Wien, Pension am Gürtel
Wer hat Arian Tabor ermordet?
Julia saß im T-Shirt auf der Bettkante, starrte auf das Blatt Papier auf ihrem Schoß und versuchte Ordnung in die Zusammenhänge zu bringen. Pfeile führten zu ihren in krakeliger Schrift ergänzten Notizen unterhalb des Namens.
Wirklich Anima?
Pro: Wollte sich rächen für eventuellen sexuellen Missbrauch & Misshandlung, Blut von Tabor an ihrem Körper, Fingerabdrücke an der Tatwaffe.
Contra: Warum jetzt, wo ihr Leben so gut lief?
Zwei Bulgaren?
Pro: Es ging um Geld, Tabor war in illegale Geschäfte verwickelt, auch Trinkkumpan Edi hat zwei dunkle Typen erwähnt, die Tabor gefolgt sind.
Contra: Nur Gordana hat die Bulgaren im Haus erwähnt, keiner hat sie gesehen außer ihr, kein Beweis, dass dunkle Typen von Edi = Bulgaren.
Irma, die Ex?
Pro: War in Hassliebe mit ihm verbunden, wollte Geld zurück, wurde eventuell von den türk. Jungen im Treppenhaus gesehen – ist sie die Frau, die mit Tabor in der Mordnacht gestritten hat?
Contra: Beschreibung des türk. Jungen passt nicht exakt auf Irma.
Jemand Unbekanntes?
Aber wer?
Motive: Geld, dubiose Geschäfte …
Sie wusste nicht weiter. Das Einzige, was sie wusste, war, dass sie bald eine Geschichte mit Hand und Fuß abliefern sollte.
Natalia Theodorescu – Talkshow, wer steckt dahinter?
Der Vermerk machte ihr am meisten Kopfzerbrechen. Was hatte Natalia mit all dem zu tun? Hatte ihr Erscheinen in der Talkshow überhaupt einen Bezug zu dem Mord?
Angenommen, es gab gar keinen sexuellen Missbrauch, hatte ihn nie gegeben … dann hätte Anima kein Tatmotiv gehabt. Warum aber hatte sich Tabor nie gegen den Vorwurf gewehrt? War es, wie Irma vermutete, weil er sich sowieso schon verurteilt sah?
Julia nahm die Telefonrechnung zur Hand, die Menzinger ihr kopiert hatte. Sie hatte die Nummern mit der rumänischen Länderkennung inzwischen via Google überprüft. Demnach hatte Anima Wochen vor ihrem Tod in ganz Rumänien herumtelefoniert. Auch mit jemandem aus Deva hatte sie zweimal gesprochen, wie ihr die Ortsvorwahl 0254 verriet. Diese zwei Telefonate waren interessanterweise der Auftakt für alle weiteren.
Julia hatte mit dem Gedanken gespielt, einfach dort anzurufen, doch laut Internet gehörte die Nummer der Trainingseinrichtung. Was sollte sie sagen, wen genau am Telefon verlangen? – Noch wusste sie zu wenig.
Noch mehr Rätsel gaben ihr die drei Papierbogen auf, die sie Irma abgeluchst hatte. Aus den handschriftlichen Tabellen wurde sie noch immer nicht schlau. Links die Buchstabenfolgen AN, NT, CR, AG, FI … insgesamt zwanzig verschiedene Buchstabenkombinationen, hinter jeder eine Unmenge von Zahlen. Oberhalb der Zahlen in der obersten Zeile wieder Buchstabenfolgen: LU, MA, MI, JO, VI, SA, DU.
Was verbarg sich dahinter?
Dann waren da noch die Namen in ihrer Übersichtsskizze.
Corina Radu. Wer war diese Frau, die Tabors Karriere durch ihre Aussagen endgültig vernichtet hatte, die ins Licht der Kamera gedrängt war, als suche sie die Aufmerksamkeit der Medien? Vor allem: Was war aus ihr geworden?
Julia wechselte vom Bett zu der schmalen Ablage, die sie als Schreibtisch verwendete, und warf den Laptop an. Erleichtert stellte sie fest, dass das W-LAN funktionierte.
Die Suchanfrage auf YouTube brachte qualitativ schlechte Clips einer sehr jungen Corina Radu am Balken und am Reck zutage. Ein hübsches Mädchen mit blonden Haaren und blauen Augen, das von Jahr zu Jahr erwachsener wurde. Julia konnte nahezu mitverfolgen, wie sich Corina von der zierlichen Turnerin zu einer jungen Frau entwickelte. Was dabei auffiel: Sie schien die Einzige aus ihrer Riege zu sein. Die Mädchen, die noch zu sehen waren, blieben zarte Kindfrauen.
Auf einigen Mitschnitten erkannte sie Anima und Natalia. Filigrane Körper in Turnanzügen. Anima war derselbe Jahrgang wie Corina Radu, Natalia ein Jahr jünger. Beide sahen aus wie elf oder zwölf, während Corina den Sprung in die Pubertät längst getan hatte.
Einer der Turnanzüge, den Natalia trug, war derselbe wie auf dem Foto, das sie bei Irma gesehen hatte und über das Tabor das schwarze Kreuz gemalt hatte. Es musste während desselben Events aufgenommen worden sein.
Das war die, die in der Talkshow diese Dinge über ihn behauptet hat. Die mochte er nicht.
Julia wurde das Gefühl nicht los, dass noch etwas anderes hinter der ganzen Geschichte steckte, etwas, das sie bisher noch nicht in Betracht gezogen hatte oder das ihr verschwiegen worden war.
Corina Turnerin Rumänien.
Wieder spuckte die Suchmaschine nur Links aus, die sie bereits kannte.
Corina Gymnast Romania.
Die spontane Idee, die Suche auf Englisch zu versuchen, bescherte ihr eine noch längere Liste. Auf der dritten Seite stieß sie auf einen Link, der sie zu einem Artikel einer US-amerikanischen Tageszeitung über eine Charity-Veranstaltung in Seattle, Washington State führte. Sekt trinkende Leute, ganz offensichtlich Sponsoren und Gönner der Veranstaltung, standen vor einem Buffet. Julias Blick blieb an einem älteren, durchaus attraktiven Mann mit grau meliertem Haar hängen. Die Frau an seiner Seite war unverkennbar die ältere Version des blonden Mädchens im Turnanzug.
Robert Savage jr., son of Robert Savage from Savage Pharmaceuticals, with his wife Cory (Corina), a former Romanian gymnast.
Bingo!
Die ehemalige rumänische Turnerin hatte sich einen Unternehmersohn aus den Staaten geschnappt – einen, der über zwanzig Jahre älter war und nun für das Amt des Gouverneurs kandidierte, wie Julia in einem weiteren Artikel las. Interessiert googelte Julia seine Firma.
Die Website von Savage Pharmaceuticals führte zu einem Pharmakonzern mit gänzlich anderem Namen. Savage Pharma war offenbar vor fünf Jahren aufgekauft worden.
Zu Cory Savage gab es ein paar Einträge, die sie stets an der Seite ihres Mannes zeigten – mit dem immergleichen nichtssagenden, sterilen Lächeln. Im Gegensatz zu jenen Medienauftritten, in denen sie Arian Tabor als Sex-Täter angeprangert hatte, wirkte sie hier wie eine durch und durch US-amerikanische 08/15-Kopie der energiegeladenen jungen Frau, die sich einst im Blitzlichtgewitter der Medien gesonnt zu haben schien. Ihre Tochter Veronica war ihr aus dem Gesicht geschnitten. Die Familie wohnte in Seattle.
Julia stieß auf eine Nummer von Robert Savages Wahlkampfbüro, die als direkter Draht zum Gouverneurskandidaten angepriesen wurde. Grundsätzlich und zumal es sich um eine 24h-Hotline handelte, bezweifelte sie, dass sie Savage persönlich am Apparat haben würde. Trotzdem rang sie sich durch, anzurufen. In Seattle war es ihrer Berechnung nach zwei Uhr nachts. Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang trotzdem wie die einer überenthusiastischen Hausfrau aus einer Waschmaschinenwerbung.
»Wahlkampfbüro Robert Savage, Jessica spricht, was kann ich für Sie tun?«
Julia hatte Mühe, ihren lokalen Slang zu verstehen.
»Hier ist Julia Resnitz, vom deutschen Nachrichtenmagazin Brennpunkt. Ich arbeite an einer Reportage über frühere rumänische Turnerinnen und hätte gerne eine Kontaktadresse oder Telefonnummer … von Cory Savage.«
Die Frau am anderen Ende der Leitung stutzte hörbar.
»Diese Anfrage kann ich nicht bearbeiten, tut mir leid.«
Ihr Tonfall klang nun nicht mehr nach Waschmaschinen-Werbung.
»Können Sie mir nicht zumindest sagen, wo ich Ms. Savage erreichen kann? – Es ist wirklich wichtig.« Julia ahnte, dass ihr Anliegen auf diese Weise weiterhin auf Abwehr stoßen würde, und rang sich zu einer Notlüge durch.
»Im Bericht wird es auch um Herrn Savage junior gehen und um Spekulationen, ob sein republikanisches Weltbild die weitere Karriere seiner Frau beeinflusst hat. Viele meiner Interviewpartnerinnen arbeiten heute als Trainerinnen im Spitzensport oder sind in Verbänden aktiv, nur über Corina Radu alias Cory Savage findet sich nichts mehr. Es wird gemunkelt, dass Mister Savage eine Betätigung seiner Frau boykottiert …«
Wieder folgte ihren Worten Schweigen. Julia ahnte, dass es in der Mitarbeiterin arbeitete. Sie wollte keine Fehler machen.
»Schreiben Sie ein Mail mit Ihren Kontaktdaten, Ihrem genauen Anliegen und den Eckdaten Ihres Magazins an die Adresse, die ich Ihnen durchgebe«, kam plötzlich die Entscheidung. »Wir werden Ihre Anfrage bearbeiten.«
Als Julia das Mail endlich versendet hatte, war es bereits Mittag. Die drohende Deadline war wieder ein Stück näher gerückt, und sie war noch keinen Schritt weiter. Nicht einmal Egles roter Faden ließ sich halten, solange sie niemanden fand, der offen über das sprechen wollte, was damals wirklich geschehen war.
Aber irgendwo, irgendwie musste sie beginnen …
Sie öffnete das Textverarbeitungsprogramm und starrte auf die leere Seite. Fakt war: Sie konnte nur das schreiben, was sie sicher wusste. Die unbestreitbaren Tatsachen waren, dass Tabor tot war und Anima sich von einer Autobahnbrücke gestürzt hatte. Vielleicht konnte sie so beginnen – mit einer Beschreibung von Animas letzten Minuten. Wieder landete sie bei YouTube. Womöglich hatte irgendein Schaulustiger die Szene gefilmt und online gestellt.
Wieder Bingo.
Tatsächlich gab es ein Handyvideo.
Das wackelige Bild schwenkte schließlich auf das Unfallopfer. Ein paar Leute standen herum, sichtlich geschockt, aber auch neugierig. Die kurze Nahaufnahme von Animas verstümmeltem Körper ließ Übelkeit in Julia aufsteigen.
Warum gab es diese skrupellosen Menschen, die lieber filmten, als die Rettung zu rufen?
Ein Mann bahnte sich jetzt seinen Weg durch die Menge; er war blass und sichtlich verstört. Er bückte sich, umfasste die Hand der Toten. Der sensationsgierige Hobbyfilmer hielt drauf und versah die Szene mit einem Kommentar: Das ist der, auf dessen Auto sie gesprungen ist. Auf den Audi da hinten. Der Filmer hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, das Kennzeichen zu verpixeln.
Julia wollte das schreckliche Video schon wegklicken, als sie bemerkte, was der Audi-Fahrer tat: Er nestelte an Animas verkrümmtem Hals und ließ etwas Glänzendes in seiner Jacke verschwinden.
Sie hatte genug gesehen.