Seattle

Der Brief war an Ms Savage adressiert, doch als Corina ihn öffnete, stellte sie fest, dass er sich eigentlich an Robert richtete. Beim Briefkopf hatte die Firma, bei der ihr Mann offensichtlich im April einen Leihwagen gemietet hatte, geschlampt und das r mit dem s vertauscht.

Aufmerksam geworden durch den Firmensitzein Ort irgendwo in der Slowakei, dessen Name ihr nichts sagte –, überflog sie die in schlechtem Englisch gehaltenen Zeilen. Ihr Mann wurde mit Nachdruck gebeten, die Gebühren für einen vom Autoverleiher bezahlten Strafzettel zu erstatten, den er wegen einer Geschwindigkeitsübertretung kassiert hatte. Sie warf einen Blick auf das Foto der Radarbox, das dem Schreiben als Beweisstück beigelegt worden war.

Sie wunderte sich kurz darüber, was Robert in der Slowakei gewollt hatte, als ihr der Vermerk von Ort und Zeit am rechten Rand des Fotos ins Auge stach. Ungläubig kniff sie die Augen zusammen. Von einer grausamen Vorahnung ergriffen, rief sie Google Maps auf ihrem Smartphone auf.

163 Kilometer.

Zu fahren in unter zwei Stunden.

Ihr Herz begann zu rasen.

San Francisco. Der Indianerschmuck, mit dem Robert Veronica beschenkt hatte. Eine einzige Inszenierung.

Ihr hattet doch Kinder.

Der Satz bekam plötzlich Gewicht.

Ihr.

Ich verstehe nicht, warum ihr nach all den Jahren in dieser alten Geschichte herumstochern müsst.

Schon wieder: ihr. Sie und Ani. Das musste Robert gemeint haben. Was bedeutete, dass er sich mit Ani vor ihrem Tod zumindest gedanklich beschäftigt hatte. Hatte Ani etwa von den Hormonen gewusst, die ihr in Deva verabreicht worden waren? War sie Robert und Savage Pharma auf die Schliche gekommen? Wollte sie Tabor treffen, um von ihm Details zu erfahren?

Ihr sogenannter Selbstmord und Roberts Europareise, die er als inneramerikanischen Businesstrip getarnt hatte, ergaben für sie eine schale Mischung, die ihr Magendrücken verursachte.

Sie ließ Brief und Kuvert in ihrer Handtasche verschwinden. Ganz eindeutig hatte sie ihren Mann unterschätzt.

Automatisch dachte sie an jenen Tag vor knapp zwei Wochen, an dem Consuela den Autounfall hatte. Bremsversagen. Sie hatte sie ins Gartencenter geschicktund weil die Einkäufe in Consuelas Kleinwagen kaum Platz fanden, ihr den eigenen Wagen geliehen, während sie selbst an diesem Tag per Taxi zu ihrer Arbeitsstätte am Olympic Sculpture gefahren war. Die abschüssigen, kurvenreichen Straßen dorthin forderten volle Konzentration, wenn man nicht in den Tiefen der Elliott Bay enden wollte

Ihr wurde so schwindelig, dass sie sich setzen musste.