Wien, 3. Bezirk

Andi Knott saß auf seinem Ledersofa und starrte ins Leere, während er die Glieder der Medaillonkette durch seine Finger gleiten ließ. Fast eine Woche war inzwischen vergangen, doch das Geräusch des Aufpralls, das Blut auf seiner Kühlerhaube, der grotesk verrenkte Hals der Toten – sobald Andi die Augen schloss, war die Erinnerung wieder da und brachte ihn um den Schlaf. Das Osterwochenende hatte er wie im Delirium erlebt – oder besser: überlebt. Am Ostersonntag, während die Kinder bei seiner Ex-Frau Schokoladeneier suchten, war er nur im Polstersessel gesessen und immer wieder in Tränen ausgebrochen. Die Kinder hatte sein Weinen so verstört, dass seine Ex ihn schließlich gebeten hatte, zu gehen. Ein befreundeter ehemaliger Kollege versorgte ihn mit dem Schlafmittel, das sein jetziger Arbeitgeber vertrieb. Schlaf fand er noch immer nicht wirklich, aber das Medikament machte ihn so schlapp und antriebslos, dass er das Bett zwei Tage lang nicht verlassen konnte. Der Hausarzt hatte ihn krankgeschrieben, vorläufig für zwei Wochen. Sein Chef reagierte sehr verständnisvoll.

Und denken Sie daran, Herr Knott: Es war nicht Ihre Schuld!

Doch was wäre, wenn er schneller reagiert hätte? Wenn er nicht über sich selbst nachgedacht, sondern das Auto nach links ausscheren hätte lassen? – Vielleicht wäre sie noch am Leben.

Zum wiederholten Male klappte er das Medaillon auf und betrachtete das Foto des kleinen blonden Jungen. Er wusste inzwischen, dass das Kind vier Jahre alt war. Das hatte in der Zeitung gestanden.

Die ehemalige Turn-Größe hinterlässt einen Ehemann und einen Sohn (4).

Aus diesem Artikel hatte er auch erfahren, dass sie Anima Menzinger, ehemals Nicolescu hieß und eine berühmte Turnerin gewesen war, bei Olympia 2000 sogar Gold geholt hatte. Auf YouTube gab es unzählige Videoclips von internationalen Sportwettkämpfen, die Anima Nicolescu zu ihrer aktiven Zeit zeigten, auch ihren Olympia-Auftritt am Stufenbarren. Knapp sechzehn Jahre alt war sie da gewesen, das überraschte ihn. Dieses kleine, dünne Geschöpf sah aus wie eine Zwölfjährige.

Einmal allerdings wurde ihr Gesicht in Großaufnahme gezeigt. Ein ernstes Gesicht, ohne Lächeln. Einen Moment lang sah sie aus wie mindestens vierzig.

Das Gesicht ohne Lächeln ließ Andi nicht mehr los. Auf seltsame Weise fühlte er sich der Toten verbunden. Irgendwann hatte sich das Unglücklichsein auch in ihr Leben geschlichen. Das hatten sie gemeinsam. Allerdings war dies bei ihr offenbar zu einem früheren Zeitpunkt passiert als bei ihm.

Grübelnd begann er, nach weiteren Videoclips zu suchen und wurde bald fündig. 1998 hatte Anima bei der Europameisterschaft in Amsterdam Gold gewonnen. Sie stand auf dem Podest, die Goldmedaille glänzte an ihrem Hals, sie strahlte. Ihr überglückliches Lächeln galt jedoch nicht der Kamera, sondern der Teamkollegin neben ihr, die Silber geholt hatte, Natalia Theodo­rescu. Es war für die Rumäninnen offensichtlich ein erfolgreicher Wettkampf gewesen.

Hatte dieser Trainer dafür gesorgt, dass Anima ihr sonniges Lächeln verlor? – Er hatte über die Missbrauchsvorwürfe gelesen. Was für ein Schwein. Auch wenn er von Lynchjustiz nichts hielt, konnte er in diesem Fall ein bisschen nachvollziehen, dass sie sich rächte. Was er nicht verstand: dass sie nicht an ihr Kind gedacht hatte. Jetzt war der Sohn Halbwaise. Und angesichts dessen, dass sie sein Foto in ihrem Medaillon trug, musste sie ihn doch sehr geliebt haben.

Mit dem Finger strich er über das Gesicht des Jungen, fast so, als würde er ihn streicheln. Er hatte dies in den letzten Tagen oft getan, wusste selbst nicht, warum. Diesmal lockerte sich das Foto und fiel aus der Verankerung.

Beim Versuch, es wieder in den Rahmen zu stecken, entdeckte er die in das Schmuckstück gravierte Inschrift.

Iubire eterna. A & L.

Neugierig tippte er die Worte in ein Online-Wörterbuch Rumänisch-Deutsch ein, das die Übersetzung lieferte. In ewiger Liebe.

Andi wurde ganz eng um den Hals. Gleichzeitig kehrten seine Lebensgeister zurück.

Es war falsch gewesen, dieses Medaillon an sich zu nehmen. Er wusste noch immer nicht, was ihn überhaupt dazu bewogen hatte. Es war für die Besitzerin wertvoll gewesen. Ein Symbol tiefer, ewiger Liebe: das Foto ihres Sohnes über dem Liebesschwur, der sie und ihren Mann verband. Er musste dieses Medaillon demjenigen zurückbringen, dem es zustand.

Irgendwo hatte gestanden, dass Anima in Oberbayern zu Hause gewesen war. Er fand den Artikel im Internet wieder. Auch der Ort war erwähnt. Nach kurzer Recherche stieß er auf die Bekanntmachungen der Pfarre.

Am Montag, 14.00 Uhr, würde Anima Menzinger am Ortsfriedhof beigesetzt werden.