Wien, Am Spittelberg
Im Untergeschoss des Biedermeier-Hauses brannte Licht. Hinter den transparenten weißen Gardinen erkannte Julia die Umrisse von Rita, die dabei war, sich Frühstück zuzubereiten. Als sie im überdachten Eingangsbereich stand, hörte sie die elektrische Kaffeemühle rattern. Julia nahm die Außentreppe rechts und stand Augenblicke später vor Natalias Wohnungstüre.
Sie drückte auf den Klingelknopf.
Ungeduldig wartete sie auf ein Lebenszeichen. Ein Windstoß fegte über den Hof, zerzauste ihr Haar und ließ sie frösteln. Anders als in ihrem Traum herrschte an diesem frühen Morgen keine Frühlingsstimmung.
Als sich nach fünf Minuten immer noch nichts rührte, ließ sie ihren Finger auf dem Klingelknopf ruhen. Sie war nervös, hatte keinen Plan. Die Tragweite ihrer Entdeckung war ihr wohl bewusst und bescherte ihr ein flaues Gefühl im Magen.
Die Türe wurde so ruckartig aufgerissen, dass Julia reflexartig zurücksprang und ins Taumeln geriet. In letzter Sekunde bekam sie noch das Geländer zu fassen. Die Frau, die in einem übergroßen T-Shirt mit dem plakativen Aufdruck eines US-amerikanischen Modelabels im Türrahmen stand und sie verschlafen, aber auch mit unverhohlener Skepsis betrachtete, war nicht Natalia. Der solide Kurzhaarschnitt und die gesamte Körperhaltung sprachen Bände.
Eine ganze Weile starrten sie sich schweigend an, beide bemüht, sich einen Reim auf diese Begegnung zu machen. Dann riss eine vertraute Stimme Julia aus ihrer Erstarrung.
»Wer um Himmels willen ist das?«
»Keine Ahnung. So eine Tussi mit Perlohrringen.«
Die Kurzhaarige sprach das aus, als handle es sich um die größte stilistische Verfehlung.
»Was willst du hier?« Natalia drängte die Frau im T-Shirt zur Seite. Sie trug einen Seidenkimono, der knapp oberhalb der Knie endete. Ohne es zu wollen, schaute Julia ihr auf die schlanken, dennoch muskulösen Waden. »Bist du verrückt geworden? – Es ist Viertel vor sechs morgens!«
Das purpurne Tuch. Ich weiß, dass du bei Tabor warst, in der Mordnacht. – Die Worte wollten nicht kommen.
»Wer ist die da?«, platzte Julia stattdessen heraus. »Und was macht sie in deiner Wohnung, um diese Zeit? Hast du etwa was mit der?«
Die Kurzhaarige schlug sich gegen die Stirn und schnaubte. Natalia holte tief Luft und trat über die Schwelle. Sogar die Morgendämmerung konnte ihren Ärger nicht verhüllen.
»Die da ist Conny, eine Freundin. Nicht, dass dich das irgendetwas anginge! Habe ich dir gestern nicht klar gesagt, dass ich dir nichts mehr zu sagen habe? Geh und lass mich in Ruhe!«
»Ich weiß, dass du bei Tabor warst.« Die Aussage klang blechern, doch Julia wusste noch immer nicht, wie sie dieses heikle Gespräch führen sollte.
»Wovon redest du?« Natalia klang kein bisschen freundlicher.
»In der Nacht, in der er starb! Du warst es, die ihm das Messer in den Oberkörper gerammt hat, nicht Ani!«
»Was du alles herausfindest.«
Natalias Miene verriet nicht, was wirklich in ihr vorging. Julia konnte sich jedoch vorstellen, dass sie es mit der Angst zu tun bekam. Das perfekte Verbrechen war eben nicht so perfekt, wie sie wohl angenommen hatte. Der Plan, den Mord Ani in die Schuhe zu schieben, war an einem verräterischen purpurnen Halstuch gescheitert …
»Am besten kommst du erst mal rein.«
Julia blinzelte. Damit hatte sie nicht gerechnet.
In ihrem Kopf arbeitete es. Was, wenn ihr Natalia nun den Mord wirklich gestand? – Dann musste sie wohl die Polizei verständigen. Oder, schlimmer noch: Natalia gestand ihr zwar den Mord, wollte sich aber keineswegs stellen. Dann ging es ihr wohl darum, die einzige Mitwisserin zu beseitigen – sie!
»Kommst du jetzt? Du wolltest doch mit mir reden, oder?«
Natalia klang nun etwas freundlicher. Taktik?
»Oder hast du etwa Angst, dass ich nun, wo ich so in Übung bin, schon ein scharfes Küchenmesser für dich bereithalte? Mach dir keine Sorgen. Wir sind ja nicht allein. Conny ist hier und Rita wohnt unten. Sobald ich nach dem Messer greife, kannst du laut schreien. Und falls es dich beruhigt: Ich hab’s gern schön. Blutflecken verderben das Ambiente.«
Zögerlich betrat Julia das Innere der Wohnung. Conny hantierte in der Küche an der Kaffeemaschine.
Mit einer vagen Handbewegung gab Natalia Julia zu verstehen, dass sie am Esstisch Platz nehmen sollte.
»Will sie auch einen Kaffee?«, fragte Conny.
»Sie hat einen Namen. Julia Resnitz«, giftete Julia. »Ich bin Journalistin.«
»Du willst also keinen Kaffee?«, fragte Conny nach und richtete sich diesmal direkt an sie. Julia presste die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf. Sie hatte keine Lust, von dieser Frau irgendetwas entgegenzunehmen.
Conny servierte Natalia einen Espresso und läutete den Rückzug ein: »Ich verschwinde dann mal im Badezimmer und lasse euch in Ruhe reden.«
»Also, erzähl mir deine Theorie doch bitte mal genau«, ergriff Natalia das Wort. »Ich bin also nachts zu seinem Haus geschlichen, habe bei ihm angeklingelt und kaum hat er geöffnet, zack-zack … habe ich ihm ein Messer in den Bauch gerammt?«
»Vorher hast du noch mit ihm gestritten – so laut, dass es die Nachbarn hörten.«
»Und worüber?«
»Über die Sache mit Ani und dir natürlich. Und darüber, dass er dich zum Krüppel geprügelt hat. Vielleicht wolltest du ein Schuldgeständnis von ihm, irgendein Anzeichen von Reue. Als nichts kam, bist du durchgedreht.«
Natalia zog ihre schmal gezupften Augenbrauen nach oben.
»Zum Krüppel geprügelt?«
Julia fühlte, wie ihr die Röte in den Kopf stieg. Verdammt. Sie wusste doch normalerweise mit Worten umzugehen!
»Tut mir leid. – Ich habe die Narben an deinem Oberschenkel gesehen, in dieser Talk-Show.« Sie schluckte, wusste nicht mehr, wie sie aus der Schlinge, die sie selbst um ihren Hals gelegt hatte, entkommen sollte. »Der Streit ist jedenfalls eskaliert …«
Natalia griff sich in einer theatralischen Geste ans Herz.
»Es war also gar kein Mord! Ich habe Tabor aus Wut erstochen! – Da bin ich aber erleichtert. Auf Totschlag steht eine geringere Strafe, richtig?«
»Das ist nicht lustig.«
Natalia lehnte sich nach vorn.
»Doch, ist es. Weil die Sache zwei Schönheitsfehler hat: Ich wusste bis zu dem Zeitpunkt, an dem ich vom Mord an Tabor erfahren habe, nicht einmal, dass er hier in Wien wohnt. Und ich hatte überhaupt kein Motiv mehr, ihn zu töten. Wie du siehst, lebe ich ein gutes Leben. Glaubst du im Ernst, ich würde das alles aufs Spiel setzen, um mich für etwas zu rächen, das mehr als fünfzehn Jahre zurückliegt? – Tabor wurde verurteilt, das war für mich ausreichend.«
»Er hat dich und Ani entzweit.«
»Himmel, Julia!« Natalia machte eine ausladende Geste. »Meine Liebe zu Ani ist in dem Augenblick gestorben, als sie vor der Direktorin behauptete, ich hätte sie gegen ihren Willen verführt.« Sie seufzte. »Julia, ich kann mich nur wiederholen: Was immer du schreibst – halte mich da raus!«
Julia zog die Augenbrauen hoch.
»Als Tabor am Boden lag, bist du weggerannt. Auf deiner Flucht hast du im Stiegenhaus den purpurnen Seidenschal verloren, den du an diesem Tag getragen hast.«
»Schönheitsfehler Nummer drei: Ich habe gar keinen purpurfarbenen Seidenschal!«
»Hör auf, mich zu belügen!« Julia wurde ärgerlich. »Ich habe deine Tücher selbst gesehen, gestern im Badezimmer! Die neue Kollektion! Erkläre mir, wie einer dieser Seidenschals in Tabors Haus in den 15. Bezirk kommt, wenn du angeblich nicht dort warst!«
»Ach, komm, Julia … ich bitte dich!«, protestierte Natalia. »Ich bin in Wien nicht die einzige Frau mit Seidenschals! Selbst wenn es wirklich einer von mir wäre, hätte ich keine Ahnung, wie er dort hinkommt. Außerdem stand in der Zeitung, der Fall sei geklärt. Anis Fingerabdrücke waren auf dem Messer, an ihr klebte Blut von Tabor und in deinen Augen soll trotzdem ich es gewesen sein?«
»Ani war in derselben Nacht dort, aber da war Tabor schon tot. Sie hat das Messer angefasst, sich zu ihm hinuntergebeugt. Sie ist so durcheinander, dass sie wegrennt und …«
»Und sich dann Stunden später von der nächstbesten Brücke stürzt«, vollendete Natalia den Satz für sie. »Das klingt ja alles sehr schlüssig. Damit wirst du sicher den Pulitzerpreis gewinnen.«
Spott lag in ihrer Stimme.
Julia merkte selbst, wie unausgereift ihre Theorie war, vor allem, weil sie andere wichtige Faktoren rigoros ausblendete: die Bulgaren und Tabors plötzlichen angeblichen Geldsegen, beispielsweise.
»Nochmal: Ich bin sicher, dass es keiner von meinen Schals ist! Niemand konnte an sie rankommen, weil sie noch gar nicht im Vertrieb sind.«
»Ähm … ich geh dann mal Semmeln holen, okay?« Conny stand vor ihnen, jetzt in Jeans und Pulli. »Was ist mit dir?«
»Julia wollte sowieso gehen«, erwiderte Natalia.
»Nein, wollte ich nicht!«, protestierte Julia. So einfach würde sie sich nicht wieder rausschmeißen lassen. »Erst will ich die Wahrheit wissen!«
Conny runzelte irritiert die Stirn. Natalia hob die Schultern.
»Tut mir leid«, wandte sie sich an Conny. »Ich hätte uns beiden auch ein entspanntes Frühstück gewünscht – vor allem zu einer späteren Uhrzeit.«
»Kein Problem. Ich gehe jetzt zum Bäcker, und vielleicht habt ihr beide bis dahin ja die Situation geklärt.«
Damit verschwand sie. Natalia stand auf.
»Ein gutes Stichwort: die Situation klären«, sagte sie. »Da du so verbohrt auf diesem Schal herumreitest, werde ich dir beweisen, dass es keiner von meinen ist. Und wumms – fällt deine gesamte hübsche Theorie zusammen wie ein Kartenhaus!«
Sie ging ins Badezimmer, kam mit dem Korb voller Tücher und Schals wieder und stellte ihn auf den Küchenboden. Dann hockte sie sich daneben.
»Fünfunddreißig sind es«, sagte sie, ehe sie demonstrativ zu zählen begann: »Eins … zwei … drei …«
Julia sah zu, wie der Inhalt des Korbes sich lichtete.
»… zweiunddreißig, dreiunddreißig, vierunddreißig …«
Sekundenlang starrte Natalia wie betäubt in die gähnende Leere. Dann hob sie den Kopf.
»Ich weiß nicht, wo dieser Schal ist«, sagte sie dann ernst. »Es muss eine Erklärung dafür geben.«
»Er ist in der Wohnung einer alten Serbin, die ihn im Stiegenhaus gefunden hat«, ließ Julia sie triumphierend wissen. »Da, wo du ihn in der Nacht verloren hast!«
»Du machst mich wahnsinnig, wirklich!« Natalia erhob sich. »Zum letzten Mal: Ich war dort nicht, und ich hatte mit Tabor, Ani und irgendwelchen anderen aus Deva nichts mehr am Hut! Von mir aus geh zur Polizei und bring deine komischen Anschuldigungen vor. Die werden dich auslachen, das kann ich dir versprechen! Und jetzt raus!«
Julia sah ein, dass sie hier nicht mehr weiterkam.
Als sie in ihren Mantel schlüpfte, ließ sie ihren Blick nochmals durch den Raum schweifen. Auf dem Sofa entdeckte sie zerwühltes Bettzeug. Ein Kissen, eine Decke. Dann hatte diese Conny wohl dort geschlafen?
Ihr Blick blieb an einem silbernen Gegenstand auf dem Couchtisch hängen, der sofort ihre Aufmerksamkeit weckte. Mit ein paar schnellen Schritten war sie dort und nahm das Schmuckstück an sich. Als sie es aufklappte und das Foto des Kindes beiseiteschob, sah sie die Inschrift.
»Und was ist damit? Du hattest seit damals mit niemandem Kontakt mehr, ja? Ist Anis Medaillon dir zugeflogen?«
»Gib das her!«
Natalia riss ihr den Schmuck aus der Hand.
Julia lachte hilflos.
»So sehr bist du also über Ani hinweg!«
»Hör auf!«
Natalia zitterte. Ob vor Wut oder vor Verzweiflung, vermochte Julia nicht zu sagen. Im Gegensatz zum Vorabend hatte sie in diesem Moment kein Mitleid mit ihr.
»Ich werde dranbleiben. Es gibt Zeugen, die dich schon vorher in Tabors Haus gesehen haben«, stellte sie provokant in den Raum. »Ich werde dahinter kommen, was wirklich passiert ist, das kann ich dir versprechen!«
»Solange du dich auf irgendwelche Fotos, Briefe, Halstücher und Liebesgeschichten versteifst und anderes unbeachtet lässt, ganz sicher nicht!«
Natalia schien sich wieder gefangen zu haben. Das Medaillon fest umschlossen, brachte sie Julia zum Ausgang.