Wien, Pension am Gürtel

Die Luft war trocken und heiß. Die Nase lief entweder oder sie war verstopft. Die Augen tränten. Am schlimmsten jedoch waren die Gliederschmerzen und der stechende Kopfschmerz, der trotz zwei Schmerztabletten einfach nicht wegging.

Julia wälzte sich auf der durchgelegenen Matratze hin und her. Es war zwei Uhr früh. Neben den körperlichen Symptomen quälte sie auch der Gedanke an Natalia. Hatte sie sich die gegenseitige Sympathie wirklich nur eingebildet? War da vielleicht gar kein subtiler Flirt gewesen? Julia zweifelte inzwischen an ihrer eigenen Wahrnehmung.

Gleichzeitig versuchte sie, das Puzzle um den Mord an Tabor zusammenzusetzen.

Eine neue Theorie machte sich in ihrem Kopf breit: Was, wenn Anima gar nicht die Absicht gehabt hatte, Tabor zu töten? Was, wenn sie ihn nur hatte treffen wollen, um mit ihm zu reden, und die Diskussion vor Ort eskaliert war? Was, wenn Tabor sie überwältigt und gefesselt hattedazu würden auch die Hautabschürfungen an Hand- und Fußgelenke passen –, sie dann aber wieder freigegeben und Anima die Tat in Notwehr begangen hatte?

Auch Natalia hatte Gewalt durch Tabor erfahren. Der Gedanke daran ließ Julia nicht mehr los. Trotz Kopfweh quälte sie sich aus dem Bett und schaltete ihr Notebook ein.

Natalia Theodorescu.

Mit zusammengekniffenen Augen sah sie sich den Mitschnitt der Talkshow Zechhoff am Mittwoch vom März 2003 nochmals an. Unwillkürlich schenkte sie diesmal dem Moderator mehr Aufmerksamkeit. Zechhoff wirkte von Natalias Auftritt genauso überrascht wie alle anderen. Hatte er im Vorfeld nicht gewusst, was sie an die Öffentlichkeit bringen würde?

Es gab nur einen Weg, das herauszufinden: Sie musste mit ihm sprechen. Seine Kontaktdaten waren leichter zu finden als erwartet. Zechhoff, mittlerweile knapp sechzig, hatte sich aus dem aktiven Journalismus zurückgezogen und hielt inzwischen an einer kleinen bayerischen Universität Seminare für TV-Journalismus ab. Außerdem hatte er zwei Sachbücher über genau dieses Thema verfasst. Auf seiner Website bezeichnete er sich selbst als TV-Experte.

Julia schrieb ein Mail an die angegebene Adresse, stellte sich darin als Kollegin vom Brennpunkt vor und schilderte kurz ihr Anliegen. Insgeheim rechnete sie nicht mit einer schnellen Reaktion. Die Adresse klang so unpersönlich wie die Sammeladresse einer Werbeagentur. Wusste der Himmel, ob und wann ihr Mail an den ehemaligen Moderator weitergeleitet würde.

Als Julia sich wieder ins Bett legte, fühlte sie sich wie nach einer Bruchlandung. Ihre Stirn glühte; sie brauchte kein Thermometer, um zu wissen, dass sie Fieber hatte. Die Story, die Egle erwartete, konnte sie nicht liefern. Natalias Abfuhr quälte sie. Insgesamt fühlte sie sich sowohl beruflich als auch privat als Versagerin. Es hatte einfach alles keinen Sinn.