Wien, Am Spittelberg
Etwas hatte sich verändert.
Das bemerkte Julia beim Eintritt in die Schneiderei gleich, konnte es aber nicht sofort benennen. Erst als sie Rita hinter der Verkaufstheke mit der altmodischen Registrierkasse entdeckte, wusste sie: Es fehlte die Wärme.
»Hier. Ich habe Ihnen Ihre gereinigte Hose schon verpackt.«
Rita reichte ihr ein verschlossenes Papiersäckchen, das Julia unschlüssig entgegennahm. Suchend ließ sie ihren Blick durch den Laden wandern.
»Nun ist wohl nichts mehr offen.« Rita ging um die Verkaufstheke herum und öffnete ihr mit frostigem Lächeln die Türe. »Einen schönen Tag noch und auf Wiedersehen.«
Julia rührte sich nicht von der Stelle. Kalte Luft drang herein und ließ die Raumtemperatur noch weiter absacken.
Komm morgen am späten Nachmittag vorbei.
Hatte sie irgendetwas falsch verstanden?
»Ist Natalia nicht hier? Ich wollte noch mit ihr reden.«
»Ich glaube nicht, dass Sie mit Ihnen reden will.«
»Aber … wieso?«
»Das fragst du?« Natalia kam vom Nachbarzimmer in den Laden. Sie klatschte eine aufgeschlagene Zeitung auf den Tisch. Es war jene Ausgabe der Kronenzeitung, die am Tag nach der Pressekonferenz im Landeskriminalamt erschienen war – mit dem Zweispalter über Arian Tabors gewaltvollen Tod und einem Foto. Julia hatte nicht bemerkt, dass sie im Bild gewesen war, als der Fotograf abdrückte.
»Lektorin! Eine bessere Lüge ist dir wohl nicht eingefallen! Wann hast du es mir sagen wollen? Oder wolltest du mich einfach nur aushorchen für einen schmutzigen Artikel?«
Natalia klang zornig, doch Julia hörte die Verletzung in ihrer Stimme. Sie hatte das Gefühl, dass sich die Erde unter ihr auftat.
»Nein, ich –«, begann sie, doch Natalia fiel ihr ins Wort.
»Ich will über diese Sache nicht mehr sprechen! Und ich will nichts mit Journalisten zu tun haben. – Geh jetzt. Ich will dich nie wieder sehen.«
Rita hielt noch immer die Tür auf.
»Bitte, aber wir müssen reden!« Julia machte einen zögerlichen Schritt auf Natalia zu, die mit ihrem zusammengebundenen Haar diesmal streng und unnahbar wirkte. »Es sind Ungereimtheiten aufgetaucht … ich brauche deine Hilfe.«
»Hast du mich nicht verstanden?«
»Ich war bei Arian Tabors Exfrau. Sie hat eine ganze Kiste voller seltsamer Listen und Fotos, unter anderem von Corina Radu. Und sie hat einen Brief.« Einen kurzen Moment lang glaubte Julia Interesse in Natalias Augen zu bemerken. Sie schöpfte Hoffnung. »Hier.« Eilig zog sie ihr Smartphone aus der Tasche und rief das Foto auf, das Irma von einem Eck des Briefes geschossen hatte. »Bitte sieh dir das an. Den hat deine ehemalige Teamkollegin Corina Radu angeblich an Tabor geschickt, gemeinsam mit einem sehr lasziven Foto.«
Natalia warf einen kurzen Blick auf das Bild und zuckte mit der Achsel.
»Bedeutungslos.«
»Bedeutungslos? Das glaube ich nicht. Corina Radu hat immerhin behauptet, dass –«
»Ich weiß, was Corina behauptet hat.« Natalia schnitt ihr das Wort ab. »Aber das Thema ist für mich erledigt. Ich habe hier mein Leben. Die Vergangenheit interessiert mich nicht mehr.«
»Dass deine Teamkollegin Anima euren Trainer ermordet hat und dann Selbstmord beging, interessiert dich also nicht? Dass sie offenbar nie über das hinwegkam, was Tabor ihr angetan hat, ist dir egal?«
Als sie die Tränen sah, die Natalia in die Augen schossen, bereute sie ihre Worte sofort, doch Rita hatte den Part der Tröstenden bereits übernommen. Natalia ließ sich dankbar in ihre Arme fallen und weinte leise.
»Sehen Sie nicht, was Sie anrichten?« Rita sah sie böse an. »Gehen Sie endlich!«
»Natalia, lass uns bitte in Ruhe reden«, setzte Julia von neuem an. Je länger sie Natalias Verzweiflung mit ansah, desto unwichtiger wurde ihr der Artikel. »Ja, ich habe dich belogen, und du hast allen Grund, deshalb sauer zu sein. Aber als wir uns im Café begegneten, wusste ich nicht, wer du bist. Ich habe dich erst hier im Laden erkannt. Aber da war es schon zu spät. Ich habe mich nicht getraut, dir die Wahrheit zu sagen.«
Natalias zitternde Schultern zeugten davon, dass sie noch immer weinte. Sich vor Rita so weit aus dem Fenster zu lehnen, war Julia unangenehm, doch nun mussten die Worte raus.
»Wie häufig trifft man einen Menschen, mit dem man auf gleicher Wellenlänge liegt?« Präziser zu werden wagte sie nicht. Sie holte tief Luft, traf eine Entscheidung. »Von mir aus reden wir nie über diese Sache, wenn du nicht willst. Aber bitte verzeih mir diesen Fehler und lass uns nochmal von vorne beginnen. Gib uns eine Chance. Bitte.«
Langsam drehte sich Natalia nun um. Ihr Gesicht war tränenverschmiert, ihr Make-up verlaufen.
»Ich weiß nicht, wovon du sprichst.«