Hamburg

»Verdammt!« Julia trat mit voller Kraft gegen den Kaffeeautomaten am Gang des Hamburger Verlagshauses, in dem sie seit ihrem ersten Praktikum sporadisch ein- und ausging. Zum dritten Mal war die Euromünze wieder herausgekommen.

Resigniert lehnte sie ihre Stirn gegen den mannshohen Automaten. Die versagte Koffeinzufuhr war eine ärgerliche Dreingabe, aber der Grund ihrer Wut lag tiefer. Sie war quasi pleite. Wenn es so weiterging, würde sie in zwei, drei Monaten ihr WG-Zimmer kündigen und mit neunundzwanzig Jahren zurück zu ihren Eltern ziehen müsseneine Vorstellung, die ihr Gänsehaut bereitete.

»Ach du Schande, das sieht ja nach tiefster Krise aus

Eine Männerstimme riss sie aus der Welle von Selbstmitleid. Tom Mojses, vier Jahre älter als sie und seit ein paar Monaten Chef vom Dienst beim Brennpunkt, dem Nachrichtenmagazin des Rowendson-Verlages, schob sie sanft zur Seite und warf einen Euro ein. Die Münze rutschte brav den für sie vorgesehenen Weg. Toll. Irgendwie war das wohl symptomatisch.

»Cappuccino? Espresso? Heiße Schokolade

Ein paar Sekunden verstrichen, ehe sie begriff, dass er den Euro für sie eingeworfen hatte.

»Cappuccino

Augenblicke später saßen sie auf den durchgesessenen grauen Polstermöbeln am Ende des Gangs, den die Verlagsleitung beschönigend Sozialraum nannte. In jedem der sechs Stockwerke gab es eine solche Ecke, abgesehen vom Parterre, aber nur von hier oben aus eröffnete sich der Blick auf den Hafen. Gerade wurde eines der großen Containerschiffe beladen.

»Recherchierst du für einen Artikel über Hafenlogistik, oder willst du mir vielleicht sagen, was los ist

»SorrySie hatte die Anwesenheit von Tom, der im Grunde schon als Freund gelten durfte, fast vergessen. »Ich bin total sauer. Die Werkmann hat meine Geschichte über die betrogenen deutschen Frauen rausgeschmissen. Das bedeutet für mich: Ich gehe schon wieder leer aus

»Oh je. Ich habe es befürchtet. Tut mir leid

Tom zeigte sich wenig überrascht.

»Hast du davon gewusst

Ihr Kollege, der sein langes dunkles Haar seit jeher zu einem Pferdeschwanz gebunden trug, nickte.

»Ich habe in der Kantine zufällig mitbekommen, wie die Werkmann mit Egle darüber diskutiert hat

»Bitte

Dass Isolde Werkmann, Chefredakteurin von Amiga, der erfolgreichsten Frauenzeitschrift des Verlages, mit Dr. Karsten Egle, der für den Brennpunkt verantwortlich zeichnete, über sie redete, war Julia neu. Nicht, dass Egle sie nicht kannte. Sie hatte schon des Öfteren für den Brennpunkt geschrieben und einige der Geschichten auch untergebracht. Jedes Mal hatte sie gehofft, jetzt käme endlich das Angebot einer fixen Redakteursstelle, wobei sie nicht einmal wählerisch war. Nach über zehn Jahren als sogenannte feste Freie, eine Beschäftigungsform, die vor dem Gesetz offiziell nicht mal existierte, hätte sie ihren Schreibtisch auch bei Tacho, der Automobilzeitschrift des Verlages, oder gar beim Promi-­Blick bezogen. Hauptsache, sie musste sich nicht mehr selbst krankenversichern und ihr Konto wurde am Ende des Monats regelmäßig gefüllt.

Doch bisher bleib es beim Wunschtraum, und das frustrierte sie von Monat zu Monat mehr.

»Also, leicht hat sie sich die Entscheidung nicht gemacht, aber letztendlich war es ihr wohl doch zu brenzligzumal Egle ihr davon abgeraten hat«, fuhr Tom fort. »Es ist auch wirklich ein sehr heikles Thema

Julia stellte ihren Plastikbecher so schwungvoll auf den kleinen Beistelltisch, dass der Kaffee beinahe überschwappte.

»Heikel? Halloooo? Was ich geschrieben habe, entspricht den Tatsachen! Diese Frauen sind allesamt von ihren tunesischen, marokkanischen oder türkischen Liebhabern und Ehemännern hinters Licht geführt und teilweise um ihre gesamten Ersparnisse betrogen worden! Manche werden über Jahre Schulden abbezahlen müssen, von den gebrochenen Herzen ganz zu schweigen! Es gibt tausende Fälle in Deutschland, und ich habe für die Reportage nur drei von denen herausgepickt, zu denen sogar Gerichtsverfahren laufen! Das hat alles Hand und Fuß! – Was also ist daran bitte heikel

Tom seufzte.

»Keiner bezweifelt deine Recherche. Aber das Thema Bezness ist nicht gerade neu. Und gerade in Zeiten wie diesen muss man es nicht nochmal aufkochen. Damit schürst du nur Rassismus und treibst der AfD Wähler in die Arme. Es ist Wahljahr, schon vergessen

Einen Moment lang war Julia versucht, ihn wütend anzufahren. Wie er hier mit ihr sprach! Als wäre sie ein dummes Kind, dem er die Welt erklären musste.

Sie verzichtete darauf, weil sie wusste: Tom war als Chef vom Dienst der verlängerte Arm von Egle. Wenn sie ihn vor den Kopf stieß, konnte sie mehr als nur diese eine Reportage vergessen.

»In anderen Worten: Weil wir nicht riskieren wollen, mit der Nazi-Keule niedergeprügelt zu werden, kehren wir derartige Themen unter den Teppich

»Du redest, als hättest du zu viel Kontakt zur Pegida gehabtTom schüttelte unwirsch den Kopf und sie glaubte, sich verhört zu haben.

»Ich habe mit der Pegida genauso wenig am Hut wie du, Tom. Aber was mich allmählich wirklich stört, ist, wenn Tatsachen wegen falsch verstandener politicial correctness verschwiegen werden. Genau das treibt Menschen doch in die Arme von AfD und Co! Ich kann alles, was ich geschrieben habe, belegen, und meine Interviewpartnerinnen können es auch. In keiner Zeile habe ich behauptet, dass jeder Moslem ein krimineller Heiratsschwindler ist. – Dieser Artikel war wieder ein Haufen Arbeitsstunden umsonst! Wieder kein Honorar. Allmählich kotzt mich das nicht nur an, sondern bringt mich um meine Existenz

»Ich weiß, es ist nicht leicht als Freie. Aber es kommen auch wieder andere Zeiten

Julia schnaubte.

»Darauf hoffe ich seit meinem Studienabschluss

Eine kleine Pause entstand. Tom schien nachzudenken.

»Ich hätte vielleicht etwas für dich«, ließ er sie dann wissen. »Sagt dir Arian Tabor etwas

Ȁhmnein? Wer soll das sein

»Ein rumänischer Turntrainer, um den es vor fast fünfzehn Jahren einen Riesenskandal gegeben hat. Er sollte in Deutschland den Turnerinnennachwuchs zum Erfolg führen. Dazu kam es aber nie, weil zwei rumänische Turnerinnen plötzlich harte Vorwürfe gegen ihn erhoben. Die eine hat er wohl zusammengeschlagen, sodass sie ihre Karriere beenden musste, die andere sprach von sexuellen Übergriffen. Es gibt ein Beweisvideo. Der deutsche Turnerbund hat sich sofort von ihm distanziert; es gab ein Gerichtsverfahren, Tabor wurde verurteilt. Was der Typ danach gemacht hat, ist nicht bekannt. Jedenfallswurde er am Karfreitag erstochen in seiner Wohnung in Wien aufgefunden

»Und

»Na ja, eine große Geschichte ist es nicht«, bestätigte Tom ihre Vermutung. »Aber eine Meldung für Brennpunkt online ist es allemal. Bin sicher, dass sich einige erinnern werden. Und wenn du kurz ausholst zu Sex und Crime, freut sich die Leserschaft, Stichwort: Der Bösewicht hat seine verdiente Strafe bekommen.«

Julia blinzelte ungläubig, wartete, ob Tom die Bemerkung als schlechten Witz enttarntebis sie begriff, dass er es völlig ernst meinte.

»Also, machst du es

»Jetzt

»Klar, wenn du gerade sowieso nichts anderes vorhast. Eintausendfünfhundert Zeichen. Viel kriegst du dafür nicht, aber immerhin etwas Zeilengeld

Sie wollte nicht undankbar sein. Tom konnte letztendlich nichts dafür, dass ihre Reportage der Selbstzensur zum Opfer gefallen war. Und nun bemühte er sich, ihr zumindest ein paar Cent zu verschaffen.

»Okay. Ich schicke es heute Abend

»Wunderbar. Ich muss leider wieder los. Redaktionssitzung mit den ChefsTom warf einen flüchtigen Blick auf seine Armbanduhrdas neueste Smartwatch-Modell eines populären Handyanbieters. Ihren erstaunten Blick bemerkend, fügte er schnell noch hinzu: »Keine Sorge, so gut werde ich auch nicht bezahlt. War ein Gimmick auf der letzten Pressereise des Anbieters

*

Im Archiv des Verlages war es um diese Uhrzeit angenehm ruhig. Alle drei Rechercheplätze waren frei. Julia ließ sich beim Lichtschacht nieder, durch den etwas Tageslicht fiel.

Seit ihrer Aufnahme an der verlagszugehörigen Journalistenschule zählten die Kellerräume nicht unbedingt zu ihren Lieblingsort. Anfangs half ihr eine ältere Dame, die ihr halbes Leben damit zugebracht hatte, die Artikel aus allen sieben Zeitschriften des Verlags auszuschneiden, zu sortieren und in langen Ordnerreihen zu archivieren. Jetzt speicherte die Online-Redaktion die Belege in digitalisierter Formso war es vorgesehen. Meistens blieb dies eine Aufgabe fürs Praktikum, die mehr oder weniger gründlich erledigt wurde.

Was ihre Recherche zu Arian Tabor betraf, hatte Julia Glück: Die Berichte waren korrekt verschlagwortet. Die Fakten hatte ihr Tom bereits auf den Tisch gelegt. Recht viel mehr konnte sie der Berichterstattung rund um den Fall nicht entnehmen, außer dass Tabor zu seinen aktiven Zeiten als Trainer ein ziemlich gut aussehender Mann gewesen war. Ein dunkler Typ, athletisch gebaut. Es gab diverse Fotos von ihm, darunter auch einige, die ihn beim Verlassen des Justizgebäudes nach Urteilverkündung zeigten. Zwölf Monate Haft und ein halbes Jahr auf Bewährung. Das Unverständnis, weshalb er verurteilt worden war, stand ihm im Gesicht.

Während der öffentlichen Gerichtsverhandlung hatte er wohl nicht mit Ausführungen seiner Trainingsmethoden gegeizt. Die Presse hatte sie begeistert aufgegriffen:

›Ohne Schläge geht es beim Training nicht!‹

›Wer Erfolg haben will, muss auch mal bluten!‹

›Blaue Flecken sind ganz normal.‹

›Wer nicht pariert, fliegt eben gegen die Wand. Wir sind nicht in der Krabbelgruppe, sondern beim Leistungssport!‹

Videoaufnahmen, die eigentlich zu Trainingszwecken aufgenommen worden waren und die Kaderschmiede Deva nie hätten verlassen sollen, aber irgendwie ihren Weg an die Öffentlichkeit gefunden hatten, untermalten seine Aussage. Als Julia sie nun anschaute, war sie weniger von Tabors Gebrüll überrascht als von der Selbstverständlichkeit, mit denen die blutjungen Turnerinnen sein Gebahren hinnahmen. Es flossen keine Tränen, es gab kein Jammern. Die Teenager wirkten eher betroffen und schuldbewusstund voller Kampfeswillen.

Im Zentrum des Prozesses hatte die körperliche Misshandlung der Spitzenturnerin Natalia Theodorescu gestanden, die mit ihrer Aussage in einer deutschen Talkshow den Stein überhaupt ins Rollen brachte. Tabor hatte nie versucht, den Vorfall zu leugnen.

Mir sind die Pferde durchgegangen, lautete seine lapidare Erklärung dafür, dass er die damals Fünfzehnjährige grob misshandelt hatte. Sie hätte es provoziert.

Wie, wollte die Richterin wissen.

Keine Antwort.

Erstaunlicherweise schwieg sich auch Natalia Theodorescu darüber aus. Überhaupt kam von dieser blassen, magersüchtigen jungen Frau wenig. Sie schilderte zwar präzise, wie sie am Balken geturnt und was danach passiert war, überließ aber alles weitere einer Dritten: Corina Radu, ebenfalls Turnerin in Deva. Eine bildhübsche junge Frau, die von den Medien viel Aufmerksamkeit bekam: blonde Locken, ein ebenmäßiges Gesicht, leuchtend blaue Augen, volle Lippen. Obwohl außer ihr noch drei andere Turnerinnen in der Halle waren, als Tabor Natalia vom Balken stieß und mit Fußtritten und einem Stock attackierte, war Corina die Einzige, die den Vorfall bestätigte. Die anderen gaben an, am anderen Ende der Halle trainiert und von dem Vorfall nichts mitbekommen zu haben.

Corina Radu sprach außerdem von sexuellem Missbrauch. Angeblich griff Tabor während des Trainings zwischen die Beine oder an die Brust der Mädchen, ließ seine Hand unverhältnismäßig lange am Gesäß ruhen und beob­achtete sie ungeniert beim Duschen. Sie selbst habe er einmal an die Wand gedrückt und gewaltsam geküsst, darüber hinaus zum Oralverkehr gezwungen. Hierfür gab es jedoch keine Zeugen.

Die fehlenden Beweise waren wohl der Grund, weshalb das Strafmaß nicht allzu hoch ausgefallen war. Insgesamt hatte Julia den Eindruck, dass es bei diesem Prozess keinen Gewinner gab. Ihr kam alles vor wie eine Schlammschlacht übelster Art.

Was hatte sich Natalia Theodorescu von alledem versprochen? Gerechtigkeit? Rache? – Sie selbst wirkte auf den Fotos nach dem Prozess kränker und mitgenommener als zuvor, während Corina Radu im Blitzlichtgewitter und im Schein der Fernsehkameras stand und in unzähligen Interviews über den harten Trainingsalltag in Deva berichtete. Erst drei Monate nach Urteilsverkündung ebbte das mediale Interesse an der Turnerin ab und sie verschwand von der Bildfläche.

Grübelnd fuhr Julia mit der U-Bahn nach Hause und tätigte einen Anruf bei der polizeilichen Pressestelle in Wien. Vielleicht gab es dort Neues zum Fall Tabor? Wie nicht anders erwartet, hielt sich der Beamte bedeckt. Immerhin konnte sie ihm entlocken, dass der Extrainer auch in Österreich kein unbeschriebenes Blatt war: wegen Beteiligung an Schlepperei vor vier Jahren zu einer Bewährungsstrafe verurteilt; zudem zweimal in Schlägereien verwickelt, bei denen einige Beteiligte so übel zugerichtet wurden, das Krankenwagen anrücken mussten. In einem Fall war Tabor selbst Opfer geworden und hatte mehrere Rippenbrüche davongetragen, im anderen brach er einem Mann die Nase und wurde wegen Körperverletzung angezeigt. Zur Gerichtsverhandlung kam es jedoch nie, weil der Betroffene kurz vorher in einem milieubedingten Streit erschossen wurde und niemand sonst den Vorfall bezeugen konnte.

»Dieser Tabor war ein typischer Kleinkrimineller«, ließ der Pressesprecher sie wissen und klang dabei fast schon plauderlaunig. »Der hat sich in den falschen Kreisen bewegt. Das ist eben immer mit einem gewissen Ablebensrisiko verbunden

Das Wort Ablebensrisiko im Kopf, tippte Julia ihre tausendfünfhundert Anschläge und schickte den Kurzbericht an den Chef vom Dienst.