Wien, Mitte April

Die Tage vor dem Monatsersten
sind im Leben stets die schwersten.

Die fetten Blockbuchstaben verschwammen vor Arian Tabors Augen, je länger er sie betrachtete. Er kannte den Spruch auf dem vergilbten Plakat so auswendig wie die Gesichter und Namen der meisten Gäste. An diesem Donnerstagabend war das alte Beisl in Wien-Fünfhaus bis auf den letzten Platz besetzt. Zigarettenqualm füllte den Raum. Das gesetzliche Rauchverbot in der Gastronomie kümmerte hier niemanden.

Tabor hockte heute am Tresen, sein Stammtisch in der Ecke war von zwei grobschlächtigen, dunkelhaarigen Männern besetzt. Beide tranken abwechselnd Bier und Schnaps. Der Kleinere hatte zusätzlich einen Schinken-Käse-Toast bestellt. Dabei war Tabor dessen starker osteuropäischer Akzent aufgefallen. Die Kerle in ihren Blaumännern arbeiteten vermutlich irgendwo am Bau. Billige PfuscherSchwarzarbeiter, die im Männerwohnheim um die Ecke schliefen und im Beisl ihren Lohn versoffen.

Edi zu Tabors Linken umklammerte seinen Krug mit beiden Händen. Der ehemalige Taxifahrer beendete abrupt seinen Monolog über die Vorzüge von thailändischen Prostituierten und wandte sich seinem zweiten Lieblingsthema zu.

»Des Wean is verluarn. Kaane dreißig Joahr gibts des mehr. Unsa Esterreich, unsa Gulturkaane von dene Vollverschleiatn und Islamistennur no des Weaner Herz …« Misstrauisch beäugte Edi einen dunkelhäutigen Zeitungsverkäufer, der das Lokal betrat und die Abendausgaben der Boulevardgazetten zum Kauf anbot. Der Leidensweg Christi, lautete die Schlagzeile der Krone. Dazu ein Bild des gefallenen Jesus mit einem Kreuz im Hintergrund.

»Doooo.« Edi deutete auf das Titelblatt. »Sogoar da Christus ist gstur’m …« Er untermalte seine Worte mit einer schwung­vollen Handbewegung. »Schaas Auslända … schaas Islamisten … Daaham statt Islam!«

Die freiheitlichen Parolen im Rücken, verließ der Zeitungsverkäufer hastig das Lokal. Svetlana, die vollbusige Frau hinter der Theke, verdrehte die Augen.

»Edi, jetzt krieg dich wieder ein! Hm

Ihr rollendes r verriet, dass auch ihre sprachlichen Wurzeln weiter östlich lagen.

»Naaaaajetzt schaas di net an, Sveti, des is doch nix gegen di

»Trotzdem. Ich mag nicht, wenn du so was sagst. Da geht es ja nicht nur um mich. – Was soll denn der Arian denken, wenn du so einen Blödsinn daherredest! Der ist ja auch nicht von da, und trotzdem sitzt du jeden Abend hier mit ihm

Arian rang sich zu einem dankbaren Lächeln durch. Im Grunde meinte Edi auch nicht ihn, sondern die anderen. Und über die dachte Tabor ähnlich, behielt im Gegensatz zu seinem österreichischen Saufkumpanen diese Meinung aber lieber für sich. Man wusste schließlich nie, wer zuhörte. Er wollte keinen Ärger. Weder mit Svetlana, die, seit sie mit einem Schwarzen vögelte, in dieser Hinsicht sowieso keinen Spaß mehr verstand, noch mit den zwei Kerlen dort drüben an seinem Stammtisch. Seit Edi zu stänkern angefangen hatte, spürte er deren bohrende Blicke im Rücken. Sein Instinkt sagte ihm, dass es besser war, zu gehen.

Komm doch mit mir nach Tahiti … komm, lass uns leben im Sonnenschein. Im Hintergrund gab Hansi Hinterseer sein Bestes.

»A kloaner Hitler muass wieda her! Sieg heil! Hoppala

Edi wäre fast vom Barhocker gefallen. Er rülpste und stützte sich nun mit beiden Händen am Tresen ab.

Komm wir verschwinden zum Sonnenschein

»SvetiNachschuuuubsei ein Engerl

»Na, Edi, das reicht jetzt! Für heute ist Schluss! Zahl dein Zeug, und dann verschwind! Morgen kannst wieder­kommen, wenn es sein muss

Das Funkeln in Svetlanas Augen ließ keinen Zweifel daran, dass es ihr ernst war. Das schien nun auch Edi zu dämmern.

Er stand auf und fummelte in seinen Hosentaschen herum. Schließlich kehrte er das Innenfutter nach außen.

»In dieser Hose kein Geld und zu Hause keine andere Hose«, erklärte er in gespreiztem Hochdeutsch. »Oschreim, bittschee«, fügte er dann in seiner Originalmundart hinzu.

»Na, nix anschreiben! Du bist eh schon mit einem Hunderter im Minus

»Geh, Sveti …«

Edi klang jetzt weinerlich.

»Na, nix Sveti! Wenn du nicht zahlst, hol ich die Kieberei

Die Polizei wollte Arian hier in seinem Stammbeisl nicht sehen. Er zückte seine Geldbörse und angelte aus dem Packen Geldscheine einen Fünfziger hervor. Als er ihn auf den Tresen legte, richteten sich seine Nackenhaare auf.

Irgendetwas stimmte nicht. Es lag an diesen Männern. Sie standen jetzt neben ihm an der Theke. Er mied ihren Blick, wusste aber, dass sie ihn beob­achteten. Was hatte ihre Aufmerksamkeit geweckt? Sein Geld? Hastig ließ er die Geldbörse wieder in der Jackentasche verschwinden.

»Stimmt so«, wehrte er ab, als ihm Svetlana das Restgeld geben wollte. »Für den Edi und mich. Komm, Edi, wir gehen

Arian zog den Saufkumpanen energisch mit sich nach draußen. Die frische Nachtluft ließ ihn erst einmal durchatmen. Für April war es wieder recht kalt. Den frühlingshaften Temperaturen war ein neuerlicher Wintereinbruch gefolgt.

»Da entlang, Ediwo gehst du denn hin? Noch wohnst du in der Grimmgasse

Edi war ein paar Schritte in die andere Richtung getorkelt. An der Hauswand stützte er sich ab.

»NaI wui no ned haamI wui no pudan

Arian Tabor zog die buschigen Augenbrauen nach oben. Die Vorstellung, dass dieser Kerl in seinem Zustand noch ans Bumsen dachte, obendrein ohne einen Cent in der Tasche, amüsierte ihn insgeheim. Die asiatischen Prostituierten in der Äußeren Maria­hilfer Straße, von denen Edi immer so schwärmte, würden sich um den Freier ganz sicher reißen!

Weniger amüsant fand er dagegen, dass auch die beiden Unbekannten das Beisl verlassen hatten und aus einiger Entfernung zu ihnen herüberschauten.

»Gut, wie du meinst. Bis morgen

Arian hob die Hand zum Gruß. Den Blick nach vorne gerichtet, die Schultern gestrafft, ging er zügig die Reindorfgasse bergabwärts.

Haltung annehmen. Keine Unsicherheit zeigen.

Das hatte er seinen Mädchen immer gepredigt.

Lange war es her. Die Zeit mit seinen Mädchen. Ein anderes Leben. Er schüttelte den Kopf, um den Gedanken zu vertreiben. Aus und vorbei. Für ihn und für die Mädchen, ja, zum Glück auch für die Mädchen. Es ging nicht an, dass nur seine Karriere zerstört worden war. Wenn, dann hatten alle ihren Preis zu zahlen.

Seine schnellen Schritte hallten in der nächtlichen Gasse wider. Das unangenehme Gefühl im Rücken wollte einfach nicht verschwinden, doch er wagte nicht zu schauen, ob die Männer ihm folgten.

Unten auf der breiten Sechshauser Straße waren zum Glück mehr Menschen unterwegs. Türkische, arabische und serbokroatische Gesprächsfetzen drangen an seine Ohren. Die KebabBuden und Telefonshops waren noch offen, daher musste es noch vor 22 Uhr sein. So früh war er schon lange nicht mehr vom Beisl nach Hause gegangen.

»Bittescheenein Euronur ein Euro …«

Arian Tabor war mit den Gedanken zu sehr auf die zwei Männer fokussiert gewesen, um die Gestalt im schwarzen Umhang wahrzunehmen, die plötzlich aus einem Hauseingang schoss und ihm ihren mageren Arm entgegenstreckte. Reflexartig stieß er sie weg.

Die Gestalt geriet ins Straucheln. Ihre Kapuze rutschte nach unten. Tabor erkannte noch, dass es sich um eine ältere Frau handelte. Ihr Mund war fast zahnlos, ihr Gesicht faltig.

Zügig setzte er seinen Weg fort. Zu der Sorge, ob er verfolgt wurde, gesellte sich jetzt ein schlechtes Gewissen. Die alte Frau mochte im Alter seiner Mutter sein, hätte diese noch gelebt. Obendrein war sie vermutlich eine Landsmännin, die zum Betteln nach Wien geholt worden war. Wenn sie nichts heimbrachte, drohten Schläge. Er wusste genau, wie das lief, seit er vor ein paar Jahren einem Kumpel einen Bus besorgt hatte, um die nächste Ladung bettelarmer Roma aus Bărbulești nach Wien zu bringen.

Nach dieser ersten Tour hatte er beschlossen, dass er sich aus diesem schmutzigen Geschäft besser heraushielt. Unter den Bettlern waren Alte und Kranke. Statt ausreichend Essen gab es Schläge, und wer es wagte, auch nur einen kleinen Teil der Einnahmen für sich zu behalten, hatte mit noch Schlimmerem zu rechnen. Die Jüngeren wurden stehlen geschickt, die älteren Mädchen auf den Strich.

Halbe Kinder noch, kaum älter als seine Mädchen damals!

Das widerte ihn an.

Er war kein schlechter Mensch. Er war kein Schläger. Auch wenn die Welt ihn so gesehen hatte. Er hatte sich doch immer gut um seine Mädchen gekümmert! Dass dazu auch gehörte, ihnen Flausen auszutreiben, lag auf der Hand.

Zum Glück hatte man ihn jetzt vergessen. Ihn und die ganze unschöne Angelegenheit. Zumindest in diesem Punkt war Ruhe eingekehrt. Er hatte alles verloren, aber mittlerweile zumindest wieder seinen inneren Frieden. Jetzt musste er nur mehr dafür sorgen, dass es auch in anderer Hinsicht wieder bergauf ging. Er stand erst ganz am Anfang, aber wenn weiterhin Geld floss, würde er sich irgendwann seinen Traum vom Haus an der Schwarzmeerküste erfüllen können.

Denn das Schicksal hatte es endlich gut mit ihm gemeint. Nie hatte er gedacht, ausgerechnet noch einmal von ihr zu hören. Und doch war es passiert. Sie hatte keine Ahnung, in welches Wespennest sie stieß.

Sie wollte ihn treffen, um die Wahrheit zu erfahren. Pah! Im Gegensatz zu ihm würde sie mit der Wahrheit ja nicht einmal etwas anzufangen wissen.

Er dagegen hatte bereits begonnen, seine Karten geschickt auszuspielen. Der, der ihn damals zum Schweigen gebracht hatte, war jetzt angreifbar, hatte viel zu verlieren. Das hatte ihm das Internet verraten.

Im Grunde spielte das Mädchen keine große Rolle. Aber als Drohmittel war sie Gold wert. Der Mann hatte sofort Geld lockergemacht, damit er, Tabor, sich um dieses Problem kümmerte. Er würde sie mit irgendeiner Geschichte abspeisen. Und er würde sich so lange bezahlen lassen, bis es für ihn hieß: Baba, Vienna!

Auch das war Gerechtigkeit.

Arian Tabor war vor dem mehrstöckigen Altbau angekommen, in dem seine kleine Wohnung lag. Den Schlüssel hatte er schon in der Hand. Als er ihn ins Schloss stecken wollte, bemerkte er, dass es gänzlich fehlte. Stattdessen klaffte nun ein großes Loch im Holz. Die Haustüre war unverschlossen.

Vage erinnerte er sich an das Schreiben der Hausverwaltung: Schloss immer wieder defekt. Austausch erfolgt demnächst.

Verdammt, warum ausgerechnet jetzt und heute!

Hastig schlüpfte er ins Innere.

Im Treppenhaus empfing ihn der leicht modrige Geruch des heruntergekommenen Altbaus. Den Finger bereits am Lichtschalter, verharrte er noch einen Moment in der Dunkelheit. Das Klopfen seines Herzens und sein eigener Atem waren das einzige, was er hörte. Doch dann vernahm er durch die geschlossene Tür den Widerhall von Schritten auf dem AsphaltSchritte, die abrupt vor dem Haus stoppten.

Arian Tabor zögerte nicht. Im Dunklen hastete er die drei Stockwerke nach oben. Kaum dass er vor seiner Wohnung stand, hörte er unten das Quietschen der schweren Haustüre.

Tabor flüchtete in seine Wohnung und sperrte von innen zweimal ab. Zum ersten Mal war er über das umständliche Balkenschloss, das ein ängstlicher Vormieter angebracht hatte, dankbar. Niemand würde die Türe aufbrechen können, ohne zumindest viel Lärm zu machen. Dazu mussten ihn seine Verfolger erst einmal finden. In einem Haus mit knapp zwanzig Parteien war dies nicht so einfach.

Tabor atmete tief durch.

Ohne Licht zu machen, ging er zum Kühlschrank. Die kalte Bierdose in seiner Hand fühlte sich auf seltsame Weise beruhigend an. Er ließ sich damit am Tisch nieder. Neben seinem Bett war der wackelige Holzstuhl, den er irgendwann neben den Mülltonnen im Erdgeschoss gefunden hatte, die einzige Sitzgelegenheit. Für ihn reichte es aus. Das Bier zischte, als er den Verschluss löste. Ohne die Dose anzuheben, saugte er den herausquellenden Schaum von der Oberfläche ab.

Das Schrillen seiner Türglocke ließ ihn so heftig zusammenzucken, dass er die Bierdose umstieß. Der Inhalt ergoss sich über die Tischplatte, und tränkte die alte Semmel, die zwischen der Packung mit den Schmerztabletten und dem Handy lag.

Tabor fühlte sich vor Schreck wie gelähmt. Also doch. Die Männer hatten es auf ihn und sein Geld abgesehen!

Dass sie in die Wohnung gelangten, würde er vermutlich nicht verhindern können, Balkenschloss hin oder her. Wer wollte, kam immer ans Ziel. Es war nur eine Frage von Zeit, Aufwand und Lärm.

Unwillkürlich fiel sein Blick auf das Mobiltelefon. Normalerweise riefen Leute unter diesen Umständen wohl die Polizei. Doch das schied für ihn aus. Zudem war der Akku nicht aufgeladen.

Nun, kampflos würde er sich nicht ergeben. Und das Geld sollten sie auch nicht so einfach haben.

Mit zittrigen Fingern leerte er seine Geldbörse. Gezielt steuerte er die Zimmerpalme an. Ein mickriges, unschönes Gewächs, das die langen Blätter hängen ließ. Die Nachbarin vom zweiten Stock hatte ihm das Grünzeug aufgedrängt. Ein Geschenkwie auch immer, jetzt erfüllte es seinen Zweck. Er zog die Plastiktüte aus dem Erdreich und steckte die Geldscheine zu dem Packen, den er schon dort verwahrte.

Die Türglocke wurde erneut betätigt, diesmal energischer.

Auf Zehenspitzen schlich Arian Tabor näher. Vor dem Kühlschrank hielt er kurz inne.

Er hatte keine Pistole, keinen Schlagstock, nichts. Das einzige, was ihm zur Abwehr dienen konnte, waren sein Besen und das langstielige Fischmesser, das er bei einem seiner letzten Jobs hatte mitgehen lassen. Den hölzernen Griff des Messers fest umklammert, stellte er sich vor die Tür. Falls sie aufginge, würde er zustechen.

Doch die Tür öffnete sich nicht. Stattdessen wurde nun Sturm geklingelt. Der durchdringende Ton erfüllte das Haus.

Arian Tabor wartete ab. Nach dreißig Sekunden packte ihn die Wut.

»Inceteaza odata!«, brüllte er durch die geschlossene Tür und verfiel damit automatisch in seine Muttersprache. Hör endlich auf! Er erschrak selbst, als das Klingeln wie auf Befehl verstummte.

Was er nicht hörte, waren sich entfernende Schritte. Er riskierte einen Blick durch den Türspion.

Sekunden verstrichen.

Sein Herzschlag setzte ein paar Takte aus, als er erkannte, wer dort auf seiner Türschwelle stand.

Die Jahre hatten viel verändert. Nicht nur bei ihm.

Was die Person, die beinahe wie ein Geist aus einer anderen, fernen Welt schien, hier wollte, war ihm schleierhaft. Sie hatten sich nichts mehr zu sagen. Noch nie zu sagen gehabt.

Seine Neugier siegte. Er legte das Fischmesser zurück auf den Kühlschrank. Dann öffnete er die Wohnungstür.