Wien, Am Spittelberg

Pling. Plang. Bingbingbing.

Julias Kopf war noch immer erfüllt von der monotonen Geräuschkulisse der Spielautomaten, als sie eine knappe Stunde später die Siebensterngasse entlangging und nach jener Seitenstraße Ausschau hielt, in der Natalia Theodorescu zu finden sein sollte. Das Internet hatte zahlreiche Links mit ihrem Namen ausgespuckt, mehrheitlich ältere Beiträge über die sportlichen Erfolge. Eine einzige Website enthielt einen aktuellen Hinweis: die einer Maßschneiderei am Wiener Spittelberg. Natalia Theodorescu war hier als Geschäftsführerin angegeben. Ob ihr die Schneiderei gehörte, war dem Kontakt nicht zu entnehmen. Dass es um mehr als um Maß nehmen und Anfertigen ging, dagegen schon. Die Schneiderei nannte sich Atelier und bot hochwertige Designermode anvielversprechende Einzelstücke, wie die Fotos bewiesen.

Der Laden befand sich im Erdgeschoss eines der für das Viertel charakteristischen barocken Häuser, die selten mehr als zwei Geschosse aufwiesen. Die schmale Gasse war für den Straßenverkehr gesperrt; vor der Tür bogen sich zwei mannshohe Bäume in blauen Töpfen im Wind. Julia hatte die Klinke bereits in der Hand, als sie den handgeschriebenen Zettel auf dem Glas entdeckte: Ab 16 Uhr wieder geöffnet.

Wunderbar. Das bedeutete über eine Stunde Warten.

Frustriert sah sie sich nach einer Sitzgelegenheit um. Auch die drei Tassen Kaffee hatten ihre Lebensgeister noch nicht vollständig geweckt. Zu dem Pling-Plang in ihrem Kopf gesellte sich der Kopfschmerz vom Morgen. Sie fühlte sich beinahe wie nach einer durchzechten Nacht, doch das Nieseln und leichte Frösteln, das dann und wann ihren Körper mit Gänsehaut überzog, kündete von anderem. So ein Mist! Ausgerechnet jetzt konnte sie eine deftige Erkältung überhaupt nicht brauchen.

Zwei Häuser weiter entdeckte Julia ein Café. Ihre Entscheidung, sich dort aufzuwärmen und zu stärken, fiel mit dem ersten Regentropfen, der sich aus einer der dicken, schwarzen Wolken über ihr löste. Als sie die Türe erreichte, prasselten die Tropfen bereits munter auf die Pflastersteine.

Die alten, mit weinrotem Cord überzogenen Polstermöbel und spitzenbedeckten Rundtische passten zum Publikum. Auf den ersten Blick sah Julia nur weiße Haarschöpfe. Es roch nach Kaffee, Gebäck und schwerem Parfüm. Der einzige freie Tisch stand neben dem Eingang zu den Toiletten.

Egal. Julia legte ihren Mantel ab und nahm Platz. Obwohl es hier drinnen warm war, fror sie mehr als zuvor. Ihr Haar war vom Regen feucht, ihr Oberkörper von Schweiß.

Verdammt, verdammt, verdammt.

Sie durfte einfach nicht krank werden, nicht jetzt!

Sie bestellte einen Tee und einen Teller Frittatensuppe, ohne zu erfragen, was sich dahinter verbarg. Dass es neben Apfelstrudel und diversen Torten überhaupt eine Suppe im Angebot gab, machte sie für den Moment glücklich genug.

Das Glücksgefühl verflog, als sie sich die bitteren Fakten vor Augen hielt: Die Recherche zu Arian Tabor zwang sie in ein Milieu, das sie anwiderte. Sie wusste über die mysteriösen Umstände seines Todes nicht annähernd genug für den Artikel. Und sie hatte nicht den geringsten Plan, was sie eigentlich bei der Theodorescu sollte. Seit sie sich den archivierten Talkshowauftritt der magersüchtigen, psychisch sichtlich angeschlagenen Frau angesehen hatte, schien es ihr moralisch vollkommen verwerflich, bei ihr Wunden aus der Vergangenheit aufzureißen.

Und das ist genau dein Problem, Julia: Du bist einfach keine Journalistin. Du hast nicht den nötigen Biss dazu!

Die Stimme in ihrem Kopf gehörte Resnitz senior. Als Abi­turientin, die gerade von der hessischen Regierung für eine Schülerzeitungsreportage über einen lokalen Umweltskandal ausgezeichnet worden war, hatte sie sich den Worten ihres Vaters trotzig entgegengestellt. Die Aufnahme an der renommierten RowendsonJournalistenschule, der ein Auswahlverfahren mit über achthundert Bewerbern vorausging, lieferte ihr den Beweis, auf dem richtigen Weg zu sein.

Sowieso hielt auch der Vater keinen Plan B für sie bereit. Seine Praxis zu übernehmen, hatte nie zur Diskussion gestandensie war nicht wild darauf, Leuten auf den Zahn zu fühlen, und selbst wenn, hätte ihr Abischnitt nicht gereicht.

Somit saß sie jetzt in Wien und musste sich von Alkoholikern und Testosteronmonstern begrapschen lassen, während ihre Schwester als Anwältin Geld scheffelte und sich ihre mittlerweile pensionierten Eltern in der Familienvilla im Süden Frankfurts von der Haushälterin Tee servieren ließen.

Ich muss endlich Erfolg haben, sagte Julia sich in Gedanken immer wieder vor, während sie auf ihre Bestellung wartete. Es durfte einfach nicht sein, dass sie die Chance, die sich ihr da bot, in den Sand setzte!

»Hallo? – Entschuldigen Sie, ist hier noch frei

Die Frau, die ihre Hand bereits an der Stuhllehne hatte und sie aus großen, dunklen Augen fragend ansah, kam Julia im ersten Moment bekannt vor, doch als sie auf ihr Nicken hin nun die Jacke auszog und Platz nahm, wirkte sie so unauffällig, dass Julia nicht weiter ihr Gedächtnis danach durchforstete, wo sie sich eventuell schon einmal begegnet sein konnten. Hellbraunes, langes Haar, schmal gezupfte Augenbrauen, hohe Wangenknochendie Frau, die in ihrem Alter sein mochte, war hübsch, aber kein außergewöhnlicher Typus.

Als der Kellner den Tee brachte, bestellte die Frau sich einen Milchkaffee. Automatisch angelte Julia das Handy aus der Handtasche. Mit Fremden am Tisch zu sitzen hatte für sie seit jeher etwas Beklemmendeszumal, wenn es nur ein schmales Tischlein war. Würde sie die Beine ausstrecken, stießen sie gegen die der anderen.

Das Smartphone lag kaum neben der Tasse, als Julia kräftig niesen musste. Eilig griff sie erneut in die Handtasche.

»Hier. Nehmen SieIhr Gegenüber streckte ihr ein Taschentuch entgegen. »Viele Leute sind zurzeit erkältet. Sie sind nicht die Einzige

Die Frau sprach akzentfrei Deutsch, wenn auch mit etwas ungewöhnlichem Einschlag.

»Danke

Ausweichend griff Julia zum Smartphone, doch der Empfang hier im Café war so schlecht, dass sich das Internet nur mühsam lud. Resigniert steckte sie das Handy in die Tasche zurück.

»Sie sind nicht aus Wien

Die Frau hatte ihre dunklen Augen neugierig auf sie gerichtet.

»Nein. Aus HamburgJulia gab sich einen Ruck. Die Suppe ließ auf sich warten; sie würden sich also noch länger gegenübersitzen. Anschweigen war keine Lösung. »Kennen Sie Hamburg

»Nein. Aber ich habe eine Reportage über den Hafen gesehen. Sehr imposant

»Von meinem Büro aus habe ich vollen Blick auf einen Teil des Hafens

Von Egles Büro aus, aber das tat jetzt nichts zur Sache.

»Wo arbeiten Sie

»In einem Verlag

»Sie haben mit Büchern zu tun

Warum eigentlich nicht.

Das klang besser als: Ich bin eine erfolglose Journalistin am Existenzminimum auf frustrierender Recherche.

»Ja, ich bin LektorinDie Lüge kam ihr locker über die Lippen. »Ich lektoriere Krimis und Romane, gegenwärtig überwiegend Milieustudien

»Das klingt sehr interessant

Die Bewunderung in den Augen der anderen fühlte sich an wie Balsam auf ihrer geschundenen Seele. »Krimis lese ich auch. Aber was meinen Sie mit Milieustudien

»Nun, Romane, in denen sich die Lebensverhältnisse gewisser Schichten abbilden und die an Orten spielen, an denen sich zum Beispiel soziale Randgruppen tummelnJulia kam sich einen Moment lang vor wie eine Professorin bei der Soziologievorlesung. »Prostituierte, Alkoholiker, Spieler, Ganoven …«

»Das heißt, Sie haben jeden Tag mit der dunklen Seite der Menschen zu tun

»Mehr oder weniger, ja

Im Moment eindeutig mehr, als mir lieb ist.

Der Kellner servierte Suppe und Melange.

»Sind das Pfannkuchen

Julia fischte mit dem Löffel einen länglichen Teigstreifen aus der Brühe.

»Ja. Frittaten

Ihre Augen trafen sich. Der Blick berührte Julias Innerstes, ohne dass sie in Worte hätte fassen können, weshalb.

»Was ist die beliebteste Mordwaffe in den Krimis, die Sie lektorieren

In der Miene ihres Gegenübers stand ehrliches Interesse. Julia fühlte sich zunehmend unwohl. Einer Frau Lügen aufzutischen, mit der sie sich so nett unterhielt, gefiel ihr nicht. Andererseits, wie sollte sie aus der Schlinge, die sie selbst umgelegt hatte, wieder herauskommen?

»Das Messer«, sagte sie deshalb, weil ihr Arian Tabor in den Sinn kam. »Messermorde sind momentan wieder in Mode

»Und die Leute, die so etwas schreiben, wissen, wo genau das Opfer hingestochen werden muss? Ich stelle mir das nicht leicht vor, ohne medizinische Ausbildung

»In der Realität haben wohl die wenigsten Messermörder eine medizinische Ausbildung«, antwortete Julia lächelnd. »Deshalb stechen die meisten auch mehrmals zuum sicherzugehen, dass ihr Opfer wirklich tot istSie sah automatisch die zarte Anima Nicolescu vor sich.

Ihre Weisheiten stammten vom auskunftsfreudigen Pressesprecher des Landeskriminalamts, der im Anschluss an die Pressekonferenz noch über Messermorde im Allgemeinen referiert hatte. Julia war daneben gestanden.

»Das ist kein schönes ThemaDie Frau wirkte nachdenklich. Sie warf einen kurzen Blick auf ihre Armbanduhr. »Ich muss gehen. Leider

Sie stand so ruckartig auf, dass sie mit ihrem Knie gegen das Tischbein stieß. Die Suppe schwappte über den Tellerrand; ein Teil davon tropfte auf Julias Hose.

»Oh nein! Das tut mir leid

Noch ehe Julia reagieren konnte, beugte die Frau sich über sie und versuchte, mit der Serviette die Flüssigkeit abzutupfen. Ihr offenes Haar kitzelte an Julias Kinn. Es roch nach Zimt und Vanille. Dies und die plötzliche körperliche Nähe machten Julia ganz schwindelig. Sie widerstand nur schwer dem Drang, die Hand auszustrecken und die Wange der Frau zu berühren.

»Es tut mir wirklich leid. Wie ungeschickt! Sie können mir die Rechnung bringen, von der ReinigungDie Frau richtete sich wieder auf. Sie wirkte verstört und zugleich schuldbewusst.

»Kein Problem«, beeilte sich Julia zu versichern. »Ich muss die Hose einfach nur in die Waschmaschine werfen

Außer, dass dies meine einzige Hose ist und ich in Wien keine Waschmaschine zur Verfügung habe.

»Ich möchte nichtes tut mir wirklich leid

Die Frau winkte nach dem Kellner. Ehe es Julia verhindern konnte, hatte sie nicht nur ihre Melange gezahlt, sondern auch Suppe und Pfefferminztee.

»Das ist doch nicht nötig«, setzte Julia an, doch die Unbekannte hatte es plötzlich sehr eilig, wegzukommen. Erst an der Türe zog sie sich ihre Jacke über und ging, ohne noch einmal zum Tisch zurückzublicken.

Ihr Abgang hinterließ bei Julia eine seltsame Leere.

Resigniert löffelte sie die restliche Suppe aus.

Das kann wirklich nur ihr passieren. Eine interessante Frau zu treffen und wegen eines dummen Missgeschicks nicht mal deren Namen zu erfahren

*

»Kann ich Ihnen helfen?«

Die angenehme, melodische Stimme gehörte einer Frau mit gepflegtem Kurzhaarschnitt. Sie mochte an die sechzig sein, vielleicht auch etwas jünger. Trotz ihres eisgrauen Haares wirkte sie jugendlich, was womöglich an der Kleidung lag. Die weit geschnittenen dunkelblauen Baumwollhosen und die taubenblaue Stola, die sie um ihren Oberkörper geschlungen trug, wirkten alterslos elegant.

Julia deutete spontan auf eine der Hosen.

»Haben Sie die vielleicht auch in meiner Größe? Lagernd, meine ichSie warf einen Blick auf einen der spärlich bestückten Kleiderständer. »Oder irgendetwas ähnliches

Ihre eigene Hose klebte am Oberschenkel. Auf der Toilette des Cafés hatte sie versucht, den Suppenfleck auszu­waschen. Aus den Suppenspritzern war dabei ein großer, feuchter Fleck geworden. In der kalten Luft draußen hatte sich der nasse Stoff unangenehm kalt auf ihrer Haut angefühlt. So war sie mit dem Wunsch nach einer Hose in diesen Laden hineingeplatzt, während sie doch nach Natalia Theodorescu hatte fragen sollen.

»Da muss ich kurz im Lager nachschauen. Wir haben immer nur ein sehr kleines Segment; in erster Linie sind wir eine Maßschneiderei. Und unsere Blau-Kollektion ist Ende April leider schon etwas ausgesucht. – Einen kleinen Moment

Die Frau verschwand im Hinterzimmer. Julia sah sich um. Ein heller, freundlicher Raum, dessen Wände in zartem Pastellrosa gestrichen waren. In einer der Ecken ein schlanker, altmodischer Keramikofen. Die Registrierkasse an der dunklen Verkaufstheke war altoder auf alt gemacht. Darüber baumelte ein großer, eindrucksvoller Kristallluster. Im Hintergrund spielte leise Klaviermusik. Julia sog die Atmosphäre des Ladens in sich auf. Es war der erste Ort, an dem sie sich seit ihrer Ankunft in Wien so richtig wohlfühlte.

»Dieses Modell gibt es leider nicht mehr in Ihrer Größe, dafür ein etwas enger geschnittenesDie Frau kam zurück, über den Arm einen Packen Kleidungsstücke. »In Größe 36 gibt es die nur in taubenblau. Dazu hätte ich auch noch eine außerordentlich schöne Bluse im ähnlichen Farbton, der sich gut damit ergänzt. Probieren Sie die Sachen doch einfach

Julia zog den Umhang der geräumigen Umkleidekabine hinter sich zu und besah sich die dunkelblaue Hose. Eine Wahl der Vernunft. Dunkelblau passte zu allem. Ein neutraler Farbton. Anders als taubenblau … Doch sowohl der ungewöhnliche Schnitt als auch die schöne Farbe zogen sie in ihren Bann. Sie schlüpfte in die taubenblaue Hose. Der Stoff schmiegte sich sanft an. Was auch immer das Material sein mochte – es war unfassbar angenehm. Durch den weiteren Schnitt wirkte die Hose beinahe schon wie ein bis zu den Knöcheln reichender, extravaganter Rock. Julia betrachtete mit wachsender Begeisterung ihr Spiegelbild.

Nur ihre gelb-schwarz geblümte Bluse, die passte wirklich nicht dazu. Schnell legte sie das Kleidungsstück ab und griff gerade nach der blauen Bluse, als sich der Vorhang öffnete.

»Diese Weste würde noch gut …«

Julia erkannte die Stimme sofort. Sie fuhr herum.

Sie starrten sich an, und jede weitere Erklärung war mit einem Mal überflüssig. Denn nun sah sie auch, was ihr zuvor im Café nicht aufgefallen war: Ihre neue Bekanntschaft war niemand anderes als Natalia Theodorescu. Eine schlanke, schöne, gesund aussehende Frau mit weiblichen Rundungen und ausdrucksstarken Augen, die nun auf Julias transparentem Spitzen-BH hängen blieben.

Julia fühlte, wie ihr die Röte in den Kopf stieg.