Wien, Am Spittelberg
»Oh … Sie … H…hallo.«
Natalia Theodorescu wirkte mindestens genauso überrascht wie sie selbst. Eine zarte Röte überzog die Wangen der jungen Frau, als ihr Blick automatisch auf Julias fast nackten Oberkörper fiel.
»So schnell sieht man sich wieder.«
Julia fand zur Sprache zurück, doch das, was sie eigentlich sagen sollte, brachte sie nicht über die Lippen. Stattdessen grinste sie Natalia Theodorescu nur breit an, ohne recht zu wissen, weshalb. Gleichzeitig mahnte sie ihr Gewissen. Es war Zeit für eine Klarstellung. Lektorin für Krimis. Milieustudien.
Verdammt!
»Möchten Sie sich nicht … anziehen?« Natalia streckte ihr eine Weste entgegen – einen Blauton dunkler, mit weißen Stickornamenten. Das Kleidungsstück wirkte kostbar und edel. Julia war klar, dass es für sie nicht in Frage kam. Genauso wenig wie die Bluse und vermutlich auch die schöne, angenehme taubenblaue Hose, in der sie steckte.
»Ja, das hatte ich vor«, sagte sie und nahm die Weste dennoch entgegen. Natalia zog artig den Vorhang vor.
Die Bluse schmeichelte ähnlich auf der Haut wie die Hose. Nur das Preisschild – handgeschrieben auf weißem Karton – kratzte an der Seite. Als Julia einen Blick darauf warf, wurde ihr fast schlecht. Wenn die Bluse schon so teuer war, was kostete dann die Hose?
In einem Anflug von Trotz zog sie die Weste über, die ihrer Taille wie ein Mieder Form gab, und betrachtete sich im Spiegel. Keine Frage, das Outfit war der Wahnsinn. In ihrem ganzen Leben war sie noch nie so gut und zugleich extravagant gekleidet gewesen.
»Darf ich einen Blick werfen?«, erklang Natalias Stimme von draußen, und Julia erinnerte sich an die Talkshow. Damals hatten einige von Natalias Formulierungen ähnlich antiquiert und ungelenk geklungen.
Ich muss ihr sagen, wer ich bin und was ich von ihr will.
Entschlossen trat Julia aus der Kabine.
Ihr Vorsatz erstarb in dem Augenblick, als Natalia mit ehrlicher Begeisterung ausrief: »Sie sehen phantastisch aus!«
Ehe Julia ihr Veto einlegen konnte, ging sie vor ihr in die Knie und begann den Saum der Hosenbeine nach innen zu schlagen.
»Ein paar Zentimeter kürzer …«
»Ähm … nein, stopp.« Julia trat einen Schritt zurück. Natalia, noch in der Hocke, sah sie verwundert an.
»Tut mir leid. Ich kann mir das nicht leisten. Ich hätte die Sachen gar nicht erst anprobieren dürfen.«
Natalia richtete sich auf. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen.
»Aber Sie sind hergekommen. Mein Missgeschick von vorher hat Sie zu mir geführt.«
»Ja, nur …« Eigentlich hat mich in erster Linie etwas anderes hierhergeführt.
»Ich habe Ihre Hose ruiniert, schon vergessen? Ich mache Ihnen einen Freundschaftspreis.«
»Nein, ich … wirklich nicht.« Julia machte eine abwehrende Handbewegung. Als sie Natalias enttäuschtes Gesicht sah, fügte sie hastig hinzu: »Wenn Sie mir einen Freundschaftspreis machen wollen, dann für die dunkle Hose, die ich noch in der Kabine habe. Falls sie mir passt. Ich brauche etwas Zweckmäßiges.«
Und in erster Linie bräuchte ich den Mut, mich endlich als Journalistin zu outen.
Zurück in der Kabine, tauschte sie die Hosen. Der gerade Schnitt saß, fiel aber optisch ab gegen das erste Stück. Trotzdem, ihre Ratio siegte, musste siegen.
»Also, die passt. – Wie viel Rabatt würden Sie mir denn gewähren, und was muss ich dafür tun?«
Natalia blinzelte irritiert.
Anscheinend war sie mit dem Flirten wirklich aus der Übung. Oder sie hatte Natalias Blicke schlicht fehlgedeutet.
»Hier sind auch die Hosenbeine zu lang. Ich muss das abstecken.«
Natalia wollte schon aufs Knie sinken, doch Julia griff sanft nach ihrem Arm. Die Muskeln, die sie unter dem Pullover fühlte, riefen ihr erneut in Erinnerung, wen sie hier vor sich hatte. Die aktive Zeit als Turnerin war lange her, aber muskulös war diese Frau noch immer.
Natalias große, dunkle Augen blickten sie fragend an. Wieder fühlte Julia dieses berauschende Gefühl. Dann kribbelte es in ihrer Nase. Eine heftige Niesattacke zerstörte den Zauber des Augenblicks. Zum zweiten Mal an diesem Tag war es Natalia, die ihr ein Taschentuch reichte.
»Bitte entschuldigen Sie, ich bin …«
»Sie gehören ins Bett.«
»Ja, aber …«
»Jetzt halten Sie still, sonst kann ich die Hose nicht abstecken.«
»Ja, aber …«
Natalia blickte mit gespielter Strenge zu ihr hoch und brachte ihren Protest zum Verstummen.
»Darf ich etwas sagen?«, erkundigte sich Julia schmunzelnd, als die Länge fixiert war.
»Nur, wenn es etwas Gescheites ist.« Natalias verschmitztes Lächeln war zurück.
»Und wer beurteilt das? Du etwa?« Angesichts des Dialogs, den sie hier führten, konnte Julia ihr Gegenüber nicht länger siezen.
»Natürlich ich, wer sonst? Misstraust du etwa meinem Urteilsvermögen?« In Natalias Augen tanzten Funken.
»Nein, aber …«
»Gut, dann sag schon. Ich höre.«
Jetzt. Sag ihr, wer du bist und was du willst.
Die Worte wollten einfach nicht kommen.
»Ich brauche die Hose sofort«, sagte Julia stattdessen. »Weil meine nass und fleckig ist. Und ich habe noch Termine.«
»Gut. Und was spricht dagegen, dass du sie sofort bekommst?«
»Die Stecknadeln, die du gerade versenkt hast?«
»Komm.« Natalia griff nach ihrer Hand, und das Kribbeln war wieder da. Willenlos ließ sich Julia ins angrenzende Zimmer ziehen. Dieser Bereich war um die Hälfte kleiner als der Verkaufsraum und in einem angenehmen Gelbton gestrichen. An einer der Wände stand eine schwarz-weiß gestreifte Couch, davor ein kleiner Tisch aus Kiefernholz. Nähmaschinengeratter erklang. Die elegante Frau, die sich vorhin um sie gekümmert hatte, zog gerade einen rosafarbenen Stoff unter dem Nähfuß hindurch.
Beim Eintreten ließ Natalia Julias Hand los. Das Geratter verstummte.
»Ich sehe, Sie haben gefunden, wonach Sie suchten.«
Die Frau erhob sich und schenkte ihr ein Lächeln. Für Julia hatten ihre Worte etwas Doppeldeutiges.
»Lia, für heute ist für mich Schluss.« Die Frau wandte sich an Natalia. »Ich gehe dann rüber.«
»Ist gut, Rita.«
Die beiden umarmten sich zum Abschied. Natalia drückte ihrer Kollegin einen Kuss auf die Wange. Die beiden schienen ein enges Verhältnis zu pflegen …
»So.« Natalia wirkte entschlossen, als sie allein waren. »Dann zieh dich jetzt bitte aus.«
Julia spürte, wie ihr das Blut in den Kopf schoss.
»Die Hose«, ergänzte Natalia. »Ich hole dir eine Decke und etwas Warmes zum Trinken.«
Zehn Minuten später saß Julia auf dem Sofa, in eine Wolldecke gewickelt, und nippte an einer Tasse mit Kräutertee. Ihre Scham war noch nicht verflogen. Zum unbefangenen Geplänkel hatte sie nicht zurückgefunden. Dass die Nähmaschine, an der Natalia nun ihre Hosenbeine kürzte, so laut ratterte, erleichterte sie daher.
Julia ließ den Blick durch das Zimmer gleiten. Auf einem Tisch in der Ecke lagen Stoffe in verschiedenen Pink- und Rosétönen, daneben ein Packen Schnittmusterbogen und Schneiderkreide. Um den Hals einer blanken Schneiderpuppe hing ein Maßband. An einem der gerahmten, großflächigen Fotos an der Wand blieb Julias Blick hängen. Es zeigte eine große, schlanke Frau, vermutlich ein Model, in einer Hose, die der taubenblauen glich. Die Hose des Models war jedoch mintgrün. Auf dem Bild daneben stolzierte dasselbe Model in einem tailliert geschnittenen, pastellgrünen Gehrock einen Laufsteg entlang.
Das Rattern der Nähmaschine verstummte für einen Moment. Julia nutzte die kleine Pause für die Frage, die sie beschäftigte, seit sie Natalias Namen auf der Website entdeckt hatte.
»Ist das eigentlich dein Laden?«
»Noch ist es Ritas.«
»Hast du eine Schneiderlehre gemacht, oder wie bist du dazu gekommen, hier mitzuarbeiten?«
»Ich habe die Modeschule in Hetzendorf besucht. Rita war eine externe Lehrbeauftragte. Wir haben uns gut verstanden, und als sie mir anbot, hier einzusteigen, habe ich Ja gesagt.«
Natalia fädelte geschickt einen neuen Faden ein.
»Und diese Kleidungsstücke.« Julia machte eine vage Geste in Richtung der Bilder. »Entwirfst du die oder Rita?«
»Ich. Früher war das hier nur eine hochwertige Maßschneiderei. Jetzt bieten wir auch eine eigene Kollektion.«
Natalia sprach, als handle es sich um nichts Besonderes, doch ihre Augen verrieten sie. Ihr war offensichtlich bewusst, dass sie Julias Bewunderung auf sich zog.
»Bist du mit deinen Stücken auch auf Modeschauen?«
»In der Regel nicht. Das auf dem Foto war eine Ausnahme. Jede Saison hat eine eigene Farbe. Die Herbst-Winter-Kollektion in diesem Jahr war blau, Frühling und Sommer schimmern in Rosa-Nuancen.« Natalia lächelte. »Ein Hotelmagazin hat neulich über meine Modelinie und das Atelier berichtet. Seither kommen ein paar Kundinnen mehr. Grundsätzlich muss ich am Marketing aber noch arbeiten.«
»Wolltest du schon immer Modedesignerin werden?«
Wieder schickte ihr die Frau an der Nähmaschine ein Lächeln.
»Und du? Wann wusstest du, dass du Lektorin werden willst?«
Wenn ich es doch wäre … Julia unterdrückte ein Seufzen.
»Das hat sich so ergeben«, sagte sie, und zumindest das entsprach der Wahrheit, wenn sie sich ihren wirklichen Job vor Augen führte. »Ich bin technisch unbegabt, naturwissenschaftlich und handwerklich eine Niete, da blieb nicht viel übrig.«
»Siehst du, bei mir war es ganz ähnlich.«
Die Nähmaschine begann wieder zu rattern, und Julia überlegte fieberhaft, wie sie das Gespräch in eine Bahn lenken konnte, die sie ihrem eigentlichen Ziel näher brachte. Vielleicht musste sie sich ja gar nicht als Journalistin zu erkennen geben?
Schließlich sah ihr Natalia dabei zu, wie sie die gekürzte Hose anzog, und Julia war froh, sich an diesem Morgen für einen blauen Slip mit Spitze entschieden zu haben. Während sie weiter miteinander redeten, sah Julia relativ bald ein, dass sie mit ihrem Plan nicht vorankam. Erstens wich Natalia allen Fragen, die nur im Entferntesten auf Vergangenes abzielten, geschickt aus. Zweitens stießen sie im Laufe ihrer Unterhaltung auf viele Gemeinsamkeiten, die das Gespräch in andere Richtungen lenkten: Sie hörten beide gern klassische Musik und Jazz, hatten ein Faible für internationale Küche und begeisterten sich für Ausstellungen zeitgenössischer Kunst. Der Gesprächsstoff wollte nicht ausgehen. Gleichzeitig baute sich ein Gefühl tiefer Verbundenheit auf, das ihr auch etwas Angst machte. Sie kannte diese Frau erst seit wenigen Stunden. Wie war es möglich, dass sie sich so zu ihr hingezogen fühlte?
Ein paar Mal war sie versucht, sie zu küssen. Allerdings wurde der Schnupfen im Laufe des Nachmittags immer heftiger.
»Du solltest nach Hause fahren und dich ins Bett legen.«
»Nichts lieber als das.« Julia schniefte in ihr Taschentuch. »Aber eine zehnstündige Zugfahrt wäre jetzt mein Untergang.«
»Bist du hier nicht in einem Hotel?«
»Ja, in einer Pension am Gürtel, über einem Erotikshop. Dahin werde ich mich jetzt verkrümeln und hoffen, dass es mir morgen besser geht.« Sie ließ sich von Natalia in den Mantel helfen. »Es … es tut mir leid. Ich … würde dich gern zum Essen einladen, aber …« Wie auf ein Stichwort ereilte sie eine neuerliche Niesattacke.
Als sie wieder aus dem Taschentuch auftauchte, berührte Natalia sanft ihre Schulter.
»Komm morgen am späten Nachmittag vorbei. Bis dahin habe ich deine andere Hose gewaschen.«
»Das ist wirklich nicht nötig, ich nehme sie so mit.«
»Willst du nicht vorbeikommen?«
Natalias intensiver Blick ruhte auf ihr und berührte sie wie ein wortloses, stilles Versprechen.