Wien, 1. Bezirk

Corina verschloss den zweiten Koffer zusätzlich mit einem kleinen, aber stabilen Schloss, das sie kurz zuvor in einem Baumarkt besorgt hatte. Auf einer Reise in die USA hätte ein Zusatzschloss wie dieses an einem ohnehin gesicherten Samsonite-Koffer bei den Zollbeamten Argwohn geweckt und dazu geführt, das Gepäckstück aufzubrechen. Da ihr Flug jedoch nach Bukarest ging und der Koffer samt Inhalt dort bleiben würde, war nichts zu befürchten. Ihre Ersparnisse waren jedenfalls gut investiert.

Sie ließ den Schlüssel in ihrer Handtasche verschwinden. Später in Seattle würde sie dafür ein sicheres Versteck finden. Ein letztes Mal sah sie sich in dem Hotelzimmer um, das ihr zwei Nächte als Unterkunft gedient hatte. Das Einzige, was von ihr in Wien bleiben sollte, waren die Schuldgefühle, die sie jahrelang mit sich herumgeschleppt hatte.

Ihre Koffer links und rechts hinter sich herziehend, ging sie zum Lift und fuhr nach unten. In der Lobby herrschte das übliche Kommen und Gehen. Die erste Welle der Gäste, die wie auf eine geheime Absprache hin immer gleichzeitig auschecken mussten, war schon abgeklungen. Nachdem die Rezeptionistin den Japaner vor ihr abgefertigt hatte, war sie an der Reihe.

»Bitte rufen Sie mir ein Taxi zum FlughafenSie warf einen kurzen Blick auf ihre Armbanduhr. »In zwanzig Minuten

»Sehr wohl

Mit den Koffern setzte sie sich in die Lobby, die auch als Bar und Café diente. Nachdem sie sich eine letzte Wiener Melange bestellt hatte, griff sie zu einer der englischsprachigen Zeitschriften.

»Ms. Savage

Neben ihrem Tisch stand eine junge Frau, zierlich, einige Zentimeter kleiner als sie selbst, gekleidet in einen dunklen Wollmantel, der für das Frühlingswetter eindeutig zu warm war. Die braunen Locken reichten bis weit unters Kinn und schrien nach einem Friseurbesuch.

»Ich bin Julia Resnitz vom deutschen Nachrichtenmagazin Brennpunkt

Mit einem breiten, etwas verkrampften Lächeln streckte sie ihr die Hand entgegen.

Eine Journalistin also. Das fehlte noch. Corina zögerte erst, die Hand zu nehmen, tat es dann aber doch.

»Worum geht es

»Darf ich mich setzen

Ohne eine Antwort abzuwarten, nahm die Frau mit den fransigen Haaren auf dem Polstersessel neben ihr Platz.

»Wenn es um meinen Mann geht und den Wahlkampf, wenden Sie sich bitte an die PressestelleCorina hatte eine vage Ahnung, was ein deutsches Nachrichtenmagazin von ihr wollen könnte. Erst vor zwei Wochen hatte eine spanische Frauenzeitschrift um ein Interview mit ihr gebeten für eine Serie über Europäerinnen in den USA an der Seite erfolgreicher Männer. Die Public-Relations-Experten hatten eine höfliche Absage erteilt. Ihr war das nur recht. Die Zeiten, in denen sie nach öffentlicher Aufmerksamkeit hungerte, lagen längst hinter ihr.

»Hat Ihr Mann nicht mit Ihnen gesprochen? Ich habe mit ihm telefoniert, er wollte meine Kontaktdaten an Sie weiterleiten.«

»Worum geht es denn bitte

»Ich schreibe einen Artikel über Ihren ehemaligen rumänischen Trainer und über Anima Nicolescu. Ich habe erfahren, dass Sie auf deren Beerdigung in Bayern waren. Mir geht es um die Hintergründe des Mordes. Sie haben ja damals –«

Der Kaffee wurde serviert. Die Journalistin ließ den Satz unvollendet und wartete, bis die Tasse abgestellt war.

Corina versteifte sich unwillkürlich.

»Ich habe dazu nichts zu sagen«, erklärte sie knapp. »Meine Aussage hat zur Verurteilung geführt; ich habe damals Medieninterviews dazu gegeben, Sie werden in Archiven fündig

»Ich habe Dokumente von Ihnen, die Ihre Aussage widerlegen oder zumindest stark relativieren. Sie hatten sie an ihn geschickt

»Tatsächlich

Corina wusste, dass dies nicht stimmen konnte. Im Besitz dieses Briefes und des Fotos konnte die Journalistin nicht sein.

»Und was genau wollen Sie jetzt von mir

»Die Wahrheit

»Die WahrheitCorinas Lachen war echt und kam von Herzen. Was Wahrheit ist und was Lüge, hängt immer von der Sichtweise ab. Dass es besser war, Journalisten irgendetwas zu liefern als sich zu verweigern, hatte sie bei den zahlreichen Medientrainings bei Susan Friday indessen hinreichend gelernt.

»Ich war ein Teenager in einer Turnanstalt mit lauter Mädchen. Mein ganzes Umfeld war weiblich, von der Direktorin bis über die Lehrerinnen hin zu meinen Mitschülerinnen. Wir hatten keinen Kontakt zu Jungs, verstehen Sie

Corina merkte, wie sich die Gesichtszüge der Journalistin etwas entspannten. Sie hatte trotz ihres forschen Auftretens wohl nicht wirklich damit gerechnet, eine Antwort zu erhalten. So jung, wie diese Julia Resnitz aussah, hatte sie möglicherweise keinen leichten Stand bei ihrem Blättchen. »Aber die Gefühle, die Neugierde, das alles war ja da. Und dann kam Tabor ins Spiel. Er war knapp über vierzig, sah blendend aus und verbrachte sieben Stunden am Tag mit uns. Ich war nicht die Einzige, die für ihn geschwärmt hat

»Angeblich hat er während des Trainings auch mal zugeschlagen und an den Turnerinnen herumgegrapscht«, warf Julia Resnitz ein. »Für so jemanden kann man doch nicht schwärmen, das war doch sicher …«

Das Englisch der Journalistin war einigermaßen flüssig, doch fehlte ihr die Eloquenz eines Andi Knott. Vermutlich hatte diese Julia noch nie länger im englischsprachigen Ausland gelebt.

»Die Grenze, wann Berührungen notwendig sind und wann nicht, verläuft beim Turnsport eher fließend«, hielt Corina ihr nun entgegen. »Was für die eine bloße Haltungskorrektur ist, kann von der anderen schon als Übergriff gewertet werden. Was die Schläge betrifft«, sie seufzte. »Ich weiß, es klingt für Sie schwer vorstellbar, aber so war eben unsere Realität. Wir waren das nicht anders gewohnt. Viele von uns kamen aus Familien, in denen es Gewalt gab, da waren die Klapse von Tabor harmlos

Sie nahm einen Schluck Kaffee, ehe er abkühlte. Der Milchschaum zerging süß auf der Zunge.

»Sie bestätigen also, dass sie in Tabor verliebt waren und später den sexuellen Missbrauch erfunden haben, weil er Sie abgewiesen hat

Da glaubte jemand, besonders schlau zu seinCorina stellte die Kaffeetasse langsam auf den Unterteller zurück.

»Meine Schwärmerei für Tabor endete, als er meine Turnkollegin Natalia Theodorescu vor meinen Augen vom Balken stieß und halbtot prügelte

»Sie haben ausgesagt, Tabor hätte Sie zum Oralsex gezwungen. War das davor oder danach

»Danach natürlich. Vorher hätte er mich ja vielleicht gar nicht zwingen müssenwobei es meine romantischen Teenagerträume sicher nicht erfüllt hätte

»Sie waren in der Halle, als Natalia vom Balken gestoßen worden ist. Obwohl Sie damals eigentlich ja schon als Physiotherapeutin tätig waren, nicht mehr als Turnerin

»Sie irren. Ich war damals noch Turnerin, wenngleich auch nicht für Olympia nominiert

»Wussten Sie da schon, dass Ihre sportliche Karriere zu Ende ist

Worauf wollte die Frau eigentlich hinaus?

»Ich war nicht dumm, natürlich lag das auf der Hand. Olympia war ja unser Ziel gewesen, und das stand plötzlich nicht mehr zur Debatte

»Wenn für Sie sowieso alles verloren war, warum haben Sie dann zugeschaut, als er auf Natalia einprügelte? Warum haben Sie nicht eingegriffen? Für Sie stand doch nichts mehr auf dem Spiel

Eigentlich war das eine sehr berechtigte Frage, dachte Corina. Mit einem Mal spürte sie das altbekannte Gefühl von Schuld und Traurigkeit wieder und beschloss, ehrlich zu antworten.

»Ich war wie betäubt, als es passierte. Schockiert, was ich da mit ansehen musste. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass so etwas passieren könnte

»Nunaber Sie selbst waren es doch, die Natalias Liebe zu Anima an Tabor und die Direktorin verriet. Hatten Sie wirklich gedacht, das würde einfach so akzeptiert

Corina starrte in ihren Kaffee. Sie hatte also schon mit Natalia gesprochen. Nur von ihr konnte sie das wissen. Natalia war ja bis vor Kurzem selbst davon überzeugt gewesen, dass sie, Corina, ihre Liebe verraten hatte.

»Nein, natürlich hatten Sie das nicht gedachtJulia Resnitz gab ihr nicht die Zeit, sich eine Antwort zurechtzulegen. »Sie haben diese Information ganz bewusst weitergegeben. Sie wollten Anima und Natalia damit schaden! – Also kommen Sie mir nun nicht mit der Version, dass Sie von Tabors Reaktion überrascht waren! Sie müssen damit gerechnet haben! Das wollten Sie doch, dass –«

»Was ich wollte, war Tabors Aufmerksamkeit«, fuhr Corina scharf dazwischen. Die Selbstherrlichkeit, mit der diese Journalistin sie beschuldigte, machte sie wütend. »Ja, ich war eifersüchtig. Eifersüchtig, dass er nur Augen für Anima hatte, sie als seinen Star sah und an mir immer nur herummeckerte. Der Brief und dieses Foto waren ein erbärmlicher Schrei nach Aufmerksamkeit. Aber erer hat mich ausgelacht, hat mich billige Schlampe genannt. Und ich war auch eifersüchtig auf das, was Ani und Lia verband. Nicht, dass ich irgendwelche andersgearteten Gefühle für Ani gehabt hätte, um Himmels willen! Es ging nur um Freundschaft. Aber Ani und Lia hingen nur noch aufeinander; tuschelten, kicherten, zogen sich von den anderen zurück. Bis dahin war Ani meine beste Freundin gewesen, wir kamen aus demselben Viertel, kannten uns von frühester Kindheit an. Nun zog sie sich immer mehr von mir zurück. Irgendwann entdeckte ich das Medaillon mit der Gravur. Mir fiel es wie Schuppen von den Augen. Meine Eifersucht kochte über …«

Corina schluckte. Sie hatte die Geschichte noch nie jemandem eingestanden, nicht einmal Natalia.

»Da haben Sie der Direktorin alles erzählt und das Medaillon als Beweisstück geliefert

»Nein, so war es nichtCorina atmete tief durch. »Ich sprach Ani direkt darauf an und stellte sie zur Rede. Ich sagte ihr, dass ich alles wüsste. Ich fürchte, ich habe keine schönen Worte gewähltDie Zeiten, in denen Homosexuelle wie Geisteskranke behandelt wurden, lagen noch nicht lange zurück. Ich habe diese Haltung damals nicht kritisch hinterfragt, wie auch? Mein Tag bestand aus hartem Training, nicht aus philosophischen Diskussionsrunden über Recht und Unrecht. – Ani begann zu weinen. Sie leugnete nichts. Sie sagte nur immer, wie sehr sie Lia liebt, dass sie mit ihr durchbrennen will, dass sie notfalls sogar Olympia hinwirftIch glaube, das war dann das Stichwort

»Das Stichwort wofür

»Wir führten unser heftiges Gespräch in der Umkleide, glaubten uns allein. Wir waren beide ziemlich aufgebracht, sprachen laut. Und Tabor warnun, er war wirklich kein Heiliger. Trieb sich gerne in der Nähe der Umkleiden herum, platzte manchmal auch herein, wenn wir noch unter der Dusche standen. Aus heutiger Sicht ist es ekelerregend und spricht zusätzlich dafür, dass er verurteilt wurde. – Ich bin ziemlich sicher, dass er alles mit angehört hat. Ani, sein Liebling, sein Aushängeschild, und dann so kurz vor Sidney! Jedenfalls stürzte er plötzlich in die Garderobe, packte sie ziemlich grob und schrie sie an. Was er sie alles nannte! Dagegen waren meine Bezeichnungen harmlos. Sie heulte, warf sich auf den Boden, flehte ihn auf Knien an, ihr zu vergeben. Es war schlimm

Sie senkte die Stimme.

»Er hat mich dann weggeschickt. – Als sie zwanzig Minuten später an mir vorbei in Richtung Toilette ging, nahm sie mich nicht einmal wahr. Sie blutete aus der Nase und war bleich wie die Wand. Sie wirkte wie tot. Was auch immer Tabor mit ihr angestellt hat, es hat sie vollends gebrochen. Sie funktionierte danach nur noch wie ein Roboter, lachte nie, sprach nur noch das Nötigste. Mit Lia wechselte sie kein einziges Wort mehr. Nicht einmal, als die von Tabor zusammengeschlagen wurde. Es war einfach so, als könne sie nichts mehr wahrnehmen außer Sidney und das Turnen

»Hat er sievergewaltigt

Corina hob die Schultern.

»Ich weiß es nicht

Eine Weile schwiegen sie beide. Der Journalistin ging die Geschichte offenbar nahe. Sie wirkte sichtlich betreten.

»Wie ging es dann weiter

»Wie durch ein Wunder holte Ani in ihrem Zustand dann doch noch Gold. Auf den Fotos und am Podest gelang ihr ein klitzekleines Lächeln. Danach wurde sie in Rumänien und besonders natürlich in Deva gefeiert, doch sie machte wieder vollkommen dicht. Sie blieb noch zwei Jahre, dann ging sie zurück nach Bukarest. Ich war da schon für eine Modelagentur unterwegs; wir haben uns aus den Augen verloren

»Sie haben nicht versucht, zu ihr Kontakt aufzunehmen

»Nein. Ich war jung, hatte meine eigenen Probleme. Rumänien konnte mir nichts bieten. Ich wollte einfach nur raus

»Und Susan Friday hat Ihnen eine Chance geboten. Wie kamen Sie eigentlich an die heran? Über Ihren Modeljob

Corina hob die Brauen. Das Gute an dieser Journalistin war, dass sie zu viel Preis gab und sie selbst damit auf Ideen brachte, die ihr im ersten Augenblick nicht einmal in den Sinn gekommen wären. Natürlich, der Modeljob. Das war es. Models, Schauspieler, das Fernsehen, die Medien im Allgemeinen, Public-Relations-Fachleutedas passte irgendwie zusammen.

»Ja, wir sind uns durch Zufall begegnet. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt wieder losen Kontakt zu Natalia, die schon in Österreich wohnte. Es ging ihr schlecht, ich fühlte mich schuldig, weil ich nicht eingegriffen hatte, als Tabor sie prügelte, und weil durch meinen Streit mit Ani die Sache letztendlich ja auch aufgeflogen war. Ich wollte es wiedergutmachen. Susan brachte mich auf die Idee, einen großen Skandal zu zaubern und mit meiner Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen

»Die Liebe zwischen Ani und Lia war aber nie ein Thema

»Weil Natalia das nicht wollte. Außerdem reichte es völlig, dass er sie verprügelt und mich missbraucht hat. Als die Sache dann vor Gericht ging, haben ein paar andere ehemalige Turnerinnen ebenfalls ausgesagt und von unsittlichen Berührungen durch ihn berichtet. Das hat mir den Rücken gestärkt

»Tabor hat den sexuellen Missbrauch vor Gericht nie bestätigt, sich aber auch nie gerechtfertigt oder gar verteidigt

»Warum sollte er? – Er war ja schuldig, und er wusste das

»Was mich an dieser Geschichte etwas stutzig macht, sind die Videoaufnahmen. Es scheint doch ziemlich eigenartig, dass seine Prügelattacken während des Trainings auf Film festgehalten wurden. War er nicht vorsichtiger, wenn eine Kamera lief

»Es waren interne Trainingsaufnahmen. Er hat die Kamera gar nicht mehr wahrgenommen«, erwiderte Corina ungerührt. »Wir wurden öfter gefilmt. Im Anschluss mussten wir uns diese Aufnahmen gemeinsam mit ihm ansehen und selbst erkennen, welche Haltungs- und Technikfehler wir gemacht hatten

»Und wie fanden die Aufnahmen ihren Weg von Deva an die Öffentlichkeit

»Durch mich. Ich war damals als Physiotherapeutin Teil des Personals, hatte Zugang zu vertraulichen Bereichen. Ich habe die Bänder gesichert

»Aber da kannten Sie Susan Friday doch noch gar nicht

Eine Gruppe von lautstark miteinander diskutierenden Italienern durchquerte die Lobby und lenkte Corina kurz ab. »Ich bin ein sehr vorausschauender Mensch«, erläuterte sie dann. »Ich dachte, vielleicht könnte ich die Aufnahmen irgendwann einmal brauchen. Und so war es dann ja auch

»Wer hat Susan Friday für ihre Dienste bezahlt

Corina warf einen schnellen Blick auf die Uhr. Wann kam eigentlich das Taxi? – Aus ihrer Sicht war alles gesagt.

»Susan und ich waren befreundet. Sie hat das quasi pro bono gemacht. Dass Tabor nach all dem mit einer Trainerstelle in Deutschland belohnt werden sollte, hat zudem ihrem Gerechtigkeitssinn widersprochen

»Zurück zu Ani und Tabor. Was glauben Sie: Hat Ani ihn tatsächlich umgebracht

»Ich habe sie lange nicht mehr gesehen. Ich kann nicht beurteilen, wie und ob sie sich verändert hat. Die Ani, die ich aus Deva kannte, hätte niemals jemanden ermordetauch nicht im Affekt. Aber, wie gesagt: Menschen können sich ändern, und Grund genug, ihn zu töten, hätte sie durchaus gehabt

»Es gibt eine Zeugin, die in der Mordnacht zwei Bulgaren im Haus gesehen hat. Angeblich sollen dieselben Männer später Tabors Wohnung durchsucht haben. Vielleicht haben die ja Tabor auf dem Gewissen, und Ani ist unschuldig

Corina stutzte nur kurz. Dann hatte sie ihre Mimik wieder unter Kontrolle. Die Mitteilungsfreudigkeit dieser Julia war Gold wert, lieferte sie ihr doch sogar die Bestätigung für gewisse Geld­transfers!

»Allerdings steht fest, dass Ani in dieser Nacht dort war«, fuhr die Journalistin fort. »Was könnte sie von ihm gewollt haben?«

»Woher soll ich das wissen

Ein Mann in einer Art Dienstuniform hatte die Lobby betreten und zog ihre Aufmerksamkeit auf sich, da er kurz mit dem Rezeptionisten sprach und dieser dann in ihre Richtung wies. Das musste der Taxifahrer sein. Corina erhob sich.

»Vielleicht wollte sie diesem Arschloch endlich mal sagen, was sie von ihm hält«, lieferte sie als mögliche Erklärung ab. »Eine Art Selbstbefreiung von der Vergangenheit

Der Taxifahrer war nun bei ihnen, nickte kurz und griff nach beiden Koffern. Er stutzte kurz, als er das Gewicht des zweiten realisierte.

»Eines noch, Ms. SavageVor Corinas Augen entfaltete sich ein DIN-A4-Blatt mit einer Tabelle, eng beschrieben. »Können Sie mir sagen, was das ist? Wofür diese Abkürzungen stehen

»Wo haben Sie das herCorina runzelte die Stirn. Wie viele Kopien davon gab es eigentlich?

»Von Tabors Ex. Er hatte Ordner bei ihr deponiert. Sagt Ihnen das irgendetwas

»Nein. Tut mir leid. Gar nichts

Corina schloss sich dem Fahrer an, der mit den Koffern im Schlepptau bereits gen Ausgang marschierte.

»Diese Buchstabenkombinationen: LU, MA, MI, JO, VI, SA, DUsind das Abkürzungen? Oder Initialen

»Tut mir leid. Ich weiß es nichtCorina blieb kurz stehen. »Sie haben doch jetzt Ihre Geschichte. Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß

»Bitte, wenn Ihnen vielleicht doch noch etwas einfällt …« Die Journalistin streckte ihr eine Visitenkarte entgegen. »Unter dieser Handynummer bin ich erreichbar

Corina wollte die hingehaltene Visitenkarte einfach ignorieren. Sie nahm die Karte dann doch entgegen, aus Sorge, sonst nie in Ruhe gelassen zu werden.

Als sie kurze Zeit später im Taxi saß, fühlte sie sich zum ersten Mal seit Jahren, als hätte sie einen Sieg errungen. Es lief alles wunderbarbesser, als sie es sich jemals hätte ausmalen können.

*

Julia sah durch die gläserne Hoteltür zu, wie der Taxifahrer die Gepäckstücke in den Kofferraum seines Wagens lud. Eines davon war anscheinend deutlich schwerer als das andere. Der Mann plagte sich sichtlich, ehe er den Koffer endgültig verstaut hatte. Dann hielt er der Savage die Autotür auf. Beim Verlassen des Hotels hatte sie sich eine Sonnenbrille aufgesetzt und wirkte damit wie ein Filmstar, der inkognito bleiben wollte.

Eine Hollywood-Schauspielerin.

Diese Frau schien ihre Herkunft abgeschüttelt zu haben wie eine lästige Staubschicht. Mit ihren perfekt manikürten Nägeln French, nicht rot lackiertund ihrem dezenten Make-up, bei dem lediglich die knallroten Lippen auffällig waren, wirkte sie wie eine Frau, die sich gewiss in jeder Gesellschaft bewegen konnte. Eine Frau, die nach vorne blickte, nicht zurück.

Immerhin hatte sie mit ihr geredet und von damals erzählt. Gerade kam Julia dies wie ein Wunder vor.

Corina Savage war vierunddreißig, nur fünf Jahre älter als sie selbst, und schien auf ihren High Heels mit einer Selbstsicherheit durchs Leben zu stolzieren, die sie selbst wohl niemlas erreichen würde – selbst wenn sie irgendwann einen Journalistenpreis gewinnen oder sonstige Erfolge erzielen sollte. Und das, obwohl diese Frau ihre Jugend großteils in einer Turnhalle verbracht hatte, abgeschottet von der Außenwelt.

Sie ist ehrgeizig und berechnend.

Wieder kamen ihr Natalias bittere Worte in den Sinn. Vielleicht hatte ihre Beschreibung von Corina damit zu tun, dass sie ihr die Schuld für die tragischen Ereignisse in Deva gab.

Mit dem Gedanken an Natalia schlich sich auch wieder die leise Traurigkeit in Julias Herz. Das Gefühl, dass bei diesem ersten Zusammentreffen im Café etwas Besonderes, Einzigartiges zwischen ihnen passiert war, ließ sich einfach nicht vertreiben. Da halfen auch keine Rationalisierungendu bildest dir das nur ein, du kennst sie eigentlich gar nicht, vermutlich ist sie nicht mal Single. Tief in ihrem Inneren konnte und wollte Julia einfach nicht glauben, dass Natalia Tabors Mörderin war. Seufzend setzte sie sich in Bewegung, ohne genau zu wissen, wohin ihre Schritte sie lenken würden.

Sie haben doch jetzt Ihre Geschichte, hatte Corina Savage gesagt. Doch eigentlich hatte sie nur ausschmückende Details zu jener Version, die Egle bereits vom Schreibtisch aus entworfen hatte und die sie nun mangels anderer Beweise genauso zu Papier bringen musste. Eine Version, zu der er mittlerweile schon selbst den Teaser geschrieben hatte

»Gnädige Frau, gnädige Frau, einen Moment

Die aufgeregte Stimme hinter ihr wurde lauter. Julia, die inzwischen das Hotel verlassen hatte und ihren Weg Richtung U-Bahn-Station fortsetzen wollte, begriff erst verzögert, dass sie gemeint war. Der jugendliche Hotelpage, der sie nun einholte, streckte ihr einen Zettel entgegen.

»Sie haben Ihr Kalenderblatt verloren. Sie brauchen das sicher noch, wegen der Einträge

Automatisch fasste Julia in die Tasche ihres Mantels, den sie nur lose über die Schulter gelegt hatte. Tatsächlich, der Zettel mit Tabors Aufzeichnungen musste herausgefallen sein. Was sie stutzen ließ, waren die Worte des Pagen.

»Kalenderblatt

»Ja. Das ist doch ein Kalender, oder nicht? Ich dachte, wegen der Wochentage

»Wo sehen Sie hier Wochentage

»Verzeihung …« Der Page drückte ihr hastig den Zettel in die Hand und wollte kehrtmachen. Julia hielt ihn gerade noch an seiner Uniformjacke fest.

»Warten Sie. Erzählen Sie mir bitte, was Sie auf diesem Zettel sehen

Der Page wirkte immer noch unsicher, kam aber doch wieder näher. »Das da«, er deutete auf die obere Zeile. »LU, MA, MI, JO, VI, SA, DUdas sind die rumänischen Abkürzungen für die Wochentage. Die wiederholen sich vier Malwas Sinn ergibt, denn darüber steht ja auch MartieMärz, und dieses Gekritzel dort könnte eine Jahreszahl sein. Also 1999, nehme ich an. Mein Vater hat eine ähnliche Klaue, deshalb fällt es mir leicht, das zu entziffern

»Und Sie wissen sicher, dass das Wochentage sind

Er sah sie an, als hätte sie den Verstand verloren.

»Na klar. Das sind die gängigen Abkürzungen. – Ich bin zwar in Wien geboren und spreche nur mit meinen Eltern Rumänisch, es stimmt aber! Das ist wie MO, DI, MI und so weiter im Deutschen. Jeder weiß das

Jeder, außer Natalia und Corina

Plötzlich nervös, sah der Page über seine Schulter in Richtung Hotel. »Ich muss dann wieder

»Ja, natürlich, klar. – Danke für die Hilfe

Sie wollte ihm Trinkgeld geben, doch ehe sie ihren Geldbeutel öffnen konnte, war er schon losgelaufen.

Julia starrte auf das Blatt Papier. Da musste dieser Page kommen, um ihr den Inhalt zu erläutern. Die Idee mit den Wochentagen lag wirklich nahe. Wieso hatte sie sich nicht die Mühe gemacht, das Wort Martie im Wörterbuch nachzuschlagen, statt sich auf zwei Muttersprachlerinnen zu verlassen, die beide offensichtlich ihre Gründe hatten, sie im Unklaren zu lassen?

Zumindest sah sie jetzt klar, was die anderen Abkürzungen auf dem Papierbogen betraf.

AN: Anima Nicolescu.

NT: Natalia Theodorescu.

CR: Corina Radu.

Die Initialen der Turnerinnen, die 1999 in Deva aktiv waren.

Tabor hatte Aufzeichnungen geführt. Bei den Zahlen in den Längsspalten mochte es sich um Mengenangaben handeln. 0,2. 0,4. 0,6was sie zunächst nur für einen Schnörkel gehalten hatte, ginge als Abkürzung für Mikrogramm durch. Was war den Mädchen verabreicht worden? Und warum stand hinter dem Namen Corina Radu durchgehend eine Null?

Ich werde dahinterkommen, was wirklich passiert ist, das kann ich dir versprechen!

Solange du dich auf irgendwelche Fotos, Briefe, Halstücher und Liebesgeschichten versteifst und anderes unbeachtet lässt, sicher nicht!

Der Dialog, den sie mit Natalia geführt hatte, kam ihr in den Sinn. Fotos, Briefe, Halstüchervon Tabors Aufzeichnungen hatte sie nichts erwähnt. Fielen die unter anderes?

Neu motiviert machte sie sich auf nach Simmering.