Wien, Am Spittelberg

Natalia war mit einer Kundin beschäftigt, als Julia die Schneiderei betrat. Ihr Gesichtsausdruck verriet jedoch, was sie dachte.

»Bitte gehen Sie, Sie sind hier nicht erwünscht

Rita kam wie aus dem Nichts und sprach aus, was in Natalias versteinerter Miene zu lesen war.

Julia ignorierte sie und wandte sich direkt an Natalia, deren Kundin in ihrem nun abgesteckten Abendkleid gerade in der Umkleide verschwand.

»Iubire eterna. A & L. – Fällt da der Groschen, Lia

Sie konnte sehen, wie jegliche Farbe aus Natalias Gesichtszügen wich.

»Woher …?«

»Das erkläre ich dir, wenn du mir etwas von deiner kostbaren Zeit widmest

Ihr letzter demütigender, unfreiwilliger Abgang aus der Schneiderei und Natalias abweisende Haltung hielten Julia davon ab, allzu freundlich zu seinauch wenn ihr Herz anderes soufflierte. Es wünschte sich nichts mehr, als dass sich die verlorene Vertrautheit wieder einstellte.

Die Zeit, die verstrich, ehe Natalia die Kundin verabschiedet hatte, kam ihr vor wie eine halbe Ewigkeit.

»Was willst du

»Die Wahrheit. Wie du inzwischen weißt, muss ich eine Geschichte zu Papier bringen. – Es ging nie um sexuellen Missbrauch, stimmts? Ihr habt Tabor an den Pranger gestelltihm vielleicht sogar eine Falle gestelltdu und deine beiden Freundinnen Corina und Anima. In Wahrheit ging es um etwas anderes, nämlich um dein Ver–«

»Hör aufMit einer entschiedenen Handbewegung brachte Natalia sie zum Schweigen. »Gut. Wir können reden. Aber nicht hier. Ich brauche Ruhe. Rita, kannst du …?«

»Natürlich übernehme ich, aber willst du das wirklichSorgenfalten zeigten sich auf der Stirn der älteren Frau, während sie Julia mit einem wenig freundlichen Seitenblick streifte. »Du musst das nicht tun. Wir können Rautenhuber anrufen, den Anwalt. Vielleicht solltest du dich erst einmal juristisch beraten lassen, ehe du mit der Presse sprichst

»Nicht nötig. Julia wird sehr genau verstehen, dass das, was ich ihr zu sagen habe, keine Cover-Story ist.« Sie gab Julia mit einem Wink zu verstehen, dass sie ihr folgen sollte. Diesmal ging es nicht ins Hinterzimmer, sondern durch den Nebenausgang zu einem zweigeschossigen Einfamilienhaus im Biedermeierstil im weitläufigen Innenhof. Mit seinem liebevoll angelegten Vorgärtchen wirkte es, als könnte es überall stehen, nur nicht mitten in der Stadt, verborgen hinter mehrgeschossigen Häusern.

Julia folgte Natalia die Stiege hinauf in den zweiten Stock. Natalia schloss auf und gab ihr Zutritt zu einem loftähnlichen Raum, der definitiv größer war als ihre Gemeinschaftswohnung mit Fiona in Hamburg. Dies und die stilvolle Einrichtung mit Vollholzmöbeln und Designersofa warfen bei Julia unwillkürlich Fragen auf.

»Du wohnst sehr großzügig

Natalia erwiderte nichts, sondern wies auf einen der gepolsterten Stühle an ihrem Mahagoni-Esstisch, an dem mühelos acht Leute Platz fanden. Sie selbst setzte sich ans andere Tischende. Die Stehlampe in der Ecke dahinter tauchte den Raum in warmes Licht.

Ein altmodisch gerahmtes Ölgemälde, auf dem bunte Seeschlangen aus dem eierförmigen Kopf einer spärlich bekleideten Frau krochen, weckte erneut Julias Interesse an der Einrichtung.

»Zeppel-Sperl? Ist das echt

»Das tut wohl nichts zur SacheNatalia verschränkte die Arme vor der Brust. »Kommen wir zum Punkt. Was willst du? Die Wahrheit, hast du gesagt. Es gibt keine Wahrheit. Zumindest keine, die ich kenne

»Es ist also nicht wahr, dass du ein Verhältnis mit Anima Nicolescu hattest

»Ein VerhältnisNatalia starrte Augenblicke lang auf die Tischplatte. »Ein Verhältnis«, wiederholte sie dann. »Was ist das, ein Verhältnis? Wenn man sich liebt? Wenn man sich küsst? Oder wenn man miteinander schläftAls Julia nichts darauf sagte, setzte sie hinzu: »Wir waren sechzehn und unsere Körper waren die von Kindern. Alles klar

»Nein, eigentlich nichtDie Bitterkeit, mit der Natalia gesprochen hatte, traf Julia mitten ins Herz. Sie hasste es, hier als Journalistin zu sitzen. »Bitte, Natalia. Erzähl mir einfach von euch. Ich möchte das verstehen

»Du möchtest eine Geschichte, die ich dir nicht liefern kannNatalia wirkte wieder so feindselig wie vorhin im Laden. »Ich weiß nicht, was ich da erzählen soll. Ich weiß vieles nicht. Stelle mir Fragen, ich versuche sie dir zu beantworten

»Okay. Du und Ani wart in diesem Internat in Deva, laut meinen Recherchen vom sechsten Lebensjahr an … wie Schwestern, eigentlich.«

»Wir waren Freundinnen

»Und habt zu den Spitzensportlerinnen eures Landes gehört

»Wolltest du nicht Fragen stellen

»Konkret gefragt: Wann hast du für sie mehr empfunden als nur Freundschaft

»Ich weiß es nicht. Das Gefühl war irgendwann davielleicht mit fünfzehn. Ich weiß nicht

»Hast du es ihr gesagt

Natalias leises Schnauben gab ihr zu verstehen, was sie von der Frage hielt.

»Wie hast du deiner besten Freundin gesagt, dass du in sie verliebt bist? Wie lange hat es bei dir gedauert, bis du dir diese verbotenen Gefühle eingestehen konntest? – Ach so, ich vergaß: Du bist ja im Westen aufgewachsen. Alles kein Problem, alle super tolerantIhre Stimme überschlug sich fast.

»Ich war siebzehn und meine Eltern haben nach meinem Coming-out ein Jahr lang nur das Nötigste mit mir gesprochen. Es ist nicht in allen Familien so einfach, wie du es dir vorstellst«, stellte Julia mit ruhiger Stimme klar.

Natalias Lachen klang blechern und unecht.

»Du weißt nicht, was es bedeutet, in Osteuropa homosexuell zu sein, was es damals bedeutet hat. Ich hatte niemanden zum Reden, musste alles für mich behalten

»Aber das Medaillon

»Eines Tages habe ich es nicht mehr ausgehalten und Ani davon erzählt, was ich für sie empfinde. Ich hatte Angst vor ihrer Reaktion. Aber ich wäre geplatzt, wenn ich es nicht getan hätte. Und das Unglaubliche wurde wahr. Es war wie ein TraumEin Leuchten trat in Natalias Augen. »Sie sagte, ihr ginge es nicht anders. Dass sie mich über alles liebte und mich am liebsten heiraten würde

Das klang tatsächlich nach erster Liebe.

»Und dann

»Es hat uns noch enger zusammengeschweißt. Wir verbrachten fast jede Minute miteinander

Julia runzelte die Stirn.

»Und weiter? – Ich meine, wurde daraus auch etwas Körperliches

»Wir hatten einen Schlafsaal mit zehn anderen. Es war also … schwierig.«

»Schwierig, aber wohl nicht unmöglich

»Manchmal haben die anderen länger beim Duschen gebraucht. Oder wir haben absichtlich getrödelt. Dann hatten wir ein bisschen Zeit für uns. Viel ist nicht passiert. Ein paar Küsse, Umarmungenwir wussten ja nichtNatalie schluckte. »Wir waren wie Kinder, körperlich völlig unterentwickelt

»Und Tabor? Wann und wie ist der dahintergekommen

»Eine hats ihm gepetzt. Eine, die seine Aufmerksamkeit bekommen wollte und die mich nicht leiden konnte

»Wer

Natalia hob die Schultern.

»Was tut es zur Sache

»Corina Radu etwa

Natalia sagte nichts. Für Julia war das Antwort genug.

»Ich weiß inzwischen, dass Corina in Tabor verliebt war. Sie wurde nicht von ihm missbraucht. Wenn sie tatsächlich Sex mit ihm hatte, dann auf freiwilliger Basis

»Da weißt du mehr als ich

Julia atmete tief durch. Geduld war noch nie ihre Stärke gewesen.

»Natalia, lass dir bitte nicht alles aus der Nase ziehen! Deine Jugendliebe Anima gilt als Mörderin, obwohl sie vielleicht unschuldig ist! Das willst du doch nicht wirklich so stehen lassen

»Ich weiß aber nicht, was ich dir dazu sagen soll, verstehst du?«, begehrte Natalia nun auf. »Woher soll ich wissen, was Corina gemacht hat? – Ich hatte irgendwann einen Unfall, danach war ich nicht mehr in Deva. Ich weiß auch nicht, ob Anima Tabor ermordet hat, ich weiß es einfach nicht

»Anima bella. So wurde sie doch genannt. – Hältst du sie für fähig, einen Mord zu begehen

»Was weiß ichNatalia verschränkte die Arme erneut vor ihrer Brust. »Ich kannte sie später nicht mehr. Wir haben uns Jahre nicht gesehen, keinen Kontakt gehabt. Was kann ich über eine Fremde wissen

»Das heißt, du hast tatsächlich aus der Zeitung erfahren, dass Ani und Tabor tot sind, und dass sie –«

»Ja, neulich, aus der Kronenzeitung. Kurz bevor du in die Schneiderei kamst. Ich lese nicht regelmäßig Zeitung, sehe nie fern, höre kaum Radio. Mich interessieren Politik und Wirtschaft nicht. Ich möchte einfach nur meine Ruhe

»Zurück zu Ani und dir. Corina hat euch damals also gesehen und bei Tabor verpetzt? Und der ist dann ausgeflippt und hat dich vom Balken geprügelt, ehe für dich der Traum von Olympia in Erfüllung gehen konnte

»Der Traum von Olympiawie das klingtNatalia schüttelte den Kopf. »Weißt du, was mein Traum war, als Kind? Ich wollte im Garten spielen, bei meinen Großeltern. Mit meiner Oma Bohnen ernten, Früchte einkochen, Kuchen backen. Mit Opa fischen gehen. Das war mein Traum: ein Leben wie sie mit Wastl, ihrem Hund, und Gabor, dem Kater. Und dann ist meine Mutter mit ihrem blöden neuen Freund gekommen, und die haben sich eingebildet, ich muss nach Deva. Weil ich mich doch so gut bewegen könne. Ich war ein braves Kind, turnte vor, wurde sofort genommen. Ende der Geschichte. Meine Oma starb, als ich in Paris auf Europameisterschaft war, mein Opa, als ich in Rom für die Mannschaft Gold holte. Ich durfte nicht einmal zur Beerdigung fahren, weil ja dann das Training ausgefallen wäre. So viel zu meinem Traum

Eine kleine Träne löste sich aus Natalias Auge und rann über ihre Wange.

Julia wollte zu ihr gehen, doch eine entschiedene Geste gebot ihr Einhalt.

»Wir mussten bei der Direktorin vorsprechen und wurden mit diesen Vorwürfen konfrontiertdass wir perverse Dinge miteinander machten. Sie schrie eine Stunde auf uns ein, hielt uns vor, wie abartig wir seien, dass unser Verhalten Konsequenzen hätte. Es war furchtbar. Sie hörte nicht auf; drohte damit, unsere Karrieren zu beenden und uns in Schande nach Hause zu schicken. Ani schlotterte vor Angst. Überhaupt wirkte sie zu diesem Zeitpunkt soso anders, so fremd. Als wäre sie kurz zuvor gestorben und nur noch ihre zitternde Hülle stünde neben mir. Sie sah mich nicht einmal an. Schließlich schickte mich die Direktorin aus dem Zimmer. Nach einer halben Stunde kam Ani heraus, total verheult. Sie würdigte mich keines Blickes, ging einfach an mir vorbei. Danach kam ich zur Direktorin und sie teilte mir mit, dass Ani ihr alles gestanden hätte: Dass ich sie gegen ihren Willen verführt und sie nur aus Angst vor mir in alles eingewilligt hätte. Die Direktorin sagte mir, sie würde nach Sidney entscheiden, wie es mit mir in Deva weiterginge. Danach musste ich in einen anderen Schlafsaal ziehen. Was auch immer sie den anderen Mädchen als Erklärung geliefert hatich wurde plötzlich geschnitten. Ab da machten alle um mich einen großen Bogen, als wäre ich giftig

Nun liefen die Tränen nur so über Natalias Gesicht. Julia musste sich zwingen, sitzen zu bleiben. Dass sie keinen Trost wollte, hatte sie klar zu verstehen gegebenzumindest keinen Trost von ihr.

»Tabor hat einen echten Hass auf mich entwickelt. Ani ist immer sein Liebling gewesen. Ich glaube, er nahm das als persönliche KränkungSie fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Er nahm mich beim Training immer härter heran. Kein Tag ohne Blutergüsse, ohne Schläge. Er ging ja nie sanft mit uns um, aber ich bekam quasi eine Sonderbehandlung

Ihr Lächeln war schief und schnitt Julia noch mehr ins Herz.

»Irgendwann ist es dann eskaliert. Ein kleiner Fehler am Balken; ich wollte wiederholener flippte aus, schimpfte, stieß mich vom Balken, prügelte und trat besinnungslos auf mich ein. Dann nahm er den Rohrstock, mit dem er immer Klapse verteilt hatte. Diesmal schlug er so fest, dass der Stock zerbrach. Ich sah noch, dass er die Halle verließ, dann wurde ich ohnmächtig. Als ich wieder aufwachte, lag ich im Krankenhaus, in einem Zimmer mit sechzehn anderen Frauen. Ich wollte sterben, riss mir immer wieder die Infusionen heraus. Die anderen Frauen haben schließlich meine Hände mit irgendwelchen Stofffetzen am Bett festgebunden

»Kam dich irgendwer besuchen

Natalia schüttelte den Kopf. Ihre Tränen waren versiegt; sie schien sich wieder zu beruhigen.

»Wer denn? Zu meiner Mutter gab es keinen Kontakt mehr, meine Großeltern waren tot und meine Turnkolleginnen …«

»Wie lange warst du dort

»Zweieinhalb Monate. Ich wurde mehrmals operiert, der Bruch war kompliziert. Danach kam ich direkt nach Bukarest in ein Heim für, wie sagt mangefallene Mädchen

»Wie bitteJulia glaubte, sich verhört zu haben. »Wann war das? Von welchem Jahrhundert sprichst du gerade

»Wie gesagt, in Südosteuropa tickten die Uhren andersNatalia hob die Schultern. »Ich glaube einfach, die wussten nicht, was sie mit mir tun sollten. Ich war noch minderjährig. Also saß ich dort bis zur Volljährigkeit mit straffällig gewordenen Mädchen, mit Minderjährigen, die schwanger geworden waren und abgetrieben hatten, mit Mädchen, die durch aggressives Verhalten aufgefallen waren oder einfach nur beide Elternteile verloren hatten, in einem Raum an der Nähmaschine und nähte Ärmel und Hosenbeine. Mehrere hundert pro Tag, Woche für Woche. Ich hatte irgendwann aufgegeben. Ich habe nur noch funktioniert. Als ich volljährig war, habe ich mich für eine Au-pair-Stelle in Deutschland beworben und ein Visum bekommen. Ich wollte nur noch weg

Sie stand auf, ging in den Küchenbereich und füllte am Spülbecken ein Glas mit Leitungswasser. Julia ließ ihre Augen über die Küchenmöbel schweifen. Erneut überraschte die luxuriöse Ausstattung der Wohnung sie. Die ellenlange Küchenzeile hätte nicht einmal in ihr WG-Zimmer gepasstder von allen Seiten begehbare Herd war ein wahres Schmuckstück. Dass hier jemand zu Hause war, der gerne kochte, lag auf der Hand.

»HierNatalia stellte ein zweites Glas Wasser vor Julia auf den Tisch. Diesmal nahm sie direkt neben ihr Platz.

»Ich kam zu einer Familie nach Bremen. Die wohnten in einer schönen Villa. Drei Kinder im schulpflichtigen Alter, alle bestens erzogen. Als ich ankam, bekamen sie quasi ein viertesNatalia lächelte müde. »Die Armen. Sie haben es wirklich versucht mit mir. Aber als ich anfing, mich zu ritzen, haben sie aufgegeben. Mein Visum lief noch, ich kam in eine Klinik und wurde psychologisch betreut. Leider kann ich nicht behaupten, dass der Erfolg durchschlagend war. Irgendwann lief dann mein Visum ab. Zurück nach Rumänien wollte ich auf gar keinen Fall. Ein Hotel hat mich als Zimmermädchen eingestellt; zumindest habe ich ein Arbeitsvisum bekommen. Mir ging es sehr schlecht. Ich hatte viele Probleme, nicht nur psychische. Es war mein Körper. Der war mir einfach fremd geworden

»Wie meinst du das

»Als ich Deva verließ, war ich noch wie ein Kindwenig Busen, kein Po, dünn und leicht. Ich hatte noch nicht einmal meine Periode. Im Krankenhaus bekam ich dann das erste Mal meine Tage. Ich nahm plötzlich zu, mein Busen wuchs. Ich hasste meinen Körper, fühlte mich schwer und unwohl. Also begann ich zu hungern

»Als du in der Talkshow aufgetreten bist, warst du magersüchtig

»Ja. Aber da hatte ich sogar schon wieder etwas zugenommen

Eine ganze Weile sagte keine von ihnen etwas. In Julia schlugen die Emotionen, die Natalias Lebensgeschichte auslöste, Purzelbäume. Bestürzung mischte sich mit Neugierde, Mitgefühl und Wut. Noch immer musste sie sich zwingen, Natalia nicht einfach zu umarmen.

Als die Stille zwischen ihnen unangenehm zu werden begann, fragte Julia: »Wie bist du überhaupt in die Talkshow gekommen

Sie war auf die Antwort mehr als nur gespannt. Würde ihr Natalia von Susan Friday erzählen?

»Ich hatte zu dieser Zeit losen Kontakt zu Corina. Wir trafen uns sogar einmal kurz in Bremenungefähr ein halbes Jahr vor der Talkshow. Sie versuchte sich damals als Model. Ihre Agentur schickte sie in ganz Europa herum, aber es war ihr damals schon klar, dass das keine Zukunft hatte

»Warum

»Sie ist nicht sehr groß und sie macht es sich gerne leicht. Diese Modelagentur bot Shootings in klirrender Kälte oder bei Nieselregen. Sie wurde nicht oft gebucht, finanziell hat es sich auch nicht ausgezahlt. Also, gelebt hat sie davon jedenfalls nicht

»Wovon dann

»Bei ihr war noch vor Sydney klar, dass sie Rumänien nicht als Olympionikin vertreten konnte. Sie hatte ein ganz, ganz schlechtes Jahr hinter sich, war im Gegensatz zu uns anderen körperlich weit entwickelt. Darum hat sie eine Ausbildung zur Physiotherapeutin begonnen und weiterhin in Deva gearbeitet.«

»Das muss schwer für sie gewesen sein: Eben noch Spitzensportlerin, plötzlich durfte sie nur noch die Muskeln ihrer früheren Teamkolleginnen bearbeiten

Natalia nickte.

»Ja, vermutlich hat uns zu dieser Zeit eines verbunden: Wir waren beide unglücklichSie atmete tief durch, ehe sie fortfuhr. »Corina redete mir ein, dass ich mit Tabor abrechnen soll. Dass es mich befreien würde, wenn man mir zuhört. Sie sagte, sie kenne da Leute, die mich ins Fernsehen bringen. Erst war ich unsicher. Ich wollte nicht ins Fernsehen. Aber Corina sagte, ich müsse nichts tun außer meine Geschichte erzählen. Als ich erfuhr, dass Tabor eine Trainerstelle in Deutschland angetreten hatte, platzte mir der Kragen. Mir ging es schlecht, und der Typ kam nach allem unbescholten davon und galt weiterhin als Held in der Turnerwelt! Da habe ich zugesagt. Dann hat sich eine Frau bei mir gemeldet und nahm alles in die Hand

»Wie hieß die

Natalias Stirn legte sich in Falten.

»Ist das wichtig

»Hieß sie Susan Friday

»Das weiß ich nicht mehr. Vielleicht. Vielleicht auch nichtNatalia wandte ihren Blick ab. »Ich kann mich wirklich nicht mehr erinnern

Julia spürte, dass sie log. Warum?

»Susan Fridays Job ist es, Leute und Skandale in die Öffentlichkeit zu bringen«, erklärte sie sachlich. »Es wäre also nicht ungewöhnlich gewesen, wenn sie dich kontaktiert hätte

Natalia schien ihre Antwort sorgfältig abzuwägen.

»Kann sein, dass sie so hieß

»Wie viel hat dir der Sender für deinen Auftritt bezahlt

Wieder zögerte Natalia mit der Antwort. »Zweihundert­fünfzig Euro

Unmöglich, dass sie davon Susan Friday bezahlt hatte.

»Und sonst?«, hakte Julia nach. »Hast du sonst noch etwas bekommen

»Genugtuung

»Das meine ich nicht. Susan Friday ist teuer. Also muss sie von irgendwoher Geld bekommen haben. Wenn nicht von dir, von wem dann

Sie konnte förmlich fühlen, wie sich Natalia versteifte.

»Das weiß ich nicht. Ich habe nur getan, was sie mir aufgetragen hat: von Tabor und meinem Unfall erzählt

»Was war mit den Videofilmen vom Training, die dann durch die Medien gegangen sind? Wo stammten die her

»Die Frau hat gesagt, sie hätte Filmmaterial, ich solle es erwähnen

»Hat sie dir auch gesagt, dass Corina Radu danach von sexuellem Missbrauch reden wird

»Nein. Über Corina habe ich nicht mit ihr geredet

»Also war nicht abgesprochen, dass ihr ihm so richtig eins auswischt, indem ihr ihn zum Sextäter erklärt

Julia wusste, dass mit dieser Erkenntnis eine mögliche Version der Geschichte wegfiel.

»Wie schon gesagt, ich weiß nicht, was zwischen Corina und Tabor gelaufen ist. Corina war chronisch eifersüchtig auf alles und jeden. Auf mich, auf Ani, auf unsere Erfolge, unsere Freundschaftdarauf, dass Tabor Ani mehr Aufmerksamkeit schenkte als ihr. Ich wusste nicht, dass sie ihm ein Foto geschickt hat. Corina und ich waren nie beste Freundinnen

»Warum nicht

Natalia hob die Schultern.

»Sie ist ehrgeizig und berechnend. Sie tut nichts aus Nettigkeit. – Aber du solltest jetzt gehen. Mich hat das aufgewühlt

Doch Julia blieb sitzen. Die Geschichte war für sie noch nicht zu Ende.

»Und trotz aller Schrecklichkeiten bist du nun in Wien, hast eine wunderschöne Wohnung und übernimmst bald eine gutgehende Maßschneiderei mit Designeratelier. Wie kommts

»Ich hatte das Glück, Rita zu treffen

»Das heißt, diese Wohnung, das ganze Haus gehört ihr

Natalia presste die Lippen aufeinander. »Was geht dich das anSie stand auf. »Geh jetzt bitte! Ich bin fertig

Julia erhob sich nun ebenfalls, fühlte sich jedoch komplett hilflos. Sie wollte nicht gehennicht, ohne dort anzuknüpfen, wo sie bei ihrem ersten Zusammentreffen geendet hatten.

»Natalia, bitte lass das nicht so enden, jetzt, wo die Karten offen auf dem Tisch liegen. Zwischen unsist irgendetwasSie seufzte. »Es tut mir sehr leid, dass ich dir nicht gleich gesagt habe, dass ich Journalistin bin

»Du bist immer noch JournalistinNatalias sachliche Feststellung schmerzte wie ein Peitschenschlag. »Und du willst noch immer eine Geschichte. – Schreib sie, ich werde dich nicht abhalten. Aber lass meinen Namen aus dem Spiel. Ich will mit all diesem Dreck nichts mehr zu tun haben

»Wie soll das gehen? Was du mir erzählt hast, ist nicht unwesentlich

Natalia lachte kurz auf.

»Also bitte! Wolltest du nicht über den Mord an Tabor schreiben? Dann schreib doch, dass es Ani warwie die Polizei sagt. Ja, er hat an ihr herumgegrapscht, beim Turnen, wie übrigens viele andere männliche Trainer auchfür uns schon fast normal. Wir hätten nicht einmal gewusst, bei wem wir uns darüber beschweren sollen. Ständig wurde uns vermittelt, dass wir ja auch gehen könnten. Aber wohin? Deva und die Hoffnung auf Gold war alles, was wir kannten. Dafür haben wir alles ertragen. Ani hat das alles offensichtlich nicht verkraftet. Nun hat sie sich gerächt. Das ist eine schlüssige Geschichte

»Dass Ani zeitlebens ihre Homosexualität unterdrückt hat und dass Tabor ihreeure! – erste Liebe auf grausame Art zerstört hat, spielt also überhaupt keine Rolle

»Willst du ihrem Mann jetzt auch noch auf die Nase binden, dass er mit einer Lesbe verheiratet warNatalia sah sie verständnislos an. »Ich habe gelesen, sie hat ein Kind und lebte in einem Dorf. Willst du wirklich, dass das alle dort wissen? – Das ist der Grund, warum ich die Medien verabscheue und normalerweise nicht Zeitung lese: weil es nie um die Menschen geht

Julia schluckte. Natalia hatte den wunden Punkt berührt, der ihr immer wieder selbst zu schaffen machte und sie an ihrer Berufswahl zweifeln lässt: Sie machte sich eben doch zu viele Gedanken um die Betroffenen.

»OkayJulia gab auf. Vorläufig hatte es wohl keinen Sinn, noch einen Versuch zu wagen. »Eine Frage noch: Tabor hat bei seiner Ex einen Haufen Ordner mit irgendwelchen Listen deponiert. Sagt dir das irgendetwas

Sie kramte die Liste, die ihr Irma mitgegeben hatte, aus der Tasche und zeigte sie. Natalia blinzelte kurz, verzog aber ansonsten keine Miene.

»Ich weiß nicht, was das sein soll. – Jetzt geh bitte. Ich habe genug gesagt

»Darf ich noch auf die Toilette

»Wenn es sein muss

Das Badezimmer mit WC befand sich im hinteren Teil des Lofts; es war der einzige komplett durch Mauern abgetrennte Bereich. Eine Spa-Oase mit Whirlpool, moderner Dusche, Bidet und integriertem Mobiliar, das exakt auf das Design der italienischen Fliesen abgestimmt war. Auf der Waschmaschine stand ein geflochtener Weidenkorb mit Schals in diversen Rosé-Schattierungen.

Als sie aus dem Badezimmer zurückkam, lehnte Natalia an der Küchentheke und bedachte sie mit einem seltsamen Blick.

»Lass mich bei deinem Artikel aus dem Spiel

Diesmal klangen ihre Worte wie eine Warnung.