A1 Richtung Wien, Raststation
St. Pölten Ost

»Wo waren Sie den ganzen Tag? Ich versuche seit Stunden, Sie zu erreichen!« Egle bellte ins Telefon. »Dass Sie Ihr Handy an haben und zumindest ab und zu aufs Display schauen, kann ich ja wohl erwarten!«

Julia stand auf dem großflächigen Parkplatz einer Raststätte rund sechzig Kilometer von Wien entfernt. Es war kurz vor 21 Uhr. Sie war müde. Die noch nicht ganz abgeklungene Erkältung und die Informationen, die sie an diesem Tag erhalten hatte, ließen ihren Kopf dröhnen. Dass der Chefredakteur sie nun niederbrüllte, machte sie wütend. Sie fühlte sich ungerecht behandelt. Und zwar nicht nur wegen des bisherigen finanziellen Aufwands für ihre Recherche, der ihr wie ein Stein im Magen lag.

»Ich habe Sie doch zurückgerufen«, verteidigte sie sich lahm. Dass sie es getan hatte, weil sie sich eine positive Antwort und Reaktion auf ihr Mail erhoffte, behielt sie für sich. Egle war als Choleriker verlagsbekannt. Besser, sie ließ ihn erst einmal toben.

»Raus damit: Wie weit sind Sie mit der Geschichte? Werte junge Kollegin, meine Geduld ist fast aufgebraucht! – Wenn ich mir hier Ihr Mail anschaueda bitten Sie mich allen Ernstes um Geld, damit Sie die Ex von Tabor schmieren können

»Ich habe gehört, dass der Verlag für diese Zwecke eine Kriegs­kasse hat

Es war Tom Mojses, von dem sie wusste, dass es Budget für Scheckbuch-Journalismus gab.

»Ja, dieses Geld gibt es, und ich mache auch gerne etwas locker, aber doch nicht für die Ex vom Tabor! Schmieren Sie die Theodorescu; die soll ein paar herzerweichende Details darüber erzählen, was der Tabor mit ihr und der kleinen Anima damals angestellt hat

»Aber die Radu war diejenige, die von Missbrauch geredet hatobwohl sie dem Mann freizügige Fotos von sich geschickt hatWarum wollte Egle das nicht kapieren?

»Die Radu sollte in Ihrem Artikel nicht allzu prominent vorkommen

»Der Brief und das Foto …«

»Wir haben den Text übersetzen lassen. Allem Anschein nach ist es der Brief eines verliebten Teenagers an seinen Trainer. Das beweist noch gar nichts. Er kann sie trotzdem missbraucht haben. Sie wäre nicht die Erste, die erst will und dann doch kalte Füße bekommt

Julia wusste, Egle konnte mit seinem Einwand richtig liegen. Trotzdem störte die Verbissenheit sie, mit dem er vom Schreibtisch aus ihre Geschichte lenken wollte.

»Ich habe heute Zechhoff getroffen. Er hat mich auf Ungereimtheiten aufmerksam gemachtIn aller Kürze berichtete sie ihm von dem Gespräch. »Mein nächster Schritt wird sein, diese Susan Friday zu kontaktieren. Ich will wissen, wer sie damals beauftragt hat

»Die Mühe können Sie sich sparen«, konterte Egle. »Die Frau ist tot. Vor einem Jahr an Krebs gestorben. Und Zechhoff ist sowieso ein alter Wichtigtuer. Seit für ihn im TV nichts mehr läuft, versucht er auf andere Weise, Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. – Statt mit ihm am Chiemsee herumzuschlendern, hätten Sie gut daran getan, in Wien zu sein. Tabors Bude ist heute abgefackelt. Wir haben Fotos gemacht. Das lässt sich gut in die Story einbauen; nun ist auch noch jede Erinnerung an den Übeltäter getilgt und seine Wohnung wird nicht zum Pilgerort für Kinderschänder

Julia war froh, dass Egle ihr Gesicht nicht sehen konnte. Wovon redete dieser Mann eigentlich? Seit wann pilgerten Kinderschänder zu Wohnungen anderer Kinderschänder? Und überhaupt

»Ich kann mich nur wiederholen, Frau Resnitz: Sie verlieren den Fokus! Die Geschichte ist entweder: Missbrauchte Turnerin rächt sich nach Jahren an Peiniger. Oder, wenn Sie wirklich mehr daraus machen wollen: Wurde Arian Tabor das Opfer einer In­tri­ge? Aber dann müssen Sie Fakten dazu liefern! Dieser Brief und das Foto von der Radu reichen nicht als Beweise aus. Und wie Anima Nicolescu als Mörderin da ins Bild passt, müssen Sie dann auch erst mal erklärenDie Stille am anderen Ende der Leitung auf seine Weise deutend, fügte er nun in väterlich tröstendem Tonfall hinzu: »Ich überweise Ihnen einen dreistelligen Betrag für die Theodorescu. Wenn sie nicht freiwillig auspackt, füttern Sie sie finanziell an. Geld wirkt Wunder

Julia mochte sich lieber nicht vorstellen, was das bei der so integer wirkenden Natalia bewirken würde. Als sie kurze Zeit später wieder am Steuer ihres Leihwagens saß, fiel ihr ein, dass sie Egle den Besuch bei den Menzingers verschwiegen hatte.

Seis drum. Im Grunde hatte das, was sie dort erfahren hatte, Egles Geschichte von Anima als Tabors Mörderin gefestigt.

Trotzdem sträubte sich etwas in Julia immer noch gegen diese Version.

Vielleicht hege ich einfach zu viele Sympathien für die Frau, gestand sich Julia ein. Anima tat ihr leid. Sie hatte mit einer bösartigen Schwiegermutter und einem simpel gestrickten Mann zusammenleben müssen. Und sie hatte vieles auf sich nehmen müssen, um ihren Kinderwunsch zu erfüllen, da es auf natürlichem Wege wohl nicht geklappt hatte.