Wien, 3. Bezirk

»Andreas Knott?«

»Äh, jaDer Mann, der im weißen T-Shirt und Shorts en­thu­­siastisch die Tür aufgerissen hatte, starrte Julia an wie ein Wesen von einem anderen Stern. Seine Mundwinkel sanken nach unten. Offenbar hatte er anderen Besuch erwartet.

»Ich schreibe eine Reportage über Anima Nicolescualso, Menzinger

Als er nicht reagierte, schob sie nach: »Die Frau, die Ihnen vor das Auto gefallen ist

»Die kannte ich nicht

Seine Antwort kam schnell, seine Gesichtszüge wirkten angespannt.

»Sie haben etwas von ihr an sich genommen

»Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen

Sein Augenlid zuckte. Im Lügen war er ziemlich schlecht.

»Es existiert ein Video auf YouTube, in dem deutlich zu sehen ist, dass Sie Animas Leiche eine Anhängerkette vom Hals nehmen. Sie wissen sicherlich so gut wie ich, dass das unter Diebstahl fällt und obendrein ein verdammt schlechtes Licht auf Sie wirft

Sein Mund ging auf, dann wieder zu. Sekundenlang starrte er sie nur an.

»Wiewie haben Sie mich gefunden

Ȇber Ihren Wagen, den Abschleppdienst, die Werkstatt und Ihre Firma

»Die geben einfach so meine Adresse heraus

Julia schnaubte. Manche Menschen waren herrlich naiv. Knott gehörte offensichtlich dazu.

»Ich bin so lediglich auf Ihren Namen gekommen. Dann half mir Ihr sehr offenherziges Facebook-Profil. – Aber müssen wir das wirklich hier im Gang besprechen

Ȁhnein. Kommen Sie rein

Erst, als die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen war, schien er sich seines Aufzugs bewusst zu werden.

»Tut mir leid, ichwar gerade in der Dusche. Nehmen Sie bitte im Wohnzimmer Platz, bin gleich wieder da

Julia setzte sich auf das dunkelblaue Sofa. Sie ließ ihre Augen über die karge Einrichtung und die blanken Wände wandern. Knott kaufte seine Möbel beim selben Einrichtungsdiscounter wie sie, obwohl er sicherlich über mehr Einkommen verfügte. Ihr Blick blieb an ein paar Bildern im Regal hängen.

Zwei Kinder und eine Fraudie offensichtlich nicht hier wohnten. Ein langes blondes Haar auf dem Sofakissen ließ sie dennoch kurz stutzen. Keusch lebte er zumindest nicht.

»Möchten Sie etwas trinken? Kaffee, Tee, Mineralwasser

Andreas Knott, jetzt in Jeans und mit einem Pulli über dem T-Shirt, war zweifelsohne der höflichste Mann, dem sie während ihrer Recherche in Wien begegnet war. Inzwischen tat es ihr leid, vorhin so harsch aufgetreten zu sein.

»Ein Glas Wasser, danke. Hören Sie, ich will Ihnen nichts Böses«, begann sie, als er sich schließlich seinen Bürostuhl heranzog. »Ich kann mir vorstellen, wie entsetzlich es gewesen sein muss

»Nein, das können Sie nichtKnott sah sie jetzt unverwandt an, und Julia musste sich beschämt eingestehen, dass er recht hatte. Sie war glücklicherweise noch nie in eine derartige Situation gekommen. »Im Übrigen habe ich sie nicht fallen sehen. Falls Sie darüber einen reißerischen Bericht schreiben wollen, müssen Sie andere befragenzum Beispiel den Spaziergänger mit seinem Hund, der danach von der Brücke aus auf die Autobahn gegafft hat, oder dieses Paar, das Handyvideos gedreht hat. Ich stand nämlich einfach nur unter Schock

Es gab keinen Zweifel für Julia, dass er dies in gewisser Hinsicht noch immer tat.

»Ich möchte einen Artikel schreiben, der dem Unfallopfer gerecht wird«, beeilte sie sich zu versichern. »So eine Art Kurzbiographie über die Turnerin, ihr Lebenund Lebensende

Knott nickte, als müsste er kurz nachdenken. Dann sagte er: »Ich glaube nicht, dass sie diesen Mord begangen hat

»Sie kannten sie doch gar nicht

»Ich glaube dennoch nicht, dass sie es warEr verschränkte die Arme vor der Brust wie ein trotziges Kind. »Sie hatte früher den Spitznamen Anima bellabeautiful soul, schöne Seele. Eine schöne Seele bringt niemanden um, selbst wenn ihr dieser Mensch Übles angetan hat

Überrascht richtete sich Julia auf.

»Woher wissen Sie das über eine Frau, die Sie angeblich nicht kannten

»Ich habe es gehörtvon einer ihrer Freundinnen. Ich war auf der Beerdigung. Hören Sie, ich wollte das Medaillon nicht stehlen. Ich weiß nicht, warum ich es genommen habe. Ich wollte es zurückgeben, an Menzinger, wegen der Inschrift, weil ich dachte, es bedeute ihm sicher etwasAber er heißt Norbert, daher habe ich es wieder mitgenommenEs war, als hätte sich bei Knott ein Ventil geöffnet. »Ich glaube, sie hat ihren Mann nicht wirklich geliebtdarum wollte ich ihn nicht mit dem Medaillon konfrontieren, wegen der Inschrift. Er wirkte so unendlich traurig. Er tat mir einfach leid

»Welche Inschrift

»Iubire eterna. In ewiger Liebe, heißt es, und zwei Buchstaben. – Warten Sie, ich zeige es Ihnen

Er ging zum Sofa und griff nach der schwarzen Anzugsjacke über der Lehne. Als er in die Tasche fasste, konnte sie zusehen, wie seine Gesichtszüge verfielen.

»Eses ist nicht mehr da

»Wie? Sie meinen, Sie haben es verloren

»Nein, ichAber sie, sie kann das doch nicht genommen habenhat doch nichts davon gewusst

Mit ungläubiger Panik begann er, die Jacke und darunter liegende Hose hektisch auszuschütteln. Ein Taschentuch fiel zu Boden.

»Das glaube ich nicht

Er warf Hose und Jacke achtlos zu Boden, hastete ins Zimmer nebenan. Julia hörte, wie Schranktüren geöffnet und geschlossen wurden. Nachdem er nicht wieder auftauchte, die Geräuschkulisse jedoch verstummt war, machte sie sich auf die Suche. Sie fand ihn im Schlafzimmer. Er saß auf der Bettkante, hatte das Gesicht in den Händen verborgen und sprach im Flüsterton zu sich selbst.

»Das glaube ich nicht. Einfach damit abgehauen. Ich hätte es sowieso hergegeben, wenn ich gewusst hätte. Ich verstehe das alles nicht

»Was verstehen Sie nicht, Herr Knott

Da er nicht antwortete, sah sie sich um. Das Bett war verwühlt. Keine Frage, Knott hatte die vergangene Nacht nicht allein verbracht.

»Hat Ihnen eine Frau dieses Medaillon geklaut? Eine frühere Freundin von Anima etwa? Wie heißt sie

Ein kurzes Bild schlich sich in ihren Kopf und brachte sie zum Schaudern. War Natalia hier gewesen?

Knott schüttelte nur stumm den Kopf.

»Der Name! – Oder wollen Sie, dass Ihrer im Zusammenhang mit einem Diebstahl steht

»VerdammtEr hob den Kopf, wütende Verzweiflung in den Augen. »Ich weiß fast nichts über sie! Sie war auf der Beerdigung, wir waren uns sympathischSie hat mir das mit Anima bella erzählt. Blond, bildhübsch, vielleicht Mitte dreißig. Eine Amerikanerin mit rumänischen Wurzeln

»Corina Savage«, ergänzte Julia, während es langsam bei ihr sickerte. Der Anruf bei der Hotline und ihr Mail waren völlig umsonst gewesen.

»Ich kenne nur ihren Vornamen

»Was hat Sie Ihnen erzählt? Worüber haben Sie gesprochen

Ȇbernicht viel

Zarte Röte überzog Andi Knotts Gesicht. Julia zweifelte nicht daran, dass er die Wahrheit sagte.

»Bitte erzählen Sie mir genau, was Sie Ihnen über Anima berichtet hat. Sie wollen doch nicht, dass der schönen Seele, die auf Ihrer Kühlerhaube gelandet ist, post mortem weiterhin Unrecht getan wird? Vielleicht hat die Polizei wirklich etwas übersehen

Ihre Worte verfehlten nicht die Wirkung. Knott packte aus. Erzählte von der Beerdigung, vom Dorfklatsch über Anima. Über die Autofahrt mit Corina Savage und ihren Flirt.

»Sie hat hier übernachtet«, schloss er schließlich. »Wir haben nicht weiter über Ani gesprochen. Ich hätte nie damit gerechnet, dass sie das Medaillon …«

Er machte eine hilflose Geste, weshalb Julia den Satz für ihn mit schonungsloser Härte beendete.

»… stiehlt. – Vielleicht wegen der Inschrift? In ewiger Liebe, Anima und Corina

Wieder starrte er sie an. Erst nach ein paar Sekunden begriff er, auf was sie anspielte.

»Also nein, sicher nicht!«, platzte es aus ihm heraus. »Nein, nein. – Außerdem stand da A & L. Und jetzt kommen Sie mir nicht damit, dass Corina mit zweitem Namen Linda heißt …«

Sein Versuch, einen Witz zu machen, scheiterte. Denn im Gegensatz zu ihm begriff Julia sofort, wer sich hinter dem mysteriösen L verbarg.