Autobahn A1 zwischen Raststation Steinhäusl und Wien, Karfreitag

Es war kein guter Tag gewesen. Die Hälfte der Arztpraxen hatte am Karfreitag, der in Österreich nur für Protestanten gesetzlicher Feiertag war, geschlossen. Die anderen waren überlaufen.

Andi Knott hatte sich mit seiner Tasche, auf der das Logo des Pharmakonzerns prangte, tapfer in die wartende Schar hustender, niesender und jammernder Patienten geworfen, um letztendlich dann doch von der Assistentin abgewiesen zu werden. Die Ärzte hatten weder Zeit noch Lust auf Gespräche zum x-ten Diabetes­medikament, noch dazu ein teures, das von den Kassen nur nach umfangreicher Begründung durch den verschreibenden Arzt gezahlt wurde.

Knott konnte die Ärzte verstehen. Warum sich Mehrarbeit antun, wenn es günstigere Alternativen gab? Die wirkten vielleicht nicht ganz so gut, aber den HbA1C-Wert senkten sie allemal.

So rückte er eben Tag für Tag aus und versuchte, in den Köp­fen der Ärzte Informationen zu verankern, die sie entweder längst kannten oder gar nicht erst interessierten. Ärztemuster durfte er nur noch in geringen Mengen abgeben; Kongresseinladungen waren rar. Wenn Knott da knallhart Bilanz zog, fragte er sich ernsthaft, wieso es überhaupt noch Ärzte gab, die Pharmareferenten empfingen. Er konnte ihnen im Grunde fast nichts bieten.

Seine Arbeit war frustrierend. Pharmareferent war nie sein Traumjob gewesen, wirklich nicht. Ein Freund hatte ihm dazu geraten, als er nach einem abgebrochenem Lehramtstudium einen Job suchte. Inzwischen verdiente er deutlich besser als seine damaligen Kommilitonen, die sich täglich mit einer Horde Pubertierender herumschlagen mussten, und fuhr einen sportlichen Audi A3 als Dienstwagen. Wenn er abends jedoch auf der Couch seines Zwei-Zimmer-Appartements im 3. Bezirk saß und mit dem firmeneigenen iPad im Internet surfte, empfand er eine innere Leere, die ihm Angst machte. Wie sollte das weitergehen? Er war schließlich erst vierzig, hatte also noch über zwanzig Jahre bis zur Pension!

Während Knott die Westautobahn von St. Pölten in Richtung Wien fuhr, vorbei am Knoten Steinhäusl, dachte er an das kommende Wochenende. Ostern. Am Karsamstag waren die Kids bei seiner Ex. Am Ostersonntag spielten sie noch einmal Familie, den Kids zuliebe. Und am Ostermontag fuhr er dann nach Graz zu seinen Eltern, um sich dort wenigstens kurz blicken zu lassen. Der Kids wegen hatte er auch darauf verzichtet, an diesem mühsamen Karfreitag Urlaub zu nehmen. Er brauchte seine freien Tage ja noch, um im Wechseldienst mit der Ex die Schulferien zu überbrücken.

Eigentlich ist das mit den Ferien seit der Scheidung sogar leichter als zuvor, dachte Knott, während er einen Kleinwagen mit ungarischem Kennzeichen überholte. Immerhin konnten sie sich die Betreuung ohne gemeinsamen Familienurlaub besser aufteilen.

Andererseits war ihm erst seit dem vergangenen Sommerdem ersten nach der Scheidungbewusst geworden, dass Mallorca mit zwei lebhaften achtjährigen Zwillingstöchtern allenfalls eine Ortsveränderung brachte, aber die Bezeichnung Urlaub nicht verdiente. Nicht einmal ein Bier an der Strandbar hatte er trinken können, ohne

Wumms!

Mit voller Wucht prallte etwas von oben auf die Kühlerhaube. Automatisch trat Knott die Bremse durchund verlor vollends die Kontrolle über den Wagen. Das Auto schlingerte, drehte sich um die eigene Achse, wurde auf der anderen Seite der Fahrbahn von der Leitplanke gestoppt. Hinter sich hörte Knott das Geräusch quietschender Reifen und einen weiteren heftigen Knall. Blech auf Blech.

Dann war es schlagartig still. Knott, der noch immer das Steuer umklammert hielt, schloss die Augener lebte …!

»Hej, Siegeht es Ihnen gut? Sind Sie verletzt

Ein Mann in seinem Alter, in Anorak und Jeans, klopfte an die Seitenscheibe. Knott ließ sie herunter. Seine Finger zitterten.

»Weiß nicht …« Er war selbst überrascht, wie dünn seine Stimme klang. Irritiert drehte er den Kopf zur Seite. Die Beifahrerseite war eingebeult. Durch die Windschutzscheibe zog sich ein tiefer Riss. Als er seinen rechten Arm hob, stellte er erleichtert fest, dass die Bewegung nicht wehtat.

Die Sicht auf seinen Unterkörper wurde ihm vom Airbag versperrt. Seine Beine fühlten sich intakt an. Soweit er das feststellen konnte, war ihm tatsächlich nichts passiert.

»Ich denke, ich bin okay

Mit der Hilfe des Mannes schälte er sich aus seinem zerbeulten Auto. Seine Knie zitterten so stark, dass er sich auf der deformierten Kühlerhaube abstützen musste.

»Mensch, Mensch, Sie hatten wirklich Glück im Unglück«, fuhr der Mann fort, der der Aussprache nach aus Deutschland stammen musste. »Gut, dass heute wenig Verkehr ist, sonst wären wir alle nicht so glimpflich davongekommen. Bei den Ungarn da hätte nicht viel gefehlt …« Er wies mit dem Kinn in Richtung des Kleinwagens, dessen Heck nun im Innenraum saß. Ein Sprinter, der dicht hinter dem Auto gewesen sein musste, hatte wohl nicht mehr rechtzeitig bremsen können und war ebenfalls auf halbe Länge zusammengequetscht. Seine zwei Insassen, ein Mann und eine Frau, hockten vor dem Gefährt auf dem blanken, nassen Asphalt. Eine andere Frauoffenbar die Fahrerin des BMW, der rechts am Pannenstreifen abgestellt worden warkümmerte sich um die beiden und rief winkend herüber.

»Keine Sorge, die sind nicht schwer verletzt, soweit ich das auf den ersten Blick beurteilen kann

Zwei LKWs blockierten mit eingeschalteter Warnblinkanlage inzwischen beide Spuren. An der Unfallstelle kam damit vorerst niemand vorbei. Stau baute sich auf. Einer der LKW-Fahrer stieg aus und sah sich kurz um, dann setzte er sich zielstrebig in Richtung eines dunklen Bündels in Bewegung, das in einigem Abstand mitten auf der Fahrbahn lag.

»Hej, lass das lieber!«, rief der Deutsche ihm zu. Der LKWFahrer hielt kurz inne, setzte dann aber seinen Weg fort.

»Ah, verdammt! Warum hört der nicht? – Das ist die einzige, die es hier wirklich schlimm erwischt hat; für die können wir echt nichts mehr tun! Allerdings hat sie diese Katastrophe hier auch ausgelöst

Der LKW-Fahrer hatte das Bündel nun erreicht. Er bückte sich, richtete sich wieder auf, bekreuzigte sich.

Inzwischen näherten sich auch die ersten im Stau Stehenden der Unfallstelle. Ein paar hielten Mobiltelefone in der Hand und filmten.

Übelkeit stieg in Knott auf. Ihm wurde so schwindlig, dass er sich gegen sein Auto lehnen musste. Erst jetzt fiel ihm das Blut auf der Kühlerhaube auf.

»Waswas ist eigentlich passiert

»Ja, haben Sie es denn nicht gesehenDer Deutsche schien völlig überrascht. »Eine Frau ist von der Brücke auf die Fahrbahn gesprungen, direkt vor Ihren Wagen

Automatisch sah Knott zur Brücke. Eine Gestaltnicht allzu groß und mit einer Baseballkappe auf dem Kopfstand am Geländer und sah hinab auf die Unfallstelle. Durch die Lamellen des Brückengitters nahm er einen kleinen schwarzen Schatten wahr, vermutlich ein Hund.

Herrgott, warum hatte dieser Spaziergänger nicht ein paar Minuten früher vorbeikommen können! Vielleicht hätte er die Frau noch zurückhalten können!

»Hej, Sie da, rühren Sie die Tote nicht an! Sie machen sich strafbar

Der harsche Ton, den der Deutsche nun anschlug, lenkte Knotts Aufmerksamkeit zurück auf die Szenerie um ihn herum.

Ein junges Pärchen hatte offenbar gerade versucht, die liegende Frau so zu drehen, dass man ihr Gesicht sehen konnte. Nun zuckte es erschrocken zusammen und wandte sich ab. Die Lust zu filmen war den beiden vergangen.

Wie von selbst setzten sich Knotts Füße in Bewegung. Das Zittern in seinen Knien ließ nach, sobald er die ersten Schritte zurückgelegt hatte. Die letzten Meter lief er sogar, bahnte sich einen Weg durch die Schaulustigen und stand schließlich vor der am Boden liegenden Frau.

Sie lag auf der Seite, das rechte Bein merkwürdig abgewinkelt. Aus ihrem Kopf rann Blut, das ihr dunkles Haar bereits an einigen Stellen durchtränkt hatte. Vom Gesicht war nicht mehr viel übrig, trotzdem nahm er an, dass es eine hübsche Frau gewesen sein musste. Der schwarze Wollmantel gab ihre schlanke Figur frei. Ihre Fingernägel waren dunkelrot lackiert. Sie trug einen Ehering. Eine Kette mit einem Medaillon lag um ihren grotesk verrenkten Hals. Der silberne Anhänger war aufgesprungen und zeigte das Bild eines kleinen, blonden Jungen, der fröhlich in die Kamera lachte.

Knott starrte wie hypnotisiert auf das Foto.

Die Frau, die auf sein Auto gefallen war, hatte einen Mann und ein Kind. Eine Familie. Und nun war sie tot.

Schuldgefühl stieg in ihm auf. Sie war auf sein Auto gefallen. Einem irrationalen Bedürfnis folgend, griff er wie zum Trost nach ihrer Hand. Sie fühlte sich erstaunlich warm an; wärmer als seine eigene. Jemand fotografierte ihn und die Tote. Er konnte das Klicken der Handykamera deutlich hören. Das wurde alles zu viel. Jetzt und überhaupt.

Ohne zu wissen, was ihn dazu bewog, zog er an der Kette mit dem Medaillon. Sie war gerissen; das Schmuckstück ließ sich mühelos abnehmen. Er bemerkte, dass jemand filmte, wie er es in seiner Jackentasche verschwinden ließ, schenkte dem aber keine weitere Beachtung. Ihm war viel zu übel und schwindlig. Er wollte weg, sich verkriechen. Mit gesenktem Kopf schlich er zurück zum Wagen und verkroch sich darin. Aus der Ferne war jetzt das lauter werdende Martinshorn zu hören.

Doch selbst als er rund eine Stunde später von Sanitätern versorgt wurde, fühlte er sich noch schrecklich. Die Aussicht, in die leere Wohnung zurückzukehren und niemanden zu haben, mit dem er hätte sprechen können, machte ihn fertig. Während die Infusion mit dem Beruhigungsmittel langsam von der Plastikflasche in Knotts Blutkreislauf überging und ihn allmählich schläfrig machte, wurde ihm bewusst, dass er die Frau sogar verstand.

Selbst wenn sie sich nur halb so einsam gefühlt hatte wie er, konnte er ihre Entscheidung nachvollziehen.