Sein Vater sah aus dem Fenster, als hätte er nicht bemerkt, dass er da war. Oder er hatte es bemerkt, aber schon wieder vergessen. Beschissen war nicht nur der ganze Dreck mit dem Alten generell, sondern dass Fallner nicht wusste, ob sein Vater ihn ignorierte, wie es Tradition war, oder seine Anwesenheit tatsächlich schon nach wenigen Minuten wieder vergessen hatte und daran erinnert werden musste. Oder sowieso überhaupt nicht wusste, wer dieser Mann neben ihm war. Wie sind Sie hier reingekommen, ich kaufe keinen Christbaum! Gut möglich, dass er den Sohn schon lange komplett vergessen hatte. Was wiederum nichts Neues wäre.
Sein alter Vater hatte tausend Gründe, möglichst viel aus seinem Leben zu vergessen, denn er war ein ordentliches Arschloch gewesen. Und wäre es immer noch, wenn ihn sein Kopf und sein Alter jetzt nicht so gut wie umgelegt hätten.
Es hatte Zeiten gegeben, da hatte er viel mit seinem Vater geredet – in den besten Zeiten aber hatten sie kein Wort miteinander gewechselt.
Fallner und sein Bruder lebten hundert Kilometer weiter, und sein Bruder hatte ihn letzte Woche angerufen, mit einem Plan, den er doch wohl nicht ablehnen könnte. Er solle beim Alten schon drei Tage vorher einlaufen, einen netten Christbaum kaufen und alles schön machen. Er würde dann am ersten Feiertag mit seiner Familie dazustoßen und das große Festessen übernehmen. Wäre doch wahrscheinlich das letzte Mal. Könnte er sich doch mal zusammenreißen.
Er saß still neben dem Vater und schaute abwechselnd zum Fenster raus und ihn an. Wohin er auch schaute, nirgendwo ein gutes Bild. Und dafür hatte er sich vier Tage frei genommen, begleitet vom Knurren der Kollegen. Normalerweise wurde nicht geknurrt, wenn sich jemand frei nahm, um seinen defekten Vater zu besuchen. Seine Freundin Jaqueline hatte kommentiert, er könnte sich ja vielleicht auch mal für sie vier Tage einfach so frei nehmen, natürlich nur, wenn er eine Million im Lotto gewonnen hätte, und er hatte gefragt, was sie mit diesem bescheuerten „einfach so“ meinte. War er vielleicht der Typ, der seinen Vater, den er nicht über alles, sondern weniger als fast alles andere liebte, einfach so schnell mal besuchte? Konnte sie sich erinnern, dass er das jemals gemacht hatte?
Er reagierte sofort angepisst, als sie „einfach so“ sagte, obwohl er ihr ansah, dass sie auch Verständnis hatte. Er reagierte trotzdem sofort angepisst, auch weil er dachte, es würde ihm helfen, zuerst ein wenig zu streiten und dann loszufahren, um sich zusammenzureißen.
Sein blöder Bruder machte sowas cleverer als er. Einmal im Monat packte er seine Frau und die zwei Kinder in seinen Spitzenmercedes und überfiel den alten Drecksack nach einer knappen Stunde Fahrt wie ein Tornado. Dann tobte die Familie eine Stunde um den lieben Opa herum und damit war der Besuch schon wieder vorbei. Kein Ding, Mann. Und schlau, weil diese Überfälle heftig waren und in festem Rhythmus passierten und deshalb ins Hirn des Vaters einzudringen schienen. Er jedoch hatte ihn seit sechs Monaten nicht besucht. Ein Ärger mehr, dass sein Bruder mal wieder den richtigen Dreh raushatte.
Wie fühlst du dich?
Was?
Wie du dich fühlst? Wie geht‘s? Geht‘s dir gut oder so, wie du‘s verdient hast?
Manchmal.
Manchmal ist doch nicht schlecht.
Was?
Genau, was ist eigentlich los – ich habe mir überlegt, dass ich vielleicht bei der Polizei aufhören sollte, das ist los.
Schon.
Ja, ich weiß, du hast das schon immer gesagt. Du hast das schon gesagt, als ich noch nicht mal dran dachte, in den Scheißverein reinzugehen. Aber ich mach eben alles wie mein älterer Bruder, er geht zur Polizei, dann ich auch, dann seilt er sich ab, und ich ziemlich sicher auch bald.
Mutter.
Was hat das denn mit Mutter zu tun?
Was tun? Gute Frage, jedenfalls, Mutter wusste nicht, dass ihre beiden Söhne bei den Bullen landen würden. Falls du dich nicht erinnerst, dann glaub‘s mir einfach. Sie hat in ihrem Leben nur eins gewusst, dass sie ein Arschloch geheiratet hat. Da kannst du jetzt rumdementieren wie du willst.
Ihre Jugendzimmer waren im Dachgeschoss neben dem Speicher und niemand hatte je viel verändert. Jedes Mal hatte er wieder vergessen, wie schrottig alles war und fragte sich, ob es besser gewesen war, als ihre Mutter noch lebte. Er konnte sich nicht erinnern. Nicht genau. Und hatte man sich früher besser gefühlt, als man kein Telefon in der Tasche hatte?
Wie geht‘s dir?
Sehr gut.
Und deinem Vater?
Bestens.
Hast du immer noch schlechte Laune?
Keine Spur.
Wirst du deine kleine Nachbarsfreundin besuchen, die immer so nett zu dir war?
Nein.
Glaub ich nicht.
Ich schwör‘s beim Grab meiner Mutter.
Wirst du die alten Platten hören?
Kann sein.
Hast du Whisky gekauft?
Ja.
Mit sky oder key?
Key.
Welchen?
Jim Beam Devil’s Cut.
Der bringt‘s doch nicht, Beam! Und Devil‘s Dings hab ich ja noch nie gehört.
Ist auch neu.
Und mal wieder die alten Heftchen, ja?
Kann sein.
Versprich mir, dass du dir keinen runterholst.
Gut.
Du hast es versprochen.
Gut.
Und du machst auch nichts mehr mit deiner dummen Nachbarstussi, die immer noch so nett zu dir ist.
Gut.
Nichts ist gut.
Alles gut.
Arschloch.
Sie legte auf, ehe er so weitermachen konnte. Er stellte sein Telefon aus. Früher wäre er nicht nach unten gegangen, wenn das Telefon geklingelt hätte. Früher war alles besser, kein Telefon, kein Fernseher, kein Auto. Erst als er in die Schule gekommen war, kam das Zeug, 1975 das Auto, ein blauer Simca 1000. In seiner Erinnerung fuhren sie ihn ewig und an den Nachfolger konnte er sich nicht erinnern … Er saß im Simca hinten und las in seinem Landserheft: KK schoss mit der MPi in die zurückgehenden Russen. Nun saßen sie in der Zange. Der zweite Panzer wurde von einer Pak erledigt und ging in Flammen auf … Sein Bruder meinte, er hätte ein Rad ab, aber er verteidigte sich mit dem Opa, der vor Stalingrad so viel gehungert und gefroren hatte. Gerade an Weihnachten … Er könnte den Alten so aufhängen, dass den Provinzbullen hier nichts auffallen würde. Das Gelernte endlich mal sinnvoll anwenden. Was ganz Einfaches, passend für einen nicht mehr so starken alten Mann. Söhne Polizisten, ordentliche Familie … Er wälzte sich im Bett seiner Kindheit und Jugend und holte sich ein Landserheft aus dem Regal. Die Sexheftchen lagen unter den Sportmagazinen in einer Schublade. Sexfotos, die älter wirkten als Stalingrad. Es war noch zu früh für Sex.
Ein Geräusch weckte ihn und machte ihm bewusst, dass er den Faden verloren hatte. Er hatte keine Ahnung, wie lange er durch seine Vergangenheit gelaufen war.
Er machte Jims Devil‘s Cut auf und kippte einen Schluck in ein Senfglas. Unter fünf jungen Damen auf dem Etikett, deren Dekolletés ohne Zweifel den Weg zur Hölle wiesen, stand der große Traum, den die Schnapsfirma mit einem Gewinnspiel zu bieten hatte:
The five winners will enter for a chance to be King of the Devil‘s Cut float in the Mardi Gras parade.
Mit den Damen auf Jims Paradewagen durften die Gewinner also durch den Karneval von New Orleans schaukeln, bis am Ende die süße Katrina die Häkchen für den König der Gewinner aufhakte und sie untergingen im Sturm der Leidenschaft.
War so gut wie geritzt. Er war ein Gewinnertyp. Immer gewesen. Und ein Mann musste bekanntlich ein Ziel im Leben haben. Wer ein besseres kannte, sollte vortreten und mit lauter Stimme sprechen!
Er trank noch einen Schluck, um die Vorstellung genauer zu erkennen. Als er den Kopf in den Nacken legte, sah er, dass der Mann im Dachfenster dasselbe machte. Guter Mann. Hatte mehr Ahnung vom Leben als die Polizei erlaubte. Musste dennoch wieder runter ins Wohnzimmer zu seinem Erzeuger.
Soll ich dir was zu essen machen?
Was?
Hast du Hunger, willst ein Brot? Oder was anderes?
Was anderes?
Ja, wie‘s schon in der Bibel steht: Wer scheißen will, muss vorher essen. Sein Vater schaute ihn an, als hätte er eine unfassbare Weisheit verkündet. Hatte er inzwischen auch seinen Hang zu dreckigen Ausdrücken vergessen? Wenn er seinen Söhnen etwas mitgegeben hatte, dann einen großen stinkenden Wortschatz.
Fallner gab auf und der Fernseher gab ihm voll guter Laune recht. Er fragte sich, was sein Vater darin sah. Es war auf jeden Fall besser als nichts. Unbedingt, wie sein Kollege Süden zu sagen pflegte, den er aus den Augen verloren hatte, seit er aus dem Verein ausgetreten und jetzt angeblich Detektiv war. Er musste seine Nummer rauskriegen, vielleicht suchten sie noch jemanden für die ganz dummen Sachen.
Wie viele Hits, sagte die Moderatorin mit den langen blonden Haaren, hatte die schwedische Popgruppe ABBA 1974 in der deutschen Hitparade: einen, zwei oder drei? Sie hatte sehr große blaue Augen und schaute sie damit an, als würde sie ihnen die Fünftausend geben, ohne dass sie die Frage beantworten mussten. Sie trug ein Nikolausmützchen und vorn was kleines Rotweißes. Die Spannung im Studio schien unerträglich zu sein, es war vollkommen still, und die muntere kleine Sexbombe schaute jetzt, dem Ernst der Situation angemessen, ein paar Sekunden auf den Boden. Volle Konzentration. Dann wiederholte sie die Frage mit halber Geschwindigkeit, presste jedes Wort wie einen Felsklotz aus ihrem reizenden Mund. Es ging um Leben oder Tod. Sie beugte sich etwas vor und zeigte eine Menge von ihren Brüsten. Wie sollte er sich da auf die Lösung des Problems konzentrieren, das war nicht fair!
Zwei, rief Fallner, zwei! Das weiß doch jeder Depp, Waterloo und Honey Honey, aber diese ABBA-Weiber hätte ich nicht einmal angerührt, wenn wir allein auf einer Insel gewesen wären, oder, Papa, hättest du dir von diesen komischen Schrauben vielleicht einen blasen lassen? Okay, das ist jetzt übertrieben, ich geb‘s zu.
Er war fünf, als Waterloo ihm ein bisschen Himmel gezeigt hatte. Und obwohl er die Kapelle später nicht mehr ertragen konnte, hatte er sich diesen Blödsinn gemerkt. Wieviel Prozent in seinem Hirn war sinnloses Zeug, neunzig? Und war das normal?
Die Moderatorin bescherte ihm eine Erektion – ob sein Vater immer noch einen Steifen bekommen konnte? War es möglich, dass er ihn gleich rausholte, weil er schon wieder vergessen hatte, dass da jemand neben ihm saß? Und war es möglich, fragte sich Fallner, dass er selbst falsche oder stark veränderte Erinnerungen hatte? Oder hatte er das als Sechsjähriger wirklich gesehen, wie sein Vater seine auf dem Wohnzimmersofa kniende Mutter von hinten fickte, sie mit beiden Händen an den Schultern gepackt hatte und, begleitet von einem schnarrenden Grunzen, mit aller Gewalt seinen Schwanz in sie reinrammte und wie seine Mutter versuchte, von ihm wegzukommen und er immer wieder ihren Hintern packte und sie wieder in Position brachte und er ihr schließlich, ohne dass er sie zu ficken aufhörte, ein paar Schläge an den Hinterkopf verpasste und brüllte, die blöde Fotze solle jetzt endlich stillhalten, sonst schlage er sie richtig zusammen?
Er konzentrierte sich auf die Moderatorin, um diese Bilder wieder zu verdrängen, sie kniete vor ihm und bat ihn, auf ihre Titten zu spritzen, die sie, oh ja, mit beiden Händen zusammenpresste … Er dachte an sein Versprechen – stieg wieder rauf unters Dach und trank noch einen Devil‘s. Er hatte Lust, es sich selbst zu machen, aber er dachte an sein Versprechen, obwohl er es nicht ernst gemeint hatte. Er wünschte, seine Jaqueline wäre bei ihm. Sie hasste seinen Vater, aber war das ein Grund, ihn nicht zu begleiten und den Alten zu besuchen? An Weihnachten? Ziemlich sicher ein letztes Mal?
Der alte Sack war eingeschlafen, obwohl die Quizsendung erheblich zugelegt hatte. Wie heißt der Sänger der Rolling Stones, fragte die heiße Moderatorin: Mickey Maus, Mick Jagger oder Mike Tyson? Heilige Jungfrau, Mutter Gottes, sie waren inzwischen bei Dreißigtausend! Er sollte endlich anrufen. Dann würde er endlich gewinnen. Dann könnte er endlich kündigen … und es wurde sogar schwieriger: Aus welcher amerikanischen Stadt kommen die Dum Dum Girls? Und – Moment mal, die Herrschaften, hauchte sie, ich bin noch nicht fertig mit euch – und, zweitens: Wie viele Männer spielen denn bei den Dum Dum Girls immer so mit? Sie grinste, wahrscheinlich weil sie es irre witzig fand. Und weil es mit dieser Doppelfrage langsam zur Sache ging und die meisten nicht mehr mithalten konnten. Aber er schon, er blieb dran, her mit den Mäusen, er wusste alles! Auch dass eine Menge Männer mit den Dum Dum Girls spielten. Auch die Moderatorin wusste es. Sie konnte genau erkennen, was draußen an den Bildschirmen passierte und sie beugte sich immer wieder weit vor, um es noch besser erkennen zu können. Sie erinnerte ihn stark an seine Jaqueline, die Weihnachten angeblich mit Freundinnen verbrachte.
Jaqueline stand auf Witze, das war nicht mehr normal und für eine Polizistin mehr als auffällig, und wenn er sie bat, jetzt aber endlich auch mal wieder damit aufzuhören, legte sie erst richtig los.
Hallo, du süßes Mäuschen, haucht der anonyme Anrufer ins Telefon. Wenn du errätst, was ich in meiner Hand halte, dann darfst du‘s auch mal anfassen. Es ist warm und außen schön weich und innen ganz hart. Hör mal zu, sagt das süße Mäuschen, wenn du‘s in einer Hand halten kannst, bin ich nicht interessiert.
Nicht ausgeschlossen, dass neunzig Prozent ihres Gehirns von Witzen belegt waren. Und dass sie deswegen leicht unterschätzt wurde. Sie mochte es, wenn man sie für die unterbelichtete Blondine hielt, weil sie dann einen Grund hatte, richtig auszuteilen, und wenn es dem anderen dämmerte, dass er sie falsch eingeschätzt hatte, war es schon zu spät. Am liebsten rächte sich Blondine Jaqueline an Frauen, die sie schon nach einer Sekunde spüren ließen, dass sie ihren IQ für erheblich kleiner als ihre Oberweite hielten; diese „arroganten Dreckstussen“, wie Jaqueline die nannte, machte sie dann fertig. Und sie war überhaupt gefährlich, machte ihren Beruf gern, war gut ausgebildet und hatte außerdem das beste Aufbautraining bekommen, das es gibt, die Sonderschule für Straßenköter. Die versaut beschränkten Blondies hatte ihre Teenagerband geheißen, die ihren Einsatz nach zwei Konzerten wieder beendet hatte. Jaquelines Aussehen machte ihr die Arbeit nicht immer, aber manchmal doch leichter.
Fallner hatte vor einiger Zeit nur mal angedeutet, dass er sich vorstellen könnte, was anderes als Kriminalpolizei zu machen und das nicht erst in zwanzig Jahren. Sie reagierte entsetzt. Als hätte er sie beleidigt. Was er eigentlich auch getan hatte. Denn sie war stolz auf ihren Beruf und hielt ihn für den besten, den die Welt zu bieten hatte, im Kampf gegen das Böse, zur Verteidigung derer, die sich oft nicht verteidigen konnten.
Gib mir noch einen Christkindlwitz mit, hatte er, mit der Tasche schon in der Hand, zu ihr gesagt, ehe er in die tiefste Provinz am Ende der Welt fuhr.
Kenn ich keinen. Aber den kannst du haben: Hier baden verboten!, erklärt der Polizist einer jungen Frau. Warum haben Sie das denn nicht gesagt, bevor ich mich ausgezogen habe? Naja, ausziehen ist ja nicht verboten.
Der Alte war vor dem Fernseher eingeschlafen und Fallner legte sich wieder auf sein Kinderbett. Nahm was von der Devil‘s-Medizin ein und versuchte Erinnerungen abzuwehren.
Du bleibst hier am Tisch sitzen, bis du aufgegessen hast. Alles. Und wenn‘s bis nächste Woche dauert. Und wenn jetzt noch ein einziges Wort aus deinem blöden Maul kommt, dann hockst du die ganze Nacht in der Mülltonne.
Seine Mutter wollte etwas sagen. Wurde vom Alten niedergebrüllt.
Und du hältst dein Maul! Oder du kriegst einen Tritt in deinen fetten Arsch, dass du auf die Straße fliegst! Du und dein kleiner Scheißkerl!
Sein Bruder war als Erster groß genug, er war fünf Jahre älter, war fünfzehn, als er dem Alten mit voller Wucht die Faust ans Kinn schlug. Der Alte kippte mit dem Stuhl nach hinten und machte dann das Tier, das auf dem Rücken liegt und sich aus eigener Kraft nicht mehr aufrichten kann. Er heulte und tat sich wahnsinnig leid, hatte sich für seine Söhne aufgeopfert, und das war der Dank! Und glotzte dabei, als würde er diesen unglaublichen Blödsinn selbst glauben. Aber es war damit nicht erledigt gewesen. Die Autorität des Alten war angeschlagen, aber damit war es nicht erledigt.
Zu keiner anderen Stunde hatte Fallner seinen älteren Bruder so geliebt – sein Vorbild, er war fünf Jahre vor ihm zur Polizei gegangen, hatte vor fünf Jahren gekündigt und seine eigene Firma gegründet, und würde ihn garantiert um fünf Jahre überleben. Der Bruder war Held und King – und gestern hatte er seinem kleinen Bruder zehntausend Euro geboten, wenn er für ihn und seine Sicherheitsfirma einen Job übernahm, eine lockere Sache, die ihn nicht länger als zwei Wochen beanspruchen würde, und sowieso sollte er den blöden Polizeijob endlich ebenfalls hinschmeißen. Sein Bruder war ein scharfer Hund, mit dem man sich besser nicht anlegte, und wenn Fallner den Job nicht übernahm, legte er sich mit ihm an.
Das nächste Landserheft, in dem er blätterte, um einen Blick in seine Kindheit zu riskieren, schien zu wissen, was ihn heute beschäftigte: Sie waren auf jeden Mann angewiesen, der eine Waffe zu gebrauchen verstand. In den verschneiten Ruinen kämpften sie in unvorstellbarer Entsagung und einzigartiger Tapferkeit auf aussichtslosem Posten. Wenn es Nacht geworden war, zündeten sie eine Kerze an und sangen Stille Nacht. Das Jesuskind wusste, dass sie ein gutes Herz hatten.
Pünktlich zu den 20-Uhr-Nachrichten wachte sein Vater wieder auf. Fallner rauchte eine Zigarette im Wohnzimmer, sein Vater sah ihn an und brüllte: Nein! Mit verblüffend kräftiger Stimme. Und wedelte mit der Hand rum. Der Protest eines dementen alten Mannes, der immer noch sagen konnte, was er wollte und was nicht.
Und genau das hatte sich Fallner schon gedacht. Dass der Alte ihnen allen was vormachte. Um keine Fragen zu seinem Leben und Verhalten beantworten zu müssen, spielte er am Ende den Dementen.
Er beschloss, seinen Vater so zu behandeln wie einen Kriminellen, den man zuerst ans Fenster locken musste, um ihn dann raushängen zu können: Er tat weiter so, als würde er ihm seine Schau abkaufen.
Nein!
Halt‘s Maul. Ich will jetzt Nachrichten hören.
Rauch!
So ist es.
Nein!
Du kannst ja die Feuerwehr rufen, wenn‘s dir nicht passt. Die freuen sich zurzeit über jeden Anruf.