Wien, unterwegs

»… nichts von Ihnen gehört! Ich erwarte mir zumindest einen Rückruf, wenn Sie mir schon keinen verdammten Teaser liefern können!« Egle brüllte so laut ins Telefon, dass Julia das Handy weghalten musste, um keinen Trommelfellschaden zu erleiden. »In zehn Stunden ist Deadline, und Sie haben noch immer keine Ahnung, in welche Richtung die Geschichte geht! Sie stellen sich damit ein journalistisches Armutszeugnis aus, Frau Resnitz! Ich bin schwer enttäuscht!«

Das war ja klar, dachte Julia, während sie in Anbetracht von Egles cholerischem Ausbruch unter ihrem Mantel zu schwitzen begann.

»Es gibt neue Fakten«, hielt sie ihm entgegen. »Es hat sich herausgestellt, dass die Hauptzeugin der Polizei nicht die Wahrheit erzählt hat. Sie hat ausgesagt, sie hätte Anima Nicolescu weglaufen sehen. Was sie aber nicht erzählt hat: Da waren angeblich noch zwei Bulgaren, und es gibt Beweise dafür, dass Gordana, also die Hauptzeugin –«

Doch Egle fuhr ihr hart ins Wort.

»Spielen wir jetzt Polizei? – Sie sollen eine plausible Geschichte schreiben. Das ist Ihr Job

Hörte er ihr eigentlich zu?

»Tue ich doch! – Ich habe herausgefunden, dass die Abläufe anders gewesen sein müssen, als sie es angegeben hat. Denn da war so ein Russe auf dem Gang, und sie sagte, der hätte noch immer herumgeschrien, als sie vom Stiegenklo kam

Julia mühte sich, beim Reden die Mischung aus monotonem, leisem Rattern und Stimmengewirr zu übertönen, die sie umgab. Die Mitreisenden um sie herum dankten es ihr mit neugierigen Blicken. Etwas leiser fuhr sie fort: »Aber in Wahrheit war die Zeugin wohl in Tabors Wohnung. Sie hat dort ein Tuch mitgehen lassen, das eine andere Frau verloren hatte, die in dieser Nacht auch bei Tabor war

Sogar ihr selbst fiel auf, wie verwirrend sich ihre Argumentation für Außenstehende anhören musste. Egal. Sie hoffte inständig, dass wenigstens Egle ihr gedanklich folgen konnte.

»Und warum hat diese Gordana dann eine Falschaussage gemacht

Julia atmete auf. Zumindest fuhr er ihr nicht gleich wieder ins Wort.

»Weil sie in der Wohnung den toten Tabor entdeckte und sich mit seiner Palme davonstahl. Sie wusste doch genau, dass sie nichts mitnehmen darf! Also schlich sie zurück in ihre eigene Bude und rief eben nicht die Polizei

»Wegen einer PalmeEgle spuckte das Wort beinahe durch das Handy. »Sie glauben auch alles, was man Ihnen erzählt! – Was wird eine Frau namens Gordana wohl schon in einer fremden Wohnung gesucht haben, und warum hat sie nicht die Polizei gerufen? Hmm? Klingelt es da bei IhnenEr gab die Antwort gleich selbst. »Geld natürlich, was sonst? – Und da sie fündig wurde, hat sie nicht die Polizei gerufen. Vorausgesetzt überhaupt, ihre Geschichte stimmt

Eine Frau namens Gordana.

Julia ließ sich den Satz auf der Zunge zergehen.

Ihr Artikel über Bezness mit arabischen Männern wurde nicht gedruckt, weil ihr dabei latenter Rassismus unterstellt wurde, aber der Chefredakteur tobte sich ungeniert auf der Spielwiese seiner Vorurteile aus!

»Sie ist völlig vernarrt in Pflanzen

»Frau Resnitz, wir haben keine Zeit, über die menschliche Psyche zu diskutieren!«, fuhr ihr Egle hart ins Wort. »Vielleicht hat Ihnen Ihre Informantin Gordana«, wieder sprach er den Namen mit leiser Verachtung aus, »einen Bären aufgebunden? Vielleicht hat sie Tabor sogar selbst abgestochen, und das ehemalige Turnermädchen war nur zur falschen Zeit am falschen Ort? Schon mal daran gedacht

Er machte eine kurze Pause, gab Julia aber dennoch keine Zeit für Einwände.

»Abgestochen, weil er bei ihr Schulden hatte, sie nicht zurückzahlen konnte, was auch immer. Aber solange wir keine stichhaltigen Beweise für die Vielleichts haben, halten wir uns an die Fakten: Tabor lag mit Stichwunden tot in seiner Wohnung, Anima Nicolescu trug sein Blut an Händen und Kleidung und stürzte sich Stunden später in den Tod. Das ist eine plausible Geschichte, Frau Resnitz! Und wenn ich die bis heute, 15 Uhr, nicht in meinem Mailfach habe, vergebe ich die dafür reservierten Seiten an Ihren Kollegen Ritter! Der wartet bereits mit einer sehr fundierten Recherche über kriminelle Machenschaften bei deutschen Automobilkonzernen auf und hat auch schon einen Teaser geschickt. Entweder Sie liefern oder werden gar keine Artikel mehr im Rowendson-Verlag unterbringen, das ist Ihnen hoffentlich klar! Das ist Ihre Feuerprobe

»Aber …«, setzte Julia an, doch das Freizeichen ließ sie abbrechen. Egle hatte aufgelegt.

Bei der nächsten Haltestelle stieg sie aus. Sie brauchte Ruhe, einen kühlen Kopf. Als die Straßenbahn die Wartenden aufgesammelt hatte und ohne sie selbst weitergefahren war, ließ sie sich auf der kalten Metallbank im Häuschen sinken.

Egle hatte letztendlich recht. Sie hatte keine Beweise. Letztendlich phantasierte sie momentan genauso ins Blaue hinein wie der Chefredakteur mit seiner abenteuerlichen Version, Gordana selbst könnte Tabor ermordet haben.

Wenn sie darüber nachdachte, kam ihr das nicht einmal mehr so abwegig vor. Gordana verschwieg etwas. Und sie hatte selbst erlebt, wie hitzköpfig die Frau war, wenn es um ihre Pflanzen ging. Womöglich hatte sie Tabor im Affekt abgestochen, weil er ihre geliebte Palme verdursten ließ? Aber auch diese gewagte These gab keine Antwort darauf, wie Natalias Seidentuch in Tabors Wohnung gekommen sein konnte.

Etwas anderes dagegen war eine Tatsache: Corinas aufreizendes Jugendfoto und ihr Liebesbrief. Julia grübelte. Letztendlich hatte sie Robert Savage am Telefon nichts versprochen. Und Egle hatte ihr Geld geschickt. Auch wenn sie sich nicht ganz wohl dabei fühlte, diese Geschichte ans Licht zu bringenes war die einzig Stichhaltige, die sie liefern konnte. Und ihre Feuerprobe musste sie auf jeden Fall bestehen.