Wien, 3. Bezirk

Corina öffnete die Augen. Im Dämmerlicht, das durch die großzügigen Ritzen der Bambusrollläden fiel, erkannte sie einen weißen, zweitürigen Kleiderschrank und eine schmucklose Stehlampe.

Das leise Schnarchen neben ihr erinnerte sie daran, wo sie war: bei Andi. Dem Mann, dem Ani auf die Kühlerhaube gefallen war

Einem dringenden Bedürfnis folgend, verschwand sie ins Badezimmer. Auf dem Rückweg zum Bett nahm sie den Umweg über Wohnzimmer und Küche. Die Wohnung war nicht groß, vielleicht insgesamt fünfzig Quadratmeter. Im Wohnzimmer gab es außer einem Sofa einen Couchtisch aus heller Kiefer ein Bücherregal, in dem einige DVDs mit Action-Filmen neben ein paar dicken Thrillern standen. Die Filme waren ihr großteils bekannt, auch wenn das Genre nicht zu ihren bevorzugten Unterhaltungsstoffen gehörte. Die Bücher waren bis auf wenige Ausnahmen in englischer Sprache geschrieben. Das überraschte sie nicht sonderlich. Andi hatte auf der Autofahrt berichtet, dass er fast zwei Jahre in Florida gewesen war und sich im Rahmen eines UNESCO-Programms um Kinder aus sozial schwachen Familien gekümmert hatte, hauptsächlich Schwarze und Hispanics. Eigentlich hatte er Lehrer werden wollen, sein Studium nach ein paar Semestern Anglistik dann aber abgebrochen. Der Grund dafür war ihr so wortreich ausgeführt worden, dass sie irgendwann nicht mehr richtig zugehört hatte.

Auch welchem Job er jetzt nachging, war ihr nicht bekannt. Das war kein Verlust, denn im Grunde interessierte es sie auch nicht. Sie würden sich ohnehin nie wiedersehen.

Es überraschte sie selbst, dass sie weder Reue noch Schuldgefühle gegenüber Robert empfand. Im Gegenteil, der Sex mit einem anderen war für sie wie ein Befreiungsschlag gewesen. Wenn sie also etwas bereute, dann die Tatsache, dass sie Robert nicht schon viel früher betrogen hatte.

Vor ihm hatte es nur zwei Männer in ihrem Leben gegebenbeide keine sonderlich geschickten Liebhaber. Mit Robert war es dann besser geworden, zumindest anfangs. Im Vergleich zu ihrer sehr leidenschaftlichen Nacht mit diesem Österreicher schnitten Roberts Bemühungen jedoch dürftig ab.

Jetzt wusste sie zumindest, dass ihr Sex gefehlt hatte.

Nicht Sex mit Robert, Sex im allgemeinen.

In den drei Jahren, in denen sie mittlerweile nicht mehr miteinander schliefen, hatte sie sich selbst glaubhaft versichert, dass sie anscheinend zu den wenigen Frauen gehörte, die kaum ein Bedürfnis danach hatten. Was ihr fehlte, waren Umarmungen, Küsse, diese Dingeaber Sex? – Nun wusste sie, dass es anders war. Dieser Österreicher hatte sie aus ihrem Dornröschenschlaf geweckt.

Die Frühlingssonne, die das Wohnzimmer erhellte, wärmte Corinas nackte Haut. Dennoch hatte sie plötzlich das Bedürfnis, sich zu bedecken. Auf dem Parkettboden lagen Rock und Strumpfhose, BH und Bluse hingen über der Sofalehne, direkt neben Andis Anzugjacke und seinem Hemd.

Corina ignorierte ihre dunkle Bluse und griff nach dem weißen Hemd. Während sie hineinschlüpfte, rutschte Andis Jacke zu Boden. Automatisch griff sie danach, um sie wieder an ihren Platz zu legen, als ihr Blick auf einen silbern glänzenden Gegenstand fiel, der aus einer der Anzugtaschen gefallen war.

Ein Medaillon mit Kette. Der Deckel war aufgesprungen.

Sie wollte es schon zurück in die Jackentasche schieben, als sie die Gravur bemerkte. Iubire eterna. A & L.

Einen Moment lang war ihr so schwindlig, dass sie sich an der Sofalehne abstützen musste. Sie hatte dieses oder auch das ident aussehende Zweitstück bereits vor vielen Jahren in den Händen gehalten.

Wie um Himmels willen kam dieses Medaillon in Andis Hände?

»Hier bist du

Schnell schob sie den Schmuck unter die Kleidungsstücke.

Andi stand in gepunkteten Bermuda-Shorts im Türrahmen, mit vom Schlaf zerzaustem Haar und breitem Lächeln. Die leichte Unsicherheit in seinen Augen entging ihr dennoch nicht.

»Magst du einen Kaffee

»Gerne

Sie folgte ihm in die Küche und nahm auf dem Barhocker Platz. Still sah sie zu, wie er an der Kaffeemaschine hantierte. In Gedanken war sie bei Anima und dem Medaillon.

Sie hatte eine Familie, keine wirtschaftlichen Sorgenund dann zieht sie auf einmal los und zerstört alles, was sie sich aufgebaut hat.

So wenig sie sich an die Dinge erinnerte, die ihr Andi Knott von sich berichtet hatteseine Aussage über Ani hatte sich in ihr Gedächtnis gebrannt. Nicht nur, weil sie sich Ani nicht als Mörderin hatte vorstellen können, sondern vielmehr deshalb, weil sein Satz in jeder Hinsicht so völlig unzutreffend war.

Anima hatte sich nicht selbst alles zerstört. Anima war bereits kaputt. Sie war zerstört worden, vor vielen Jahren. Und sie war daran nicht unbeteiligt gewesen. Wenn sie sich jetzt daran zurückerinnerte, was geschehen war und welche Rolle sie dabei gespielt hatte, raubte ihr die Schuld fast den Atem.

»Milch und Zucker

»Schwarz

Er servierte den Kaffee in einer hübschen grünen EspressoTasse. Auf dem Unterteller lag ein Keks.

Ihre Blicke trafen sich.

»Alles okay?«, erkundigte er sich vorsichtig.

»Ja. Wieso nicht

Tatsächlich lag es nicht nur an den Erinnerungen an Ani, sondern auch an dem steifen Wortwechsel mit dem Mann, mit dem sie die Nacht verbracht hatte, dass sie sich in dieser Wohnung wie ein Fremdkörper fühlte.

Plötzlich wollte sie weg, einfach flüchten, unsichtbar werden. Sich nicht mit Ani auseinandersetzen müssen, nicht damit, was in Deva geschehen war, und auch nicht mit dem Umstand, dass Ani, die schöne Seele, vielleicht doch nicht so makellos war. Dass sie Tabor wirklich umgebracht haben konnte, überlegt, geplant und mit voller Absicht. Weil sie sowieso nichts mehr zu verlieren hatte und nichts in sich trug außer Hass.

Corina fühlte Andis Blick. Er war auf ihre linke Hand gerichtet. Den Ehering hatte sie nicht abgenommen. Sie warf den Kopf zurück, strich sich eine Locke aus der Stirn.

»Siehst du meinen Mann irgendwo

»NeinEr raufte sich sein Haar, eine Geste, die sie als Verlegenheitsreaktion interpretierte. »Ich dachte nur …«

»Denk nicht so viel, es ist sowieso nicht dein Problem

Sie biss in den Keks.

»Ich kann etwas zum Frühstück besorgen, wenn du Hunger hast. Tut mir leid, dass ich nichts da habe, ich hatte nicht damit gerechnet …«

Noch einmal fuhr er sich mit der Hand durch sein Haar, stand unschlüssig vor ihr.

Sie schwieg, weil sie sich in seinem Hemd und dem Slip plötzlich nackt und unwohl fühlte. War es immer so nach einer Nacht mit jemandem, den man nicht kannte?

»Fürs Erste wäre ich dir dankbar, wenn du meinen Koffer aus dem Auto holst, damit ich mir etwas Vernünftiges anziehen kann

»Du siehst eigentlich ganz süß aus in meinem HemdEr ließ seine Augen ihren Körper entlangwandern. »Sexy«, schob er nach. Seine Verlegenheit schien wie weggeblasen, als er nun den Arm um ihren Nacken schlang und sie küsste.

Sein Bart kratzte leicht an ihrer Wange. Robert hatte sich zuvor immer rasiert, ein Tick von ihm. Spontaner Morgensex war nicht sein Ding.

Das von Andi Knott offensichtlich schon. Er begann, das Hemd aufzuknöpfen, während seine Zunge bereits hungrig ihren Mund erkundete, ihren Körper zum Glühen brachte und die schmerzhaften Erinnerungen zur Seite schob.

Trotzdem zog sie sich zurück.

»Sorry. Ich habe Mundgeruch, und ich rieche nicht –«

Er ließ sie nicht ausreden.

»Du schmeckst nach Kaffee und riechst wundervoll. Komm ins Bett

Ehe sie reagieren konnte, hob er sie vom Barstuhl und versuchte, sie zum Schlafzimmer zu tragen. Sie lachte in seinen Armen, weil er sich so abmühte, und genoss es trotzdem. Sie wollte nicht weiter an Ani denken.