Wien, Landeskriminalamt
»Ich verstehe gar nicht, warum der Brennpunkt eine so große Sache daraus macht.« Patrick Pachner, der polizeiliche Pressesprecher, lümmelte hinter seinem Schreibtisch und machte aus seiner Verwunderung keinen Hehl. Immerhin hatte er Julia auch ohne Termin ganz spontan empfangen und ihr sogleich Kaffee angeboten. Er war nur ein paar Jahre älter als sie und gab sich locker und auskunftsfreudig, was ihr sehr entgegenkam. »Und ich weiß eigentlich auch gar nicht, wie ich Ihnen da noch weiterhelfen kann. Alles, was wir wissen, wurde bei der Pressekonferenz gesagt.«
Julia sah das anders.
»Auf der Pressekonferenz hieß es, Anima Menzinger sei nach der Tat ziellos herumgefahren. Aber mal ehrlich: Finden Sie das nicht seltsam? Ich meine, die Frau war doch keine kaltblütige Killerin! War sie nach einem Mord überhaupt noch in der Lage, Auto zu fahren?«
Sie lehnte sich leicht nach vorne und sah Pachner, der ihre Einwände mit ratlosem Gesichtsausdruck zur Kenntnis genommen hatte, eindringlich an.
»Existieren fundierte Beweise dafür, dass sie in den rund zwölf Stunden zwischen dem Mord an Tabor und ihrem Sprung von der Brücke herumgefahren ist?«
»Natürlich gibt es dafür handfeste Anhaltspunkte.« Pachner klang selbstsicher, doch das Zucken seines Lids verriet, dass handfest wohl doch ein Begriff mit Interpretationsspielraum war. Er schlug die Akte auf, die neben seinem Computer auf dem ansonsten sehr kahlen Schreibtisch lag. »Wie gesagt: Ihr dunkelblauer VW Passat mit deutschem Kennzeichen wurde vor Tabors Haus gesichtet; beim Wegfahren hat sie ein Halteverbotsschild gerammt. Eine knappe dreiviertel Stunde später stand der Wagen vor einem Wirtshaus bei Sankt Christophen. Und dann wurde er kurz vor dem Selbstmord wieder bei Neulengbach gesehen. Das alles belegen auch ihre Handydaten.«
»Ach ja? Von Sankt Christophen höre ich zum ersten Mal!«
»Kein Wunder, Sie sind ja nicht von hier.« Pachner grinste. »Sankt Christophen ist ein Ort an der Westautobahn, nicht weit entfernt von Neulengbach.«
Julia runzelte die Stirn. Statt für Klarheit, sorgte Pachner dafür, dass sich ihr noch mehr Fragen aufdrängten.
»Wie darf ich mir das vorstellen? – Die Frau bringt Tabor um und fährt in diesen Ort. Und was soll sie da gemacht haben? Sich ins Dorfwirtshaus gesetzt und ein Bierchen getrunken? Gibt es dafür Zeugen?«
Pachner seufzte müde.
»Ach, Frau Resnitz! Jetzt echauffieren Sie sich doch nicht so! Ihr Eifer in allen Ehren, aber da ist wirklich nichts zu holen! Die Nicolescu war unter Schock, und wir vermuten, dass sie in ihrem Zustand instinktiv in Richtung Westen gefahren ist. Ich bin kein Psychologe, aber möglicherweise wollte sie einfach nach Hause, also zurück nach Berchtesgaden. Auf der Autobahn, war sie dann nicht mehr in der Lage, den Weg fortzusetzen, und ist eben abgefahren. Wer weiß, was in all den Stunden in ihr vorgegangen ist … sie war ja schon vor dem Mord psychisch nicht so auf dem Damm. Und ein Bierchen konnte sie in diesem Wirtshaus gar nicht trinken. Das hat seit Ewigkeiten geschlossen.«
»Dann saß sie also in ihrem Auto vor diesem Wirtshaus, Stunde für Stunde, bis sie zu dem Entschluss kam, sich von der nächstbesten Autobahnbrücke zu stürzen?« Julia konnte sich gegen den Sarkasmus, der sich unweigerlich in ihre Stimme schlich, kaum wehren. Auch wenn die Polizei aufgrund der GPS-Daten von Animas Mobiltelefon ihren Weg nachvollziehen mochte, fehlte ihr insgesamt die Plausibilität.
»Die Handlungsweisen von Selbstmördern sind nicht immer logisch und nachvollziehbar.« Pachner schlug die Akte zu. »Wirklich, Frau Resnitz, ich will Ihnen ja helfen. Ich kann mich gut in Sie hineinversetzen, schließlich habe ich ein paar Tage beim U-Bahn-Express hospitieren dürfen! Sich eine Geschichte aus den Fingern saugen zu müssen, wo einfach keine ist, erzeugt mächtig Druck.«
Er lehnte sich nach vorn.
»Wenn ich Ihnen einen kollegialen Tipp geben darf: Stürzen Sie sich auf Tabor! Machen Sie ihn zum Ankerpunkt Ihrer Geschichte. Eine saubere Weste hatte der bekanntlich nicht!« Er erhob sich. »Wenn Sie kurz warten, kann ich Ihnen eventuell sogar etwas bieten, was Ihnen da weiterhelfen könnte!«
Er verschwand im Nebenzimmer und zog die Tür hinter sich zu. Julia vernahm das Gemurmel von Männerstimmen.
Wieder spürte sie Wut in sich aufsteigen. Erst Egles Arroganz. Nun Pachners Anmaßung. Dass der ehemalige Hospitant eines drittklassigen Boulevardblatts ihr erklären wollte, wie sie zu berichten hatte, übertraf alles! Mansplaining pur: unnötige Belehrungen, gepaart mit Überheblichkeit. Männer, die einer Frau die Welt erklären. Nur, weil sie es gut mit ihr meinen. Nicht, um sich ihr gegenüber zu erhöhen. Nein, natürlich nicht!
Das Bedürfnis, Egle, Pachner und alle weiteren Kerle, mit denen sie in den vergangenen Tagen konfrontiert gewesen war, mit einer glanzvollen, preisverdächtigen Reportage zu schlagen, war übermächtig.
Ihr Blick fiel auf die Mappe. Der Name der ehemaligen Turnerin und eine mehrstellige Aktennummer zierten das Deckblatt.
Unsicher sah Julia zur Tür. Das Gemurmel, unterbrochen vom kurzen Gelächter, hielt an. Schnell schlug sie die Akte auf. Ihre Augen überflogen die Seiten – das Protokoll einer Tat und eines Selbstmords.
Nicht einmal als sachlicher, schriftlicher Bericht klang das, was sich in jener Nacht ereignet haben sollte, plausibel. Allem Anschein nach hatte der zuständige Hauptermittler einfach keine Lust, sich näher mit dem Fall zu befassen. Die stetige Betonung, dass es sich um zwei ehemals rumänische Staatsbürger handelte, stach Julia dabei besonders ins Auge. Es klang für sie ganz nach: Was geht uns das schon an?
An einem Absatz weiter unten blieb ihr Blick hängen. Hier wurde dezidiert beschrieben, was der Gerichtsmediziner an Animas Leiche festgestellt hatte. Neben unzähligen Knochenbrüchen und eindeutig durch den Aufprall verursachten Deformationen: Durch Druck verursachtes Hämatom am Hals. Zum Todeszeitpunkt ca. zwölf bis fünfzehn Stunden alt.
Zirkuläre Hautrötung und -abschürfung in Höhe der Hand- und Fußgelenke. (Sexuelle Spielart?)
Hatte Animas Mann sie etwa in Fesseln gelegt, Stunden vor ihrem Tod? Vielleicht aber war ihr erst durch Tabor Übles widerfahren. Konnte es sein, dass er sie überwältigt und gefesselt hatte, um …?
Ja, warum?
Um sie zu vergewaltigen? – Davon, dass sie vor ihrem Tode vergewaltigt worden war, stand hier nichts. Aber war es denn überhaupt untersucht worden?
Im selben Augenblick öffnete sich die Türe zum Nebenzimmer. Gerade noch konnte sie die Mappe zuklappen und sich zurücklehnen.