St. Christophen,
circa 50 Kilometer westlich von Wien

Ungläubig starrte Julia auf das heruntergekommene zweistöckige Gebäude, über dessen Eingangstüre in roten Buchstaben Zur Waldfe stand. Das zweite E musste irgendwann abgefallen sein, was durchaus passte: Mit einer Fee hatte das Wirtshaus, in dem Anima Nicolescu angeblich die Zeit vor ihrem Sprung von der Brücke zugebracht hatte, wirklich nichts gemeinsam. Dem Namen gerecht wurde nur die Lage – im dichten Tann, gut zwei Kilometer vom Ortsrand des Dorfes St. Christophen entfernt. Julia hatte nur dank Smartphone zu dem Ort gefunden, den ihr Polizeipressesprecher Pachner im April genannt hatte.

Der Parkplatz vor dem Wirtshaus war wie erwartet leer.

Julia nutzte die Zeit, um sich weiter umzusehen. Leere, vom Gras überwucherte Getränkekisten mit dem Aufdruck einer Brauerei standen dort, wo einst einmal ein schattiger Gastgarten gelegen hatte. Tische und Stühle waren in einem offen stehenden Schuppen übereinander gestapelt und rosteten vor sich hin. Auf der Rückseite des Hauses zog sich ein Sprung übers Mauerwerk, der sich von Parterre bis zum Dachstuhl zog. Am ganzen Gebäude blätterte der Putz ab.

Als sie ihren Blick die marode Fassade entlangwandern ließ, fielen ihr die vergilbten Gardinen vor den Fenstern auf. Manche waren etwas zurückgezogen, Julia erkannte Bierflaschen und Saftpackungen auf den Fensterbrettern.

Die Treppenstufen am Eingang waren bemoost und rutschig. Automatisch wollte sich Julia am Geländer festhalten, ließ aber gleich wieder los, weil es unter ihrem Griff nachgab.

Die Türe zum Gasthof war abgesperrt, doch ein kleiner metallener Kasten weckte ihre Aufmerksamkeit. Als sie das Ver­deck öffnete, befand sich eine Zahlentastatur dahinter. Also ein Hotel mit elektronisch gesichertem Zugang, ohne Rezeption, sie hatte selbst schon einmal in einem übernachtet und den Zugangscode vorab per Mail zugesandt bekommen. Der neuartige Mechanismus überraschte allerdings bei diesem halbverfallenen Gebäude.

»Ah, da sind Sie ja

Die Stimme eines älteren Mannes ließ sie herumfahren. Er trug abgewetzte Cordhosen und darüber einen grauen Arbeitsmantel. Als er seine Kappe abnahm, kam eine Glatze zum Vorschein. Formell streckte er ihr die Hand entgegen. Sein Hände­druck war fest und passte nicht recht zu der untersetzten, schmäch­tigen Figur eines etwa Sechzigjährigen.

»Herr Gartlhuber

»Ja, richtig, der bin ich. Wir haben telefoniertEr stemmte seine Hände in die Hüften, sah zu dem Gebäude und dann zu ihr. »Sie haben gesagt, es geht um diese Turnerin. Aber so ganz klar ist mir nicht, was Sie sich da erwarten

»Ich wollte mir ein Bild machen, wie es hier aussieht

»Na ja.« Gartlhuber zuckte mit den Schultern. »Sie sehen ja. Es ist alles verwahrlost, seit das Haus nicht mehr bewirtschaftet wird. Früher, da war die Waldfee eine Pracht! Sogar die Wiener sind gekommen, um bei uns die Sommerfrische zu verbringen.«

»Bis wann war das Gasthaus denn in Betrieb

»Neunzehn achtundachtzigDie Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. »Da ist mein Vater gestorben. Die Mutter ist dann zu meiner Schwester nach Oberösterreich gezogen; die hätte das allein nicht mehr geschafft

»Und Sie selbst wollten es nicht weiterführen

Die Frage entsprang reiner Neugier. Umso erstaunter war Julia, dass der kleine Mann kurz zusammenzuckte.

»Mei«, sagte er dann und klang fast verlegen. »Zum Wirt muss man geboren seinund überhaupt, es ist damals schon nimmer so gelaufen. Zimmer haben wir schon vorher nimmer vermietet. Die Leute fliegen jetzt lieber nach Griechenland oder in die Türkei. So ein Dorfwirtshaus, wenns dann auch nicht direkt neben der Kirche liegt, hat keine Zukunft

»Und seitdem steht das Gebäude leer

Gartlhuber machte eine leicht verzweifelte Geste. »Die Bausubstanz ist auch nimmer die Beste. Ich würdja verkaufen, aber wer will den Kasten schon? – Vielleicht schreiben Sin Ihrem Artikel: Altes Gasthaus zu verkaufen. Ich mache auch ein guten Preis

Julia überging den Vorschlag.

»Darf ich es mir von innen anschauen

»Ja, sicherOhne zu zögern tippte Gartlhuber einen vierstelligen Code ein. Die Haustüre sprang auf. »Sie können gerne auch Fotos machen«, bot er an. »Vielleicht gefällts jemandem. Einem Liebhaber alter Häuserdas solls ja geben

Julia folgte ihm. Es roch leicht modrig, doch insgesamt entpuppte sich das Innere weit wohnlicher, als die Fassade vermuten ließ. Die dunklen Tische und Stühle in der Gaststube waren zwar staubig, nach einem Großputz hätten hier aber sofort wieder Gäste Platz nehmen können. In der Gastronomieküche fielen ihr die altmodische, allem Anschein nach aber noch funktionsfähige Kaffeemaschine und der Teekocher auf.

»Und oben

»Ja, freilich, schauen Sie sich nur um

Gartlhuber war anscheinend so begeistert von der vermeintlichen Aussicht, seine Immobilie loszuwerden, dass er jedwede Skepsis zur Seite schob. Mit fast kindlicher Euphorie ließ er sie in die Zimmer blicken, in denen zwar kein Bettzeug lag, die Matratzen aber noch ziemlich neu wirkten.

Julia hatte genug gesehen.

»Herr Gartlhuber. Jetzt mal ehrlich: Neunzehn achtundachtzig gab es noch kein Codesystem, und dieser Saft da am Fensterbrett ist erst seit diesem Jahr im Handel

Gartlhuber öffnete den Mund, doch sie ließ ihn nicht zu Wort kommen.

»Ich weiß das so genau, weil der Saftproduzent deshalb einen Prozess um Markenrecht am Hals hatte, worüber ich geschrieben habe. Also ersparen Sie uns dieses Schmierentheater und geben Sie es endlich zu: Sie vermieten illegal Zimmer, und Sie haben in der Nacht von Gründonnerstag auf Karfreitag eines an Anima Nicolescu vermietet! Sie stand nicht einfach nur mit ihrem Auto vor dem Haus, sondern war hier oben

»Jaäh, neinDer Mann schüttelte unwillig den Kopf. »Ich hab die Frau nie zuvor gesehen! Erst seit ihr Foto in der Zeitung gewesen ist. Ich habe der Polizei das alles schon erklärt

Er machte eine verzweifelte Geste gen Himmel, als erwarte er göttlichen Beistand, dann fuhr er fort: »Alsoja, vor ein paar Jahren, da habe ich ab und zu an Baufirmen aus Osteuropa vermietet. Die suchen immer die billigsten Betten. Zehn Euro pro Nacht, mehr ist nicht drin. Die Männer bringen Schlafsäcke mit, brauchen sonst nix. Außer eben nachts ein Dach über dem Kopf. Tagsüber arbeiten die in Wien auf großen Baustellen, und nachts werden sie vom Polier hier abgesetzt. In der Früh dann wieder eingesammelt. So lief das. Das war ein gutes Geschäft für mich. Manchmal waren sogar alle Zimmer belegtzweihundert Euro, für quasi Nixtun. Und das über Wochen

»Und dieses tolle Geschäft haben Sie dann einfach so aufgegeben? Warum

»Die hohen Auflagen. Es hat sich nicht mehr rentiert. Sie haben ja den Riss in der Mauer gesehen …«

»AhaJulia verstand. »Und seitdem vermieten Sie illegal? – Was Sie der Polizei natürlich verschwiegen haben, als die Ihnen im April eine Stippvisite abgestattet hat

Die Gesichtsfarbe des Mannes, die von leicht sonnengebräunt zu tomatenrot wechselte, gab ihr die Antwort.

»In dieser Nacht vor Ostern war aber niemand da! Es kommen nur noch ganz selten Gäste. Die Firmen bekämen hier Probleme bei der Verrechnung, darauf lässt sich kaum mehr jemand ein

»Waren Sie denn in dieser Nacht vor Ort

Gartlhuber machte große Augen.

»Ich? – Wieso denn ich? Ich wohne doch im Dorf, gleich da beim Kindergarten

»Und woher wollen Sie dann wissen, dass niemand da war

Gartlhuber schaute sie immer noch groß an. Julia half nach.

»Ändern Sie regelmäßig den Eingangscode

»Nein …« Gartlhuber brach ab. Erkenntnis machte sich in seinen Gesichtszügen breit. »Sie glauben, dass …?« Er führte den Satz nicht zu Ende.

»Ich halte es für möglich, dass sich die Frau hier mit jemandem getroffen hatjemand, der den Zugangscode kannte, weil er hier schon einmal einquartiert war. Und um herauszufinden, wer das ist, brauche ich von Ihnen eine Liste der Firmen, die seit der letzten Änderung des Zugangscodes ihre Arbeiter hier unter­gebracht hatten

Gartlhuber sah sie zweifelnd an.

»Ist das legal? Ich meineDatenschutz und so. Ich möchte keine Schwierigkeiten

Julia musste sich beherrschen, um ihn nicht an den Schultern zu packen und kräftig zu schütteln.

»Herr Gartlhuber, Sie stecken in Schwierigkeiten. Und glauben Sie mir: Die werden noch viel größer, wenn Sie mich durch Ihre Weigerung zwingen, sofort zur Polizei zu gehen