Wien, Pension am Gürtel

Egle hatte dreimal angerufen, ohne dass sie das Vibrieren des Handys bemerkt hätte. Sein Tonfall auf der Mobilbox verhieß nichts Gutes. Er klang stinksauer, sprach von allerletzter Frist.

Mit einem Blick auf die Uhr sah Julia, dass auch die schon abgelaufen war. Egal. Sie würde ihm sowieso gleich den gesamten Bericht schicken. Drei Stunden waren seit Paulas Geständnis vergangen. Ja, Paula hatte Tabor erstochen, eine Tat im Affekt, und sie, Julia Resnitz, hatte es herausgefunden!

Das berauschende Gefühl ihres Triumphs erfüllte sie noch immer vom Kopf bis zu den Zehenspitzen, jetzt, wo sie in der Pension am Gürtel an ihrem provisorischen Schreibtisch saß. Ihre Finger flogen über die Tasten. Die Geschichte drängte aus ihr heraus, wollte erzählt werden. Drei Mädchen, drei miteinander verbundene Schicksale, ein Trainer, der seine Macht ausgenutzt hatte, dafür bestraft worden war unddem letztendlich seine familiären Probleme zum tödlichen Verhängnis wurden. Eine schöne, runde Geschichte, bei der freilich einige Fakten fehlten. Die Tabellen. Die Bulgaren. Der Einbruch bei Irma. Tabors angeblicher Geldsegen.

Und vor allem eine wirkliche Begründung, warum Anima in dieser Nacht nach all den Jahren ihren alten Trainer aufgesucht hatte. Julia entschied sich für die Version, dass sie das WienWochenende dazu nutzen wollte, dem Geist der Vergangenheit selbstbewusst gegenüberzutreten, doch sie glaubte nicht recht daran. Seit ihrer Begegnung mit der nicht gerade sympathischen Schwiegermutter wurde sie das Gefühl nicht los, dass Anima sich wohl eher getrieben fühlte. Nur wovon? Hing es mit den seltsamen Listen zusammen?

Sie hatte keine Erklärung dafür. Die Polizei hatte ihren Hinweisen auf die Ordner nicht viel Beachtung geschenkt. Es werde im Ortsteil Simmering öfter eingebrochen, hatte Patrick Pachner ihr lapidar mitgeteilt. Einen Zusammenhang zwischen Irmas verwüsteter Wohnung und dem Brand in der des Mordopfers Tabor wollte die Polizei im Moment ebenfalls nicht erkennen. Die Brandursache sei noch nicht bekannt, hieß es nur.

Die Polizei konzentrierte sich nun ganz und gar auf die geständige Mörderin. Pachner hatte ihr vertrauensvoll gesteckt, dass Paula nicht gerade leicht zu verhören war. Sie rede oft wirres Zeug, hatte er ihr gesagt, und würde immer wieder von Auftragskillern sprechen, vor denen sie sich in dieser Nacht im letzten Stock des Hauses habe verstecken müssen. Julia hatte sofort an Gordanas Bulgaren gedacht. Doch da sie keine Beweise für deren Existenz hatte, schwieg auch sie sich gegenüber der Polizei aus.

Beschwingt setzte Julia ihr Redaktionskürzel unter den Artikel, las den Text nochmals Korrektur. Sie war einigermaßen zufrieden. Die Geschichte klang trotz der Lücken rund. Die Recherche hatte sich letztendlich ausgezahlt. Diesmal würde Egle so beeindruckt sein, dass kurz über lang eine fixe Stelle für sie abfiele. Spätestens wenn der nächste in Pension ging.

Julia Resnitz, festangestellte Redakteurin beim Brennpunkt.

Als sie den Artikel senden wollte, machte das Internet wieder einmal Probleme. Sie nahm ihr Notebook vom Stromnetz und begab sich damit zum Fenster. Den Erfahrung der vergangenen Tage nach war das W-LAN-Signal hier am stabilsten. Tatsächlich verwandelte sich der gelbe Balken am unteren Bildschirmrand in ein sattes Grün.

Sie hatte den Cursor schon über dem Send-Button, als ein Klopfen an der Zimmertüre ertönte.

Wer konnte das sein? Sie erwartete keinen Besuch, zumal ohnehin niemand wusste, dass sie hier wohnte.

Als es ein zweites Mal klopfte, diesmal energischer, stellte sie das Notebook zurück auf den Schreibtisch und ging an die Tür.

»Wer ist da, bitte?«, erkundigte sie sich vorsichtig, ohne den Zimmerschlüssel im Schloss umzudrehen. Die Pension war günstig und zog daher auch Leute an, die auf sie keinen allzu vertrauenswürdigen Eindruck machten. Im Frühstücksraum waren gelegentlich Männer, die im Unterhemd herumsaßen und ihre Tätowierungen zur Schau stellten, oder Frauen, die vom Typus her Irmas Schwestern hätten sein können.

»Polizei«, sagte eine männliche Stimmung, und ihr fiel ein Stein der Erleichterung vom Herzen.

Richtig, Pachner und sein Vorgesetzter hatten ihr ja gesagt, sie würden jemanden aus dem Team schicken, wenn sich während weiteren Ermittlungen noch Fragen ergaben.

Erwartungsvoll öffnete sie die Tür.