Wien, 1. Bezirk
Schon das Foyer des Ringstraßenhotels bildete das Kontrastprogramm zur Lobby der Pension am Gürtel, die mit vier Reisenden samt Koffern schon mehr als ausgefüllt war. Die vielen Spiegel und vergoldeten Zierleisten waren Julia hier schon fast zu viel des Guten, genauso wie der dienstbeflissene Portier im weinroten Anzug, der ihr freundlich zunickte und sie mit »Gnädige Frau« begrüßte. Die gewaltigen Luster, die von der Decke baumelten, weckten dagegen durchaus ihre Bewunderung.
Weniger beeindruckend war die schwindende Freundlichkeit des Rezeptionisten, als sie um Corina Savages Zimmernummer bat.
»Tut mir leid, eine Frau Savage ist bei uns nicht registriert.«
Julia wusste, dass das nicht stimmen konnte. Knott hatte Corina nach eigener Auskunft hier abgesetzt.
»Corina Radu vielleicht?«
Mit einer Miene, die pure Missbilligung zum Ausdruck brachte, warf er einen Blick auf seinen Flachbildmonitor.
»Frau Radu möchte nicht gestört werden. Tut mir leid.«
»Könnten Sie sie bitte informieren, dass ich hier bin? – Mein Name ist Julia Resnitz, ich bin Journalistin. Bitte sagen Sie ihr das.«
»Gnädige Frau.« Der Rezeptionist schob seine randlose Brille zurück, die ihm auf die Nasenspitze gerutscht war. »Es ist fast 22 Uhr. Um diese Zeit pflegen wir unsere Gäste nicht mehr zu stören, besonders wenn sie ohnehin keine Besuche wünschen.«
Julia konnte sich denken, was Corina zu diesem Vermerk bewogen hatte: Nachdem sie ihrem One-Night-Stand das Medaillon geklaut hatte, wollte sie sicherstellen, dass er nicht im Hotel auftauchte, um es zurückzufordern. Tatsächlich hatte Andreas Knott mit dem Gedanken gespielt, Corina dort zur Rede zu stellen. Das hatte er vor Julia offen zugegeben. Er sei sauer gewesen, dass sie das Schmuckstück einfach habe mitgehen lassen. Julia hatte ihn beruhigen können: Corina werde das Medaillon bestimmt L. übergeben. Damit sei schließlich Knotts eigenes Vorhaben erfüllt.
»Dann lassen Sie ihr zumindest meine Karte zukommen. Und richten Sie ihr doch bitte aus, dass ich hier war.«
Mit spitzen Fingern nahm der Rezeptionist das Kärtchen entgegen. Weil sie ihm misstraute, folgte sie mit den Augen seiner Hand bis zu einem der vielen kleinen Fächer. Zimmer 221. Die Codekarte für die Zimmertür lag im Fach. Offensichtlich wollte Corina Savage nicht nur nicht gestört werden, sondern war sowieso außer Haus.
Julia bedankte sich und setzte sich auf eines der schwarzen Sofas mit Blick auf den Eingangsbereich. Irgendwann würde Corina ins Hotel zurückkehren. Sie musste nur warten.
Das war leichter gesagt als getan. Je weiter der große Zeiger der stilvollen Wanduhr vorrückte, desto weniger Hotelgäste gingen ein und aus. Damit fehlte die Ablenkung, die Julia wachgehalten hatte. Das Sofa war gemütlich, definitiv bequemer als ihr Hotelbett. Immer wieder ertappte sie sich dabei, dass ihr die Augen zufielen.
Um kurz vor 23 Uhr vibrierte ihr Handy in der Handtasche. Es war ein Anruf ohne Rufnummernkennung; sie nahm ihn trotzdem entgegen.
»Guten Abend, hier spricht Robert Savage. Störe ich gerade?«
Die Männerstimme klang ausgesprochen sympathisch.
»N…nein, nein«, stotterte Julia auf Englisch. Dass der Politiker sich bei ihr persönlich meldete, hatte sie nicht erwartet.
»Sie haben eine Anfrage an meine Pressestelle geschickt. Ob meine Karriere Corinas Entscheidung beeinflusst hat, der Turnerszene den Rücken zu kehren. Habe ich das richtig verstanden?«
Robert Savage hörte sich an, als würde er in Erinnerung an ihr Mail milde lächeln. Julia errötete. Das Mail war wirklich peinlich gewesen, doch wie hätte sie sonst sicherstellen können, dass es wirklich bei den Savages landete und nicht von der Pressestelle mit einem Standardtext abgehandelt wurde?
»Mister Savage. Tut mir leid, ich wollte das nicht so klingen lassen, als ob …«
Verzweifelt suchte sie nach Worten. Sie sollte wirklich ihr Englisch auffrischen.
»Warum kürzen wir das Ganze nicht ab und Sie sagen mir klipp und klar, worüber Sie schreiben wollen«, kam er ihr zur Hilfe. »Es geht vermutlich um den Tod des früheren Trainers. Nun wollen Sie diese ganze Missbrauchsgeschichte wieder aufs Tableau bringen und dazu mit meiner Frau sprechen.«
Dumm war der Mann nicht. So viel stand fest.
»Das wäre eine Möglichkeit, ja«, gab Julia zu.
»Und die andere?«
Seine Stimme klang ehrlich interessiert.
»Ich bin, was das Thema Missbrauch angeht, auf gewisse Ungereimtheiten gestoßen«, gab sie daher Auskunft. »Alte Fotos und Briefe, die Tabor in ein anderes Licht rücken. Ich würde darüber wirklich gerne mit Ihrer Frau persönlich sprechen. Könnten Sie eventuell einen Kontakt zu ihr herstellen?«
»Leider ist Cory derzeit im Ausland. Aber die Erinnerungen sind noch immer belastend für sie. Ich glaube nicht, dass es gut wäre, sie erneut wachzurütteln.«
»Das verstehe ich. Wirklich.« Ich brauche trotzdem eine Story. »Aber ich will nichts Falsches schreiben … und mir liegen Beweise vor, die die Vorkommnisse von damals relativieren.«
»Lassen Sie uns offen sprechen.« Savages Stimme verlor selbst bei der Aufforderung nicht den charmanten Unterton. »Ich möchte nicht, dass sich Corina mit unangenehmen Erinnerungen quälen muss. Aber soweit es im Rahmen meiner Möglichkeiten liegt, werde ich Ihnen gerne alle Fragen beantworten. Meine Frau und ich haben ein äußerst vertrauensvolles Verhältnis zueinander. – Sie wissen sicher, dass Corina und ich kurz nach Tabors Verurteilung geheiratet haben? Ich bin also vollkommen im Bilde, was die damaligen Geschehnisse betrifft, schließlich stand ich meiner Frau zur Seite, als sie ihre Vorwürfe immer und immer wieder wiederholen musste, vor diversen Medien und vor Gericht.«
Julia zögerte. Konnte sie dem Mann wirklich vertrauen?
Andererseits: Der Spatz in der Hand war wohl besser als die Taube auf dem Dach, und die Deadline für ihren Artikel lief in weniger als vierundzwanzig Stunden ab.
»Tabor hatte noch Sachen bei seiner Exfreundin. Darunter ein Liebesbrief, den Corina ihm geschickt hat, und ein Foto von ihr. Es scheint, als hätte sie sich ihm nahezu angeboten.«
Das sekundenlange Schweigen am anderen Ende ließ Julia ihre kühne Aussage sofort bereuen. Es war wohl doch ein Fehler gewesen, Corinas Mann damit zu konfrontieren.
»Ein Foto, das sie im hauchdünnen Nachthemd zeigt, und ein schmalziger Liebesbrief auf rosa Papier, richtig?«
Savage klang kein bisschen irritiert. Corina schien wirklich keine Geheimnisse vor ihrem Mann zu haben.
»Sie war fünfzehn oder sechzehn, als sie ihm diesen Brief schrieb. Ein halbes Kind noch«, erwiderte Savage ruhig. »Dass Schülerinnen in ihren Lehrer verknallt sind, ist nicht ungewöhnlich. Ein halbes Jahr später hat er sie dann zum Oralsex gezwungen. Das können Sie überall nachlesen. Es war schrecklich für sie. Sie leidet heute noch unter Alpträumen. – Überlegen Sie sich bitte gut, ob Sie ihr das antun wollen: das alles wieder aufleben zu lassen, für nichts. Corina führt heute ein glückliches Leben. Wollen Sie wirklich, dass meine Frau erneut als Missbrauchsopfer in die Medien kommt? Wir haben eine Tochter, die ist zwölf. Wollen Sie, dass sie täglich damit konfrontiert wird, was ihrer Mutter als Teenager widerfahren ist? Oder wollen Sie Corina etwa als unglaubwürdig darstellen, nur weil sie als verliebte Schülerin ein dummes Foto und einen kindischen Brief verschickt hat?«
Julia schluckte. »Es geht mir darum, eine plausible Hintergrundgeschichte zu liefern«, sagte sie in einem Tonfall, der selbstbewusster klang, als sie sich fühlte. Sie kam sich vor wie ein Kind, das im Begriff steht, eine Dummheit zu begehen.
»Die haben Sie doch schon.« Jetzt klang Savage wie der milde, tröstende Übervater. »Ein Sexualtäter ist tot, ermordet von einem früheren Opfer. – Ich habe selbstverständlich von den Rahmenumständen seines Todes erfahren.«
»Hat Corina Ihnen denn jemals davon erzählt, dass er auch andere sexuell missbraucht hat?«
»Natürlich. Das Begrapschen beim Training war wohl gang und gäbe.«
Das deckte sich mit Natalias Aussage.
»Sie war die Einzige, die jemals über Dinge sprach, die über Grapschen hinausgingen«, warf sie dennoch ein.
»Weil für die anderen zu viel auf dem Spiel stand«, lieferte Savage die Erklärung. »Wer noch aktiv im Turnsport war, hatte damals doch keine Chance, sich gegen Tabor aufzulehnen. Der Typ war in Rumänien fast eine Art Nationalheld, und die Mädchen in Deva kamen fast alle aus ärmlichen Verhältnissen. Deren Familien haben auf sie gesetzt. Sich gegen einen Trainer zu stellen, hätte das Karriere-Aus bedeutet! Corina hat schließlich nur ausgesagt, weil sie selbst nichts mehr zu verlieren hatte – und natürlich, weil sie ihre Freundin, diese Theodorescu, unterstützen wollte.«
Sie ist ehrgeizig und berechnend. Sie tut nichts aus Nettigkeit.
Eine merkwürdige Freundschaft vor dem Hintergrund, dass Natalia von all dem, was Corina widerfahren war, nichts gewusst haben wollte.
»Ich kann also davon ausgehen, dass Sie meine Frau heraushalten.« Diesmal klang Savage wie ein Politiker, der eine Zusicherung einforderte.
Julia schluckte wieder. Erst sollte sie Natalia unerwähnt lassen, jetzt auch noch Corina …?
»Das kann ich nicht versprechen.«
Ihre Erwartung, dass Savage sie weiter bedrängen würde, erfüllte sich nicht.
»Nun, wie auch immer, ich bin sicher, Sie treffen die richtige Entscheidung«, erwiderte er gelassen. »Eines noch: Sie erwähnten, dass Tabor noch mehr Fotos bei dieser Exfreundin einlagern hat. Mir sind keine weiteren Bilder dieser Art von meiner Frau bekannt und ich wäre gern vorbereitet, falls Derartiges an die Öffentlichkeit dringt.«
Natürlich, dachte Julia mit einem Anflug vom Sarkasmus. Um was es hauptsächlich ging, hatte Savage damit wohl klar ausgesprochen: Berichterstattung dieser Art konnte er im Moment einfach nicht brauchen.
»Es sind Fotos von Wettkämpfen. Nichts Anstößiges«, beruhigte sie ihn dennoch. »Ansonsten nur handschriftliche Notizen. Irgendwelche Listen, die er sich gemacht und in Ordnern abgeheftet hat.«
»Dann wird diese Frau also nicht damit an die Medien gehen?«
Die plötzliche Offenheit, was Savages wahre Absichten betraf, amüsierte sie insgeheim. Letztendlich war er doch in erster Linie ein Politiker, dem es um seine Kandidatur ging. »Sie wird nicht aktiv an die Presse gehen. Und von der Existenz dieses Fotos und des Briefes weiß niemand außer mir; kein Journalist, meine ich.«
»Na dann.« Savage lachte – ein joviales, verständnisvolles Lachen. »Hören Sie, ich werde Cory von unserem Gespräch erzählen. Sie wirken auf mich wie eine Journalistin, die verantwortungsbewusst mit Informationen umgeht. Vielleicht möchte meine Frau ja doch etwas beisteuern.«
Savages Worte waren wie Balsam auf Julias Seele.
»Ihre Telefonnummer habe ich ja«, fuhr er fort. »Gibt es vielleicht noch eine Adresse, quasi für alle Fälle?«
Julia nannte ihm die der Pension.
Nachdem sie das Telefonat beendet hatte, verließ sie mit gemischten Gefühlen das Hotel. Weiter hier auf Corina Savage zu warten, hatte wohl keinen Sinn. Ob Corina sich allerdings wirklich melden würde, stand in den Sternen.
In ihrer Pension schaltete sie das Notebook an. Von den fünf neuen Mails stammten drei von Egle. Im ersten fragte er höflich nach dem Stand der Dinge, im zweiten bat er um sofortigen Rückruf. Im dritten, das er gegen neun Uhr abends weggeschickt hatte, teilte er ihr mit, dass er bis morgen früh, neun Uhr, zumindest einen Teaser für die Geschichte erwarte. Es war klar, dass es in ihm brodelte.
Todmüde fiel Julia ins Bett.