Seattle
Das Haus glich einem Filmset. Bis vor wenigen Stunden hatte Corina nicht für möglich gehalten, wie viele Kameras, Lampen und Scheinwerfer allein in die Küche passten, einem im Verhältnis eher kleinen Raum der Villa.
Der Sender hatte seine Home Story schon vor längerem angekündigt, doch sie hatte den Termin verdrängt. Was ihr an ihm misshagte, waren weniger die paar Stunden, in denen sie die begeisterte Ehefrau geben musste, als die mühsamen Vorbereitungen: Robert und sie hatten die Spielfilm-DVDs im Wohnzimmerregal gegen Standardwerke US-amerikanischer Literatur ausgetauscht und durch einige dicke Politwälzer ergänzt, die er sich dafür extra von seinem Vater ausgeliehen hatte. Das Klavier, auf dem Veronica hin und wieder lustlos geübt hatte, präsentierte sich mit aufgeschlagenem Deckel und Noten von Beethovens Mondscheinsonate, die in diesem Hause niemand auch nur ansatzweise darbringen konnte.
Die nur noch mit einem Bodensatz Whiskey bedeckten Flaschen in der Hausbar hatten sie mit dünnem Schwarztee aufgefüllt – niemand sollte der Idee verfallen, dass es sich beim vielleicht künftigen Gouverneur um einen Trinker handelte! Was auch nicht der Fall war. Aber politische Gegner suchten nach Angriffspunkten.
Sie überzogen zudem das Bettzeug mit gleichen Bezügen, nachdem Robert das ihre extra für die Filmaufnahmen ins ehemals gemeinsame Schlafzimmer verfrachtet hatte. Sie hatten beide wenig Übung im Betten machen, da dies gewöhnlich von Consuela erledigt wurde. Mit dem Spannbetttuch hatten sie eine gefühlte Ewigkeit gekämpft und über ihre eigene Unfähigkeit schließlich Tränen gelacht.
Corina musste ihre gute Laune nicht spielen, als sie für die Home Story vor die Kamera trat. Es war ewig her, dass Robert und sie so viel Spaß zusammen gehabt hatten.
Nachdem das Haus vom Weinkeller mit ausgesuchten kalifornischen Weinen bis zum Dachgeschoss mit Billardtisch und Laufband abgefilmt war und Robert jede Chance genutzt hatte, seine politischen Ziele in jedes noch so harmlos klingende Statement einfließen zu lassen, war im Garten vor dem Pool nun wieder sie an der Reihe.
Corina hatte noch nie ein Problem, vor die Kamera zu treten, und erzählte gern von ihrem Garten. Sich als leidenschaftliche Gärtnerin zu präsentieren, war mit Robert und seinen Beratern abgesprochen. Im Gegensatz zu Elise Savage hielten die PR-Profis Gartenarbeit für eine Tätigkeit, mit denen sie bei potenziellen Wählern punkten konnten. Wenn die Frau des Gouverneurs selbstständig Rosen setzte, widerlegte das jede elitäre Abgehobenheit, die Robert als erfolgreichem Unternehmer und Spross einer wohlhabenden Familie häufig vorgeworfen wurde.
Mit wachsender Begeisterung erzählte Corina über ihre Sträucher, Büsche und Bäume, während Veronica mit Robert dekorativ auf der Terrasse an einem kleinteiligen Puzzle tüftelte. Die PR-Spezialisten hatten sich entschieden gegen gemeinsames Ballspielen von Vater und Tochter ausgesprochen. (›Sie ist ein Mädchen!‹)
»Cory, Sie haben sich hier ein kleines Paradies geschaffen.« Die Reporterin lächelte gewinnend, während sie nun begleitet von den Kameras zurück zum Haus spazierten. »Wie stehen Sie denn Ihrem Umzug in die Bundeshauptstadt Olympia gegenüber, falls Ihr Mann Gouverneur werden sollte?«
»Nun, die Frage stellt sich nicht, da Robert für die Zeit seiner Amtsperiode allein nach Olympia gehen wird«, antwortete Corina und strich sich eine ihrer blonden Locken aus der Stirn. »Wegen knapp zwei Stunden Autofahrt werden wir nicht den Familienwohnsitz verlegen.« Sie schickte ihren Worten ein warmes Lächeln hinterher.
Ihre Gesichtszüge gefroren, als sie die zwei steilen Falten auf Roberts Stirn sah. Hatte sie etwas Falsches gesagt? Schon erhob er sich, kam heran und legte ihr demonstrativ den Arm um die Schultern. Sofort kam sie sich wieder klein und schmal vor.
»Was meine Frau meint, ist, dass wir an den Wochenenden nach Seattle pendeln werden. Meine Eltern wohnen ja hier im selben Haus, und die Familie ist uns sehr wichtig. Daher muss Cory hier nichts aufgeben, wenn ich als Gouverneur meinen Amtssitz in Olympia beziehe. Wir stehen dieser Ortsveränderung sehr positiv gegenüber, weil sie uns Gelegenheit gibt, auch einmal das Leben in einer kleineren Stadt zu genießen. Nicht wahr, Honey?«
»Natürlich, ich freue mich«, sagte sie, doch es klang selbst in ihren eigenen Ohren wie die lahme Lüge, die es war.
*
»Bist du von allen guten Geistern verlassen?« Robert tobte. »Wie kannst du diesen Fernsehleuten auf die Nase binden, dass wir nicht wirklich nach Olympia ziehen, ja, schlimmer noch: dass wir getrennt wohnen werden? Welches Familienbild geben wir damit ab? Wohnt eine Familie etwa getrennt? Ist das so in Rumänien, oder wie kommst du auf die verrückte Idee?«
Corina saß auf ihrem Bett, die Hände vor der Brust verschränkt, den Blick starr auf die geschlossenen Türen ihres Kleiderschranks gerichtet.
»Wir hatten das doch besprochen«, warf sie vage ein und wusste gleichzeitig, dass er sie auch in dieser Diskussion genauso überfahren würde wie in anderen.
Er blieb vor ihr stehen. Sie spürte seinen eisigen Blick. Als er begriff, dass sie ihn nicht freiwillig ansehen würde, ging er leicht in die Knie und umfasste ihr Kinn.
Ihr Plan, durch ihn hindurchzusehen, scheiterte an dem Druck, den sein fester Griff verursachte.
»Was wir nach außen vorgeben und was wir wirklich tun, sind zwei ganz verschiedene Dinge. Das solltest du endlich kapiert haben.« Er ließ ihr Gesicht abrupt los.
»Wenn Veronica und ich mit nach Olympia sollen, sag das doch einfach.« Ihre Stimme klang kratzig. Dennoch war sie fest entschlossen, sich nicht einschüchtern zu lassen. »Meinst du etwa, ich bin versessen darauf, hier mit deinen Eltern alleingelassen zu werden?«
Mit einem alten Mann, der seit seinem Schlaganfall im Rollstuhl sitzt und seinen Frust am gesamten Umfeld auslässt, und einer Frau, die den Ausdruck Perfektion für sich gepachtet hat und die mich noch stärker kontrollieren wird, sobald ihr Sohn unter der Woche nicht mehr hier ist.
»Wie dumm bist du eigentlich? Ich will natürlich nicht, dass ihr mitkommt. Ich werde lediglich eine Dienstwohnung dort haben.« Aus Roberts Stimme und Gesichtsausdruck sprachen pure Geringschätzung. »Und spar dir den Seitenhieb auf meine Eltern. Du kannst dankbar dafür sein, was mein Vater für dich und deine Freundin getan hat.«
Corina erhob sich.
Was zu viel war, war zu viel.
Sie öffnete die Türen ihres Schranks und begann vor seinen Augen, die Sporttasche zu packen.
»Was wird das?«
»Was das wird? – Ganz einfach: Ich fahre ins Fitnessstudio. Jetzt, wo du mir wieder mal gesagt hast, wo mein Platz ist.« Sie schickte ihren Worten ein dünnes Lächeln hinterher.
»Cory! Was soll das alles!« Er griff nach ihrem Arm, hielt sie kurz zurück. Einen Moment lang stand ihm ehrliche Verzweiflung im Gesicht, ehe sich seine Miene wieder verschloss. »Was stimmt eigentlich mit dir nicht? – Seit ein paar Tagen bist du so anders … und seit wann gehst du ins Fitnessstudio? Wir haben ein Laufband im Haus, was willst du dort?«
»Gesellschaft«, sagte sie knapp, während sie sich aus seinem Griff befreite und weiterpackte.
»Gesellschaft?« Ein paar Sekunden verstrichen. Dann schien ihm ein Licht aufzugehen. Erneut zeigten sich die steilen Falten auf seiner Stirn. »Daher weht also der Wind. Catherine Bennett Bishop, richtig? Diese Linksliberale, die Arthur da angeschleppt hat, setzt dir Flausen in den Kopf!«
Sie schnaubte und schulterte ihre Tasche. Als sie an ihm vorbeigehen wollte, stellte er sich ihr in den Weg.
»Ich warne dich, Cory: Treib es nicht zu weit! Du weißt, was auf dem Spiel steht.«
Er sprach leise, doch sein Tonfall jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Trotzdem hielt sie seinem Blick weiter stand.
»Ich habe dich damals aus dem Dreck gezogen. Was glaubst du, wie es dir jetzt ginge, in Rumänien? Wie, denkst du, hättest du dort dein Geld verdient? – Ich habe dich gerettet, Corina. Wenn schon keine Liebe, kann ich zumindest Dankbarkeit und Loyalität erwarten.«
»Wer hat hier wen gerettet?«
Die Worte, die schon so lange in ihrem Kopf waren, lösten sich plötzlich ganz von selbst von ihren Lippen. Roberts Gesicht verzog sich zu einer hässlichen Fratze, und er hob die Hand. Bruchteile von Sekunden lang glaubte sie, er würde zuschlagen. Unwillkürlich zuckte sie zurück. Doch er ließ seine Hand wieder sinken, drehte sich von ihr weg.
Mit klopfendem Herzen verließ sie das Zimmer. Lediglich ihr Wille, sich die Furcht vor ihm und seinen Ausbrüchen nicht anmerken zu lassen, hielt sie davon ab, nicht zu hasten.
»Ich warne dich!« Seine Stimme schallte hinter ihr durch das Treppenhaus. »Wenn du meine Karriere gefährdest, dann …«
Er brach ab. Sie hatte die unterste Treppenstufe erreicht. Seine Worte brachten sie dazu, kurz innezuhalten.
»Dann?«, rief sie nach oben. »Was dann, Robert? Mit was willst du mir drohen? Mit Scheidung?«
Mitten im Wahlkampf um das Amt des Gouverneurs war das ein denkbar unmögliches Szenario. Und das wusste sie.
*
Ich habe dich damals aus dem Dreck gezogen.
Roberts Worte hallten als Echo in Corinas Kopf wider, während sie in der ledernen Brieftasche ihres Mannes nach dessen Kreditkarte suchte.
Im Alter von nur neunzehn Jahren hatte sie eine Entscheidung getroffen, die sich wie eine dichte Decke über ihr ganzes Leben gelegt hatte. Anfangs hatte sie sich unter dieser Decke beschützt gefühlt und nach all den Jahren der Kälte die Wärme darunter genossen. Objektiv betrachtet, fehlte es darunter noch immer an nichts. Die Antwort auf Roberts hämische Frage, wie es ihr denn wohl ginge in Rumänien, war für sie so klar wie für ihn. Ihre Zukunft dort hatte am Ende unter keinem guten Stern gestanden.
Trotzdem: Seine Aussage, er hätte sie gerettet, war völlig überzogen. Wenn jemand sie vor einem eventuellen Untergang bewahrt hatte, dann wohl Robert Savage senior, ihr Schwiegervater. Zusätzlich war die Rettung, von der Robert sprach, auch nicht umsonst gewesen. Sie hatte ihren Beitrag geleistet. Geschäft und Gegengeschäft.
Je länger ihre Ehe allerdings andauerte, desto größer wurden ihre Zweifel, ob sie bei diesem Deal nicht den Kürzeren gezogen hatte. Während für die Savages alles erledigt schien, zahlte sie noch immer den Preis dafür, dass sie alles verraten hatte, was ihr einmal wichtig gewesen war.
Wie, denkst du, hättest du dort dein Geld verdient?
Natürlich war klar, was Robert damit andeuten wollte. Ihre nicht allzu erfolgreichen Versuche, als Model Fuß zu fassen, und eine Agentur, die sich als nicht ganz so seriös herausstellte, ergaben die klassische Basis für einen Weg, den ein paar ihrer Landsmänninnen gegangen waren und auch heute noch gingen. Während Corina jetzt den Inhalt der Brieftasche auf den Tisch kippte, weil sie die Karte noch immer nicht entdeckt hatte, wurde ihr bewusst, dass sie Roberts Andeutung nicht einmal sonderlich verletzte – möglicherweise, weil sie schon zu viele Beleidigungen von seiner Seite über sich ergehen lassen musste.
Ein paar Centmünzen, die Autopapiere, die Tankkarte, zwei Kundenkarten von einem Bekleidungsgeschäft und vom Supermarkt ums Eck, die Code-Karte zum Yachthafen, wo ihr Segelboot lag, ein zusammengefalteter Zettel und ein Kondom – die Ausbeute der Brieftasche. Corina interessierte sich mehr für den Zettel als für die Tatsache, dass ihr Mann ein Kondom mit sich herumtrug. Letzteres bot keine Überraschung mehr, nachdem sie vor vier Wochen zufällig auf Roberts Kreditkartenabrechnung gestoßen war. Die Hotels, in denen er in den vergangenen Wochen angeblich auf Wahlkampftour abgestiegen war, lagen in Skigebieten oder waren bekannt für ihren ausgedehnten Spa-Bereich.
Bei dem Zettel handelte es sich um einen Beleg für einen Geldtransfer. Als sie die Summe sah, musste sie unwillkürlich schlucken. Zehntausend US-Dollar. Der Name des Empfängers sagte ihr gar nichts. Vermutlich war es der einer Firma. Dass diese Firma in Bulgarien saß, irritierte Corina ebenso wie das Datum und der Ort, von dem aus der Transfer angeblich veranlasst wurde. Der Beleg konnte unmöglich von ihrem Mann stammen. Warum aber trug er ihn mit sich herum?
»Darf ich fragen, warum du in meinen Privatsachen herumschnüffelst?«
Robert war unbemerkt hinter sie getreten.
»Darf ich fragen, warum du meine Kreditkarte auf tausend Dollar limitiert hast?«
Sie imitierte seinen pikierten Tonfall perfekt. Seine Stirnfalten vertieften sich.
»Sind tausend Dollar in der Woche etwa zu wenig, Darling? Das tut mir leid. Dann wirst du eben deinen lieben Mann um Geld bitten und ihm erklären müssen, weshalb du plötzlich mehr brauchst.«
Seine Stimme triefte vor Süffisanz.
»Aber gerne doch.« Sie schlug die Beine übereinander, gab sich souverän. »Ich will zu Anis Beerdigung fliegen. Sie findet am Montag statt. Kurzfristige Flüge sind teuer.«
Sie sah nicht ein, weshalb sie hierfür auf ihr mühsam Erspartes zurückgreifen sollte.
»Du bist doch verrückt.« Er schüttelte ungläubig den Kopf. »Du willst dafür extra nach Europa fliegen? Ihr hattet seit Jahren keinen Kontakt mehr, was soll diese jähe Gefühlsduselei?«
»Ich will dorthin«, wiederholte Corina mit festem Blick. »Es ist für mich wichtig. Als Abschluss.«
Das war eine Lüge. Gewiss schloss sie nichts ab, indem sie Zeugin von Anis Beerdigung wurde. Dazu brauchte es mehr als die Trauerrede eines Geistlichen, der von nichts wusste und Ani sicherlich kaum gekannt hatte. Was sie sich erhoffte, war Klarheit zu gewinnen und mit der Vergangenheit aufzuräumen. Das war sie sowohl Ani schuldig als auch sich selbst.
»Plötzlich? – Wie edel.« Er hatte zu seinem Sarkasmus zurückgefunden. »Und wie lange gedenkst du wegzubleiben, mitten im Wahlkampf?«
»Ein paar Tage. Wenn ich schon in Europa bin, möchte ich auch meine Mutter treffen … und einiges bereinigen.«
»Wie rührend. Du offenbarst ganz neue Seiten.«
»Gib mir deine Kreditkarte, damit ich den Flug buchen kann.«
Corina hatte keine Lust mehr auf diesen Dialog.
»Ich denke nicht daran.«
»Gut, Robert.« Sie stand auf. »Kein Problem. Dann bitte ich ganz einfach meine neue beste Freundin Catherine Bennett Bishop darum. Ich bin sicher, sie wird mir das Geld anstandslos auslegen, sich aber gleichzeitig fragen, warum der Gouverneuranwärter seiner Ehefrau den Besuch am Grab ihrer Jugendfreundin verweigert. Ich glaube nicht, dass sie das für sich behalten wird.«
Einen Moment lang schien er mit sich zu ringen. Während sie nach außen um Gleichgültigkeit bemüht war, raste Corinas Herz. Sie wusste selbst nicht genau, woher diese plötzliche Stärke kam.
Als er ihr schließlich die Karte gab, fühlte sie sich wie im Rauschzustand. Sie hatte einen Sieg errungen. Ihr Kampfgeist und ihre Raffinesse waren in den Jahren ihrer Ehe nur heruntergebrannt, erloschen waren sie nie. Das machte ihr Mut.
Während sie den Flug nach München buchte, beschloss sie endgültig, dass sie etwas ändern würde. Sie war vierunddreißig, eine junge Frau. Manche begannen in diesem Alter eine Ausbildung. Andere heirateten, bekamen ihr erstes Kind. Sie war ihre ganze Jugend lang in Ausbildung gewesen, und ein Kind hatte sie auch schon.
Es war Zeit für einen neuen Lebensabschnitt. Zeit, wieder die Zügel in die Hand zu nehmen. In die Situation, Robert um Geld anbetteln zu müssen, wollte sie nie wieder kommen.