch in kleineren oder weniger finanzstarken Einheiten.
Mit anderen Worten: Entscheidungsträger in Unternehmen oder Verwaltungseinheiten müssen sich wieder mehr trauen, Fehler zu begehen. Diese Fehlerkultur ist hierzulande leider nicht mehr besonders stark ausgeprägt – stattdessen möchte man alles perfekt machen, scheut den Konflikt, lässt sich eher auf Unterordnung der Hierarchie ein und hofft implizit darauf, dass »jemand« sich schon darum kümmern wird. Wenn ein Prozess nicht besonders gut funktioniert, ist es eine weit verbreitete, aber dauerhaft gefährliche Standard-Vorgehensweise geworden, trotzdem den schlechten Prozess durchzuziehen, anstatt Verbesserungen anzuschieben. Schließlich dauert es ewig, bis diese dann möglicherweise umgesetzt werden. Das hat auch etwas mit der Biologie zu tun, denn unser Gehirn ist auf kurzfristige Belohnungssysteme optimiert, und das haben die insgesamt recht stabilen Personalmanagement-Abteilungen in den letzten Jahren perfektioniert: Wer spurt und sich unauffällig verhält, hat gute Chancen, ein angenehmes Berufsleben zu führen. Bloß nicht negativ auffallen, dann klappt’s auch mit dem Weihnachtsgeld!
Das führt uns in eine katastrophale Ausgangssituation hinsichtlich des globalen Wettbewerbs. Uns geht’s zu gut, um wirklich innovativ zu sein. Unsere Organisationen sind darauf spezialisiert, möglichst wenig Veränderungen von innen zu riskieren.
EXKURS
Der Knackpunkt: Unsere träge Unternehmenskultur
Kaum etwas ist stabiler oder im physikalischen Sinne träger als Kultur. Und das ist in der Regel ja auch gut so, nur innerhalb von Organisationen könnte diese Stabilität verhängnisvolle Auswirkungen entfalten. Wo früher Stabilität, Gründlichkeit, Beharrlichkeit und Konformität mit allen Ebenen der zentralen Stakeholder zum Erfolg geführt haben, ist es im Zusammenhang mit KI zu großen Teilen das genaue Gegenteil. Man könnte auch sagen, dass in der KI-Wirtschaftswelt der Zukunft nicht mehr das Unternehmen mit den klügsten Köpfen am erfolgreichsten ist, sondern jenes mit den wandlungsfähigsten. Dies wiederum widerstrebt dem klassischen Bild von Forschung & Entwicklung, das auf Perfektion und Null-Fehler-Toleranz ausgerichtet war. Entsprechend ist dies auch noch die dominierende Kultur in den Köpfen der Entscheidungsträger, die in der »alten« Welt erfolgreich waren. Und selbst in den Fällen, in denen das Top-Management neue Strategien und die allseits beliebten Change-Prozesse zu mehr Agilität anstiftet, stellen viele Organisationen immer wieder fest: So einfach ist das nicht. Denn …
»Culture eats strategy for breakfast.«
PETER DRUCKER, US-ÖSTERREICHISCHER ÖKONOM
(1909 – 2005)
»Kultur verschlingt Strategie zum Frühstück«, sagte einer der einflussreichsten Wirtschaftswissenschaftler unserer Zeit, Peter Drucker. Besonders die deutsche Wirtschaft ist zwar einerseits weltberühmt für hohe Qualität »made in Germany«, andererseits aber auch für die »German Angst«, die immer wieder Innovationen verhindert hat – Wirtschaft und Politik haben zu spät den Anschluss an das Internet, erneuerbare Energien oder gar den demografischen Wandel forciert. Noch 2013 sprach Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel vom Internet als »Neuland«, was zu einer Zeit, in der die wertvollsten Unternehmen der Welt bereits durch ihre Datenstrategien hervorstachen, geradezu lächerlich war. Schließlich war das World Wide Web, also der öffentlich zugängliche Teil des Internets, zu dem Zeitpunkt bereits seit 24 Jahren verfügbar – nur hatte Deutschland offensichtlich buchstäblich den Anschluss verloren. Noch heute ist die Netzabdeckung mit Hochgeschwindigkeitsinternet einer Top-5-Wirtschaftsnation unwürdig.
Wir wünschen uns sehr, dass dieses Hinterherhinken im Falle von KI nicht geschieht, denn die langfristigen Folgen, sollten »wir« den Anschluss verlieren, könnten ohne Übertreibung verheerend sein. Umso mehr Verantwortung liegt bei den Unternehmen und Verwaltungseinrichtungen, den Wandel selbst voranzutreiben, wo immer möglich.
Also zurück zur Einbettung.
Wenn nun ein kritischer Geschäftsprozess in eurer Organisation KI-Fähigkeiten bzw. das eigentliche Produkt KI-Funktionalitäten bekommen soll, muss zunächst ein KI-Team her, das kollaborativ und interdisziplinär aufgestellt und in die Aufbaustruktur integriert wird. Erfahrungsgemäß bietet eine produktorientierte Struktur dieser Einheiten den größten Mehrwert. Hier werden alle für das KI-Produkt notwendigen Fähigkeiten sowie die volle (!) Verantwortung dafür gebündelt, also von Phase 1, der Entscheidung, eine Idee mit KI umzusetzen, bis zur fünften Phase, dem Go-Live.
Typische Rollen im KI-Team: Produktmanager, Machine Learning-Engineer, DevOps Engineer, Software-Engineer und Know-how aus den Fachabteilungen sowie den Geschäftsprozessen. Je nach Produkt können die Ausprägungen oder weitere Rollen variieren – doch dieser Kern ist zentral und gemeinsam verantwortlich.
Spätestens mit der Schaffung dieses KI-Teams und den ersten »fail fast, fail often«-Durchläufen unserer fünf Phasen wird jede klassisch strukturierte Organisation erkennen: Das Organigramm wird nie mehr so sein, wie es mal war. Das trifft die größten Organisationen wie multinationale Unternehmen bzw. Großkonzerne sowie Ministerien und Bundesagenturen besonders hart – wie man seit einigen Jahren merkt. Diese »agile Transformation« gleicht einem sehr langen Erdbeben, nach welchem nichts mehr am Ort sein wird, wo es vorher war.
Doch das ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden.
Dies ist eine Zusammenfassung des Kapitels, die ihr gern fotografieren und mit anderen teilen oder sie ausgedruckt ins Büro hängen könnt.
Die 10 Kernaussagen des Kapitels