Wien, 15. Bezirk
Es fiel leichter Schneeregen, als Julia aus der überfüllten Straßenbahn ausstieg. Eilig zog sie sich die Kapuze ihres Wollmantels über. Als sie den obersten Mantelknopf schließen wollte, hielt sie ihn prompt in der Hand.
Verdammt!
Warum hatte sie das lockere Stück nicht schon längst wieder fest angenäht! Das rächte sich nun. In der kleinen Pension am Gürtel, in der sie auf die Schnelle ein günstiges Zimmer aufgetrieben hatte, gab es sicher kein Nähzeug. Als sie dort ihren Koffer abgestellt hatte, war ihr im Badezimmer nicht einmal eine kleine Handseife untergekommen.
Hoffentlich holte sie sich deswegen nicht noch einen Schnupfen! Julia wickelte ihren Schal fester um den Hals, als sie sich nun zögerlich in Bewegung setzte, den Blick auf die Hausnummern gerichtet.
Weil das hauseigene W-LAN der Pension ausgefallen war, hatte sie zwei Stunden in einem Internetcafé um die Ecke verbracht, inmitten von jungen Männern, die sich auf Arabisch, Türkisch und Serbokroatisch verständigten und immer wieder zu ihr herüberschielten. Auch wenn sie in Ruhe gelassen worden war, hatte sie sich unwohl gefühlt. In dem Viertel, in dem sie jetzt nach Tabors Wohnhaus suchte, ging es ihr kaum anders. Mobilfunkläden und Kebab-Stände wechselten sich ab; vereinzelt gab es Ein-Euro-Shops und Kleidungsgeschäfte, die kitschige Abendkleider oder auch bodenlange, hochgeschlossene Mäntel zu astronomisch niedrigen Preisen anboten. Die Menschen, die ihren Weg kreuzten und entweder in ihr Handy oder mit ihrer Begleitung sprachen, verstand sie allesamt nicht.
Das mehrstöckige Mietshaus in einer der Seitenstraßen war dank Google Maps mühelos zu finden. Ein Altbau, dessen schmutziggraue Fassade nach einem neuen Anstrich schrie. Vor den Fenstern in Parterre hingen dichte Gardinen. Im zweiten Stock hatte jemand ein zerschlagenes Fenster mit einem Pappkarton geflickt.
Vergeblich suchte Julia die mehrfach überklebten, teilweise eingedrückten Knöpfe ab. Ein Irrtum war ausgeschlossen; die Adresse stimmte. Sie hatte sogar das Haus wiedererkannt; von einer Online-Zeitung war es bereits vor Stunden ins Netz gestellt worden mit ein paar kurzen Zeilen zu Tabors Tod.
Als zwei Buben mit Skateboards aus dem Haus kamen, nutzte sie die Gelegenheit und schlüpfte hinein. Im Inneren war es dunkel. Es roch modrig feucht. Im Eingangsbereich standen Mülltonnen, daneben zwei alte Fahrräder mit platten Reifen.
Julias Augen glitten über die Postkästen an der Wand gegenüber, um zumindest hier Tabors Namen zu entdecken. Wenn sie daraus schlussfolgern konnte, in welchem Stockwerk der Rumäne gewohnt hatte, würde sie versuchen, den Nachbarn Informationen zu entlocken. Auch wenn es nicht das erste Mal war, dass sie auf diese Art recherchierte – es erfüllte sie nicht gerade mit Begeisterung.
Allerdings, diese Geschichte bedeutete – wieder einmal! – eine Chance. Wenn sie bei Egle einen guten Eindruck hinterließ, dachte der beim Freiwerden der nächsten festen Redakteursstelle vielleicht an sie.
»Sie kommen zu spät.« Die Stimme dicht hinter ihr ließ sie erschrocken zusammenfahren. Bemüht, sich ihren Schreck nicht anmerken zu lassen, drehte Julia sich langsam um.
Die Frau war einen Kopf kleiner als sie, ganz in schwarz gekleidet und stützte sich auf einen Krückstock. Kopf und Schultern waren mit einer schwarzen Wollstola bedeckt.
»Ihre Kollegen waren alle schon da.«
Der Akzent erinnerte Julia an ihren Hausmeister in Hamburg, einen Kroaten.
»Welche Kollegen?«
»Na, Sie sind doch von der Presse, oder? – Die waren gestern und heute schon da, haben Fotos gemacht und die Nachbarn befragt.« Ein schelmisches Grinsen erschien auf dem faltigen Gesicht. »Lange ist keiner geblieben. Warum auch? Die haben alle mit den falschen Leuten gesprochen. Die einen sind betrunken, die anderen sprechen kaum Deutsch, die nächsten sind bloß Besserwisser.« Sie senkte die Stimme. »Die aus Nummer 31 macht sich nur wichtig. Hören Sie nicht auf die; sie hat nichts gehört und nichts gesehen, die arbeitet nachts, war gar nicht da! Und der Russe aus der 43 war hundertprozentig besoffen, als es passiert ist. Außerdem will er für alles Geld.« Ihr Blick glitt prüfend Julias schmalen Körper entlang. »Würde ich Ihnen sowieso nicht raten, zu dem in die Wohnung zu gehen. Aber die aus der 27 können Sie fragen. Für die hat sich noch keiner interessiert. Außer der Polizei. Aber das ist was anderes.«
Julia brauchte ein paar Sekunden, um den Redeschwall der Frau zu verarbeiten.
»Tabor wohnte also auf Nummer 32?«
»Ja, natürlich. Aber die Tür ist versiegelt. Da kommen Sie nicht rein. Außerdem ist es vielleicht kein schöner Anblick. Da ist bestimmt alles voller Blut.« Die Frau schüttelte sich. »Ich mag das schon im Krimi nicht sehen, dieses Blut. – Sie etwa?«
»Nein, ich … Ich schaue so etwas nicht an, ich habe gar keinen Fernseher.« Julia erntete einen entsetzten Blick. »Aber ich will sowieso nicht in diese Wohnung gehen, keine Sorge«, fügte sie hastig hinzu. »Ich wollte nur mit jemandem sprechen, der –«
»Ja, können Sie, Nummer 27, läuten Sie da an!« Die Alte unterbrach sie ungeduldig. »Aber die will auch was. Umsonst sagt die gar nichts!«
Na toll. Julia unterdrückte ein Seufzen.
Nicht, dass sich der Brennpunkt generell von Scheckbuch-Journalismus fernhielt. Päpstlicher als der Papst war nicht einmal das Nachrichtenmagazin des Rowendson-Verlags. Allerdings stand ihr kein Budget dafür zur Verfügung, es sei denn, sie zahlte es aus eigener Tasche.
»Wie viel will sie?«
»Zwei.« Die kleine Frau streckte zwei Finger ihrer linken Hand in die Höhe.
»Zweihundert Euro?« Julia gab sich keine Mühe, ihr Entsetzen zu verstecken. »Das ist ja Wucher!«
»Nein, nein.« Die alte Frau schien sich prächtig auf ihre Kosten zu amüsieren. Ihr Gesicht war von einer fast kindlichen Freude erfüllt. »Zwei Cremeschnitten. Himbeere und Schokolade. Aus dieser türkischen Konditorei gegenüber. Piksüßes Zeug, aber sie mag das. Dafür erzählt sie Ihnen jedes Geheimnis.«
Julia blieb skeptisch.
»Hat sie denn etwas gesehen? – Überhaupt, wer wohnt da? Und warum hat bisher noch niemand dort angeläutet?«
»Es ist eine alleinstehende Frau, die immer sehr neugierig ist. Man hat ihr schon oft vorgeworfen, dass sie ihre Nase in fremde Angelegenheiten steckt. Aber das hält sie nicht davon ab, es trotzdem immer wieder zu tun. – Und es hat noch niemand bei ihr geläutet, weil sie im zweiten Stock wohnt, passiert ist es ja im dritten. Ja, so einfach denken die Leute …« Sie zuckte mit den Schultern. »Überlegen Sie es sich. Nummer 27.«
Damit wandte die Frau sich ab und ging langsam Stufe für Stufe nach oben. Sie war bereits auf der Hälfte der Treppe angekommen, als ihr Julia hinterherrief: »Ist sie denn überhaupt zu Hause?«
»Jaja!« Die Alte drehte sich um. »Wenn Sie mit Cremeschnitten kommen, ist sie zu Hause!«
*
Die Frau hatte die Stola abgelegt, als sie knapp eine Viertelstunde später mit einem breiten Grinsen im Gesicht die Tür öffnete. Julia streckte der Alten, deren dünnes graues Haar zu einem Dutt hochgesteckt war, die in rosafarbenes Papier verpackten Tortenstücke entgegen.
»Sie sind ja nicht mal überrascht«, bemängelte die Frau. Sie wirkte trotz des Kuchens enttäuscht.
»Glauben Sie wirklich, ich habe Sie nicht durchschaut, bei dem Tamtam, den Sie um die Torte gemacht haben?«, konterte Julia schmunzelnd.
Sie winkte ab. »Kommen Sie herein, Kindchen. Wir müssen nicht warten, bis die von nebenan Wind bekommt und sich selbst einlädt!«
Die Wohnung war winzig. Ein Schritt über die Schwelle vom Gang führte direkt in die kleine Küche, in der zusätzlich zur Kochzeile eine Duschkabine integriert war.
Julia entledigte sich ihres Mantels und zog die Stiefeletten aus. Der alte Parkettboden ächzte unter ihren Füßen. Das Wohnzimmer war heller als erwartet, weil die alte Frau auf Gardinen verzichtete. Und das aus gutem Grund: Der Raum stand voller Pflanzen. In der Ecke zwischen Schrank und Fenster dominierte ein mannshoher Hibiskus, der sich trotz des nahen Heizkörpers zu voller Pracht entfaltet hatte. Auf Blumenständern gediehen farnähnliche Gewächse und irgendwelche großblättrigen Pflanzen. Julia fühlte sich im ersten Moment, als stünde sie inmitten eines Dschungels.
»Bitte, setzen Sie sich.« Die Frau wies auf ein verschlissenes, braun-beige kariertes Kanapee rechts der Türe. »Ich mache uns Kaffee. Bin gleich bei Ihnen.«
Während in der Küche hantiert wurde, schaute sich Julia weiter im Raum um. Zwischen den Pflanzen blitzte Blümchentapete durch, an manchen Stellen grauer Verputz. Vor dem Kanapee stand ein wackeliger alter Tisch. Weiter links entdeckte sie jetzt auch das Bett der Frau, das mit einer dottergelben Tagesdecke überzogen war. Dann gab es noch einen schmalen Kleiderschrank und ein Regal, in dem der Fernseher, ein kleines Radio, Porzellanfiguren und gerahmte Bilder standen.
Ihr Blick blieb an einer knapp einen Meter hohen Zimmerpalme hängen, die verloren mitten im Raum stand und die dürren Blätter hängen ließ.
»Eine Schande, nicht wahr?« Die Alte kehrte zurück. Sie stellte eine altmodische Kaffeekanne und zwei Tassen auf den Tisch. »Noch dazu war es ein Geschenk!«
Sie verschwand wieder, kam mit den Tortenstücken auf einem einzigen Teller wieder, schenkte Kaffee ein und setzte sich neben Julia aufs Kanapee.
»Leute, die Pflanzen verkommen lassen, sind auch zu Menschen nicht gut«, resümierte die Frau, während sie ihre Gabel im Teig versenkte. »Da hofft man immer, dass sie keine Kinder haben.« Sie strahlte Julia an. »Ich bin da ganz anders«, fuhr sie mit vollem Mund fort. »Ich kümmere mich um meine Pflanzen, und ich liebe Kinder. Ich habe fünf Enkel und sogar schon einen Urenkel. Obwohl ich erst einundsiebzig bin.«
Julia fragte sich allmählich, ob es nicht ein Fehler gewesen war, herzukommen. Reine Zeitverschwendung. Obendrein begann die Frau nun ausschweifend von ihrer Verwandtschaft zu berichten, die teilweise in Serbien, teilweise in Wien wohnte, während sie mit sichtlichem Genuss die Tortenstücke verputzte. Julia hörte nur mit halbem Ohr zu. Langsam reichte es ihr.
»Sie wollten mir etwas über Arian Tabor erzählen.«
»Aber natürlich.« Die Frau bedachte sie mit einem erstaunten Blick. »Das tue ich doch gerade.«
»Nein.« Julia stellte ihre Kaffeetasse auf den Unterteller zurück. »Sie haben erst von der Palme erzählt, dann von Ihrer Familie. Und bis jetzt weiß ich nicht einmal, wie Sie heißen!«
»Sie haben sich auch nicht vorgestellt!«
Die Alte musterte sie mit so komischer Empörung, dass Julia ihren Groll vergaß und unwillkürlich lachen musste.
»Julia Resnitz. Ich schreibe für das deutsche Nachrichtenmagazin Brennpunkt.« Sie streckte die Hand aus.
»Gordana Petrovic. Nennen Sie mich Gordana. Ich schreibe gar nicht, ich seh lieber fern.«
Die Ernsthaftigkeit, mit der ihr dabei die Hand geschüttelt wurde, brachte Julia erneut zum Schmunzeln. Dieses Treffen hier würde für den Artikel nichts bringen – kurios war es allemal.
»Sie wollen also über die Palme reden. Gut.« Gordana, die ihren Teller geleert und sauber abgeschabt hatte, erhob sich schwerfällig und beugte sich über die Zimmerpalme. Fast liebevoll strich sie über die hängenden Blätter. »Das ist schade, weil wenn Sie sich nicht so an der Palme festbeißen würden, dann hätte ich Ihnen jetzt von Selma erzählt, meiner Großnichte. Sie hat auch braunes Haar, trägt Ihre Frisur … Sie könnten Schwestern sein, und –«
»Gordana, bitte! Arian Tabor. Deshalb bin ich hier!«
»Jaja.« Gordana richtete sich auf und kehrte zum Kanapee zurück. »Ich habe Arian Tabor diese Palme geschenkt. Vor drei Monaten. Und jetzt sehen Sie, was daraus geworden ist! Er hat sie total verkommen lassen. Das ist kein guter Mensch, auch wenn er nach außen so getan hat.«
»Wie meinen Sie das?«
»Oh, so, wie ich es sage. Er war immer freundlich, hat jeden im Haus gegrüßt, sogar den besoffenen Russen, der nachts manchmal herumschreit. Einmal hat er mir die Armaturen ausgetauscht, in der Dusche. Und da habe ich ihm zum Dank die Palme geschenkt. Sie war damals wunderschön! Eine Schande ist das!« Gordana machte eine unwirsche Geste.
»Immerhin hat er Ihnen die Palme zurückgebracht. Er hätte sie auch einfach wegschmeißen können.«
»Ja … ja.« Die Pflanzenliebhaberin schüttelte leicht den Kopf, ehe sie fortfuhr: »Jedenfalls, er hatte manchmal Besuch. Von Frauen. Dann gab es meistens Streit. Es sei denn, es waren Nutten. Dann nicht. Fragen Sie mal die türkische Familie von Nummer 22! Die haben unten alles gehört, wenn es da zur Sache ging! Die haben ihre Kinder sogar einmal in den Hof geschickt, damit sie das Spektakel nicht mitbekommen!«
»Und die anderen Frauen? Und um was stritt er mit ihnen?«
Julia hatte kein Interesse daran, das Sexleben des Arian Tabor zu vertiefen.
»Um was wohl? – Um Geld. Eine wollte immer Geld. Schon seit Jahren. Die schrie vor seiner Tür herum, dass er verpflichtet wäre zu zahlen. Dass er es dem Kind schuldig sei.«
»Seinem Kind?«
»Dem Kind. Das zog sich über Jahre. Inzwischen muss es längst erwachsen sein. Ich habe jedenfalls nie eins gesehen.«
»Und trotzdem wollte die Frau noch Geld?«
»Ja. Aber bestimmt nicht für irgendein Kind. Die sah selbst so aus, als könnte sie es gebrauchen!«
»Wie denn?«
»Abgetakelt. So, als hätte sie schon bessere Zeiten erlebt.« Gordana machte eine abfällige Geste. »Die hat geraucht wie ein Schlot und ihre Kippen immer im Hausgang verteilt. Einmal habe ich sie zurechtgewiesen. Da wurde sie aggressiv, nannte mich Serbenschlampe. Die war auch kein guter Mensch.«
»Hat Tabor der Frau denn Geld gegeben?«
»Weiß ich nicht. Vermutlich nicht. Oder zu wenig. Sonst hätte sie ja keinen Grund gehabt, so herumzuschreien, oder?«
Da war vermutlich etwas Wahres dran.
»Wie alt war sie?«
»Fünfzig? Sechzig? Vielleicht auch jünger. Schwer zu sagen. Sie hatte viel zu viel Make-up im Gesicht und eine große Nase. Das war keine schöne Frau. Und sie trug immer kurze Röcke und kniehohe Stiefel. Am Schlimmsten waren die Fingernägel. Schwarz lackierte Krallen.«
»Und die anderen Frauen?«
»Prostituierte! Eindeutig. Da hat er nie gestritten, sondern sie schnell reingelassen, und dann ging es los.«
»Aber Sie sagten doch, es gab mehrere Frauen, mit denen er stritt.«
»Nein, bis zu dieser Nacht auf Karfreitag nur die mit den schwarz lackierten Fingernägeln. Aber in dieser Nacht, da gab es noch eine andere, mit der er Streit hatte.«
»Anima Nicolescu?«
»Die hat sich mir nicht namentlich vorgestellt. Aber ja, wenn die Frau, deren Foto sie ständig wegen Tabor in den Medien zeigen, so hieß … die war in dieser Nacht hier.«
»Und als Sie zuvor den Streit gehört haben, sind Sie nicht ein Stockwerk höher gegangen, um nachzusehen, was los ist? Ihr Nachbar wurde immerhin abgestochen, das macht doch Lärm!«
Gordana seufzte.
»Tragische Sache, das mit Tabor. Aber wissen Sie, in diesem Haus gibt es fünfzehn Parteien. Irgendwer macht immer irgendwo Lärm, es wird herumgeschrien und gestritten. Ich würde ja verrückt werden, wenn ich da überall meine Nase hineinstecken würde!«
Aber sicher doch. Julia zweifelte keine Sekunde, dass genau das Gegenteil der Fall war.
»Wann haben Sie die Frau das Haus verlassen sehen?«
»Um Mitternacht herum.«
»Haben Sie das alles auch der Polizei erzählt?«
»Natürlich. Was denken Sie denn?!«
Julia hielt bei der Frau, so gesprächig sie auch war, vieles für möglich.
»Worum ging es bei dem Streit?«
»Dazu kann ich nichts sagen. Ich war im Nachthemd; um länger im Stiegenhaus herumzustehen, war mir zu kalt. Und hier in der Wohnung hört man nicht, was gesagt wird. Aber die Frau war aufgebracht und wütend.«
»Das haben Sie trotz der dicken Mauern ein Stockwerk tiefer und um die Ecke hören können?«
»Nein.« Gordana bedachte sie mit einem fast schon mitleidigen Blick, so als wäre tatsächlich sie diejenige, die hier auf der sprichwörtlichen Leitung saß. »Das hat mir die Zeynap Ergün erzählt. Die von der 22, Sie wissen schon.«
Allmählich hatte Julia das Gefühl, das halbe Haus und seine Bewohner zu kennen.
»Dann weiß Frau Ergün also, worum es ging?«
»Das bezweifle ich. Ihr Deutsch ist nicht besonders gut.«
»Aber offenbar gut genug, um mit Ihnen zu tratschen?«
Gordana hob die Schultern. »Man kennt sich, was soll ich sagen? – Und natürlich, wenn hier ein Mord geschieht, dann wachsen die Menschen zusammen …«
Tratschen noch mehr trifft es wohl eher, dachte Julia. Laut sagte sie: »Zurück zu Arian Tabor. Wovon hat er gelebt?«
»Was weiß ich. Krumme Geschäfte wird er gemacht haben. Aber gut gelaufen ist es sicher nicht, sonst hätte er wohl kaum hier in diesem Haus gewohnt. – Die wirklich Erfolgreichen fahren mit ihren Porsches und Ferraris den Gürtel auf und ab. Er hatte nicht mal ein Auto.«
»Er hatte also keinen richtigen Job?«
»Bis vor einem Jahr hat er am Naschmarkt gearbeitet, an einem Fischstand. Da musste er immer früh los. Aber seither habe ich ihn nur abends regelmäßig weggehen sehen. Meistens ist er da zu seinem Beisl.«
»Zu wem?«
»In sein Stammlokal«, half die Alte bereitwillig nach. »Das finden Sie ein paar Gassen weiter in Richtung Gürtel. Es heißt 15er Beisl.« Sie erhob sich, griff nach ihrem Krückstock, den sie achtlos gegen das Kanapee gelehnt hatte. »Und jetzt muss ich Sie hinausbitten. In fünf Minuten beginnt die Barbara-Karlich-Show.«
»Na, dann.« Fast war Julia erleichtert, dass die Frau das Gespräch selbst beendete. Hier gab es wohl ohnehin nichts mehr zu erfahren. Als sie ihren Mantel vom Garderobenständer nahm, fiel ein purpurfarbener Schal zu Boden. Automatisch bückte sie sich, um ihn aufzuheben – und nahm erstaunt zur Kenntnis, wie fein und weich der Stoff war. Echte Seide.
Noch ehe sie ihn zurückhängen konnte, hatte Gordana ihn ihr abgenommen und presste ihn an sich.
»Bitte. Gehen Sie jetzt. Die Sendung beginnt.«
*
»Er saß meistens da hinten am Eck, mit seinem Kumpel Edi.« Die Frau mit dem langen, blondierten Haar, die sich als Svetlana vorgestellt hatte, schob einen Kaugummi von der linken in die rechte Backe, während sie weiter die Gläser mit einem Geschirrtuch trocknete, die ihr ein schwarzer, durchtrainierter Hüne aus der Spülmaschine anreichte. »Er war ruhig, eher unauffällig, hat immer sein Zeug bezahlt.«
»Und an diesem letzten Abend?«
Julia stand am Tresen, ein Glas Sodawasser vor sich. Sie konnte sich nicht überwinden, sich in diesem nach kaltem Rauch, Fett und Hochprozentigem stinkenden Lokal auf einen der Barhocker zu hieven. An einem der Tische im Hintergrund saßen zwei Männer. Sie spielten Karten, doch Julia hatte das Gefühl, dass sich die Konzentration auf sie verlagert hatte. Jedenfalls spürte sie Blicke im Rücken.
»Es war alles wie immer.« Svetlana hob die Schultern und schaute sie gelangweilt an. »Mehr kann ich dazu nicht sagen.«
»Kennen Sie diese Frau?«
Julia hielt ihr das Smartphone mit dem Foto von Anima Nicolescu unter die Nase.
»Klar. Aus der Zeitung. Das ist die, die ihn umgebracht hat.«
»Aber sie war nicht hier, an diesem Abend?«
Svetlana starrte sie sekundenlang entgeistert an.
»Um Himmels willen, nein! – Was sollte die hier?«
»Mit ihm reden?«
»Blödsinn. – Ehrlich gesagt, kommt da selten eine Frau herein. Außer mir, meine ich.«
»Es war also alles wie immer?«
Julia gewann zunehmend den Eindruck, in eine Sackgasse gelaufen zu sein. Tabor hatte hier gern gesessen und getrunken, ihre Recherche würde das nicht voranbringen.
»Ja. Wie immer.«
»Oh, Baby, but you told me ’bout the money in his pocket, remember?« Der Schwarze, von dem Julia bisher angenommen hatte, dass er kein Wort ihrer Unterhaltung verstand, schaltete sich ein.
»Ach, ja … das.« Svetlana verzog kurz das Gesicht. »Stimmt. Er hatte an diesem Tag einen ganzen Packen Scheine bei sich.«
»Woher hatte er die?«
»Keine Ahnung. Er ging ab und zu in ein Sportwettenlokal auf der Mariahilfer Straße. Vielleicht hat er ausnahmsweise mal gewonnen.« Sie überlegte kurz. »Er hat an diesem Abend Edis Rechnung bezahlt. Zwischen halb zehn und halb elf sind die beiden dann gemeinsam gegangen. Mehr weiß ich nicht. Aber fragen Sie doch den Edi am besten selber – da kommt er!«
Der drahtige kleine Mann mit Hut, der das Lokal betrat, roch bereits aus zwei Metern Entfernung nach Alkohol. Julia musste sich zwingen, nicht sofort die Flucht zu ergreifen.
»Na so a feschs Bupperl!«, war das Erste, was er sagte, als er sich ungefragt neben sie stellte und zwei Bier orderte. Eins davon schob er Julia zu. »Do. Des geht af mi.«
Als Julia noch überlegte, wie sie höflich ablehnen und dennoch Informationen von ihm erhalten konnte, wandte er sich auch schon an Svetlana.
»Sveti, Spatzerl, wie haast denn des fesche Madl?«
»Die Frau Resnitz ist Journalistin und will was über den Tabor wissen.«
»Ah so. Über den Tabor.« Edi ließ seine Augen noch einmal prüfend über Julia wandern, die froh war, dass sie ihren Mantel anbehalten hatte. Dennoch fühlte sie sich nackt.
»Na bitteschön, gnädige Frau. Dann setzen wir uns doch.«
Er wies auf einen der Tische, und Julia überwandt sich, seiner Aufforderung Folge zu leisten.