Hamburg

»Jahrelang pflegte sie kaum mehr Kontakte nach Rumänien, und plötzlich hat sie unzählige Nummern angerufen. Laut ihrem Mann waren es lauter Frauen, mit denen sie telefoniert hat. Da liegt ja der Verdacht nahe, dass sie all ihre Freundinnen, Mitturnerinnen, Kommilitoninnen … keine Ahnung, wie ich die nennen soll, angerufen hat.« Julia stand am Spülbecken in ihrer WG-Küche und schrubbte mit mehr Inbrunst als erforderlich das Blech, auf dem sie zuvor Fertigpizza aufgebacken hatte. »Da frage ich mich, was sie von denen nach so langer Zeit wollte.«

Ihre Mitbewohnerin Fiona, die am Küchentisch saß und ihre Fingernägel lackierte, sah kurz auf, sagte aber nichts.

»Und dann Corina Savage, die für diese Kalenderblätter zehntausend Dollar hingeblättert hatJulia hielt inne und drehte sich erneut zu Fiona um. »Möglicherweise sind die Aufzeichnungen der Schlüssel zur Lösung. Es könnte ja sein, dass auch Ani hinter denen her war! Dass sie Tabor wegen der Listen aufgesucht hat. Zu dumm, dass ich nicht mal mehr diese eine Tabelle habe! Wieso hatte ich die ausgerechnet in der Laptoptasche deponiert

Wieder erwiderte Fiona nichts, weshalb Julia fortfuhr: »Manch­mal frage ich mich, ob die Savage diese Männer auf mich gehetzt hat. Sie wollte ja unbedingt die Listen.«

»Aber die hatte sie zu diesem Zeitpunkt doch schon

Fiona schraubte das Nagellackfläschchen zu und stellte es zur Seite.

»Ja. Aber …« Julia stieß einen gequälten Seufzer aus. »Irgendeine Geschichte muss doch dahinterstecken! – Gordana hat mir ebenfalls eine Botschaft zukommen lassen und mir mitgeteilt, sie hätten sie mitgenommen. Gemeint hat sie die Listen, denke ich. Also waren in Tabors Wohnung sehr wohl auch noch Listen oder Ordner, nicht nur bei seiner Ex

»Und wer hat die jetzt

»Das ist ja das Problem: Ich. Weiß. Es. NichtJulia betonte jedes Wort. Dann atmete sie tief durch. »Ich denke mal, die Bulgaren, von denen Gordana gesprochen hat

»Ach, JuliaJetzt seufzte auch Fiona. »Du weißt doch gar nicht, ob diese Männer existieren

Julia kaute nachdenklich an ihrer Unterlippe.

»Der Saufkumpan vom Tabor hat die auch erwähnt

»Seit du aus Wien zurück bist, zerbrichst du dir darüber den Kopf! Selbst ich kenne mittlerweile alle Details!«, beklagte sich Fi­ona. »Allmählich solltest du damit abschließenoder dich noch mal in eine umfassende Recherche stürzen, nach Wien fahren oder in die USA fliegen, diese Natalia oder diese Corina in die Zange nehmen und endlich den preiswürdigen Artikel schreiben, von dem du träumst! Aber so bringt das nichts! Entweder hängst du deprimiert herum oder du stellst die wildesten Theorien auf!«

Julia lachte bitter. Fiona hatte nicht ganz unrecht: Die ganze Sache hatte sie tatsächlich in eine Krise gestürzt, sowohl existentiell als auch psychisch. Beim Rowendson-Verlag war sie abgeschrieben, einen neuen Auftrag hatte sie auch nicht mehr erhalten, sondern mit ach und krach zwei Mini-Artikel in Boulevardblättern untergebracht. Daneben arbeitete sie teilzeit als Bedienung in einem Studentencafé, ein Job, für den sie hätte dankbar sein sollen, der ihr aber wie eine Ohrfeige erschien.

»Momentan kann ich nirgendwohin fahren«, hielt sie der Freun­din entgegen. »Ich bin pleite. Das Geld reicht so schon kaum, und die Raten für meinen neuen Laptop und das Handy muss ich auch abstottern.«

»Ich weißFiona verzog das Gesicht. »Aber du solltest dich trotzdem nicht so gehen lassen. Davon wird nichts besser

Sie deutete auf die Pflanze, die seit Julias Rückkehr vor dem Küchenfenster dahinvegetierte.

»Es wäre zum Beispiel schon mal ein Schritt, sich um dieses Ding hier zu kümmern. Schmeiß sie endlich weg

Sie stand auf.

»So, ich muss jetzt zum Proben. Wir sehen uns

Als Fiona gegangen war, saß Julia noch eine ganze Weile am Küchentisch und starrte ins Leere. So konnte es wirklich nicht weitergehen. Sie musste sich von Natalia, Anima, Corina und dieser ganzen Geschichte befreien. Mit der Palme würde sie beginnen. Julia nahm die verdorrten Blätter in Augenschein. Zwischen ihnen sprießte ein kleiner grüner Trieb.

Eine halbe Stunde später war sie mit Blumenerde und einem größeren Topf vom Discounter zurück. Die Palme aus ihrem alten Behältnis zu heben, war mühsamer als gedacht. Die Wurzeln hatten sich durch die Abflusslöcher im Plastiktopf gefressen. Julia musste den Topf schließlich mit einer Schere zerschneiden.

Ihre Augen weiteten sich vor Überraschung, als sie nicht nur auf Erde, Granulat und Wurzelwerk stieß, sondern auch ein in Plastik gewickeltes Päckchen vor sich liegen hatte. Neugierig packte sie es ausund stieß einen Schrei aus, als sie den Inhalt sah: ein dickes Bündel Zweihundert-Euro-Scheine.

Mit vor Aufregung zitternden Fingern zählte sie es ab. Zehntausend Euro. Tabor hatte den Topf offenbar als Versteck benutzt. Wo aber hatte er dieses viele Geld her?

Entschlossen und voll neuer Energie richtete sich Julia auf. Sie würde es herausfindengenauso, wie die Antworten auf alle weiteren Fragen, die ihr noch im Kopf herumspukten. Die finanziellen Mittel dafür hatte sie jetzt.

Doch sie wollte sich nicht wieder in Spekulationen verlieren. Sie wollte Fakten.

Als Erstes würde sie nochmals nach Wien fahren und ein paar Punkte durchchecken. Dann würde sie sich mit der Frau beschäftigen, über die sie so gut wie nichts wusste, die Frau, die als Teenager laut Tabors Listen nichts von was-auch-immer verabreicht bekommen und ihm Jahre später durch eine Aussage, deren Wahrheitsgehalt Julia anzweifelte, das Genick gebrochen hatte: Corina Savage.