Kapitel 6

 

Gracen

 

Ich starre den Deckenventilator an, der träge über mir rotiert, und überlege, ob ich aufstehen soll. Ich sehne mich nach Kaffee.

Und noch mehr Kirschkuchen.

Leider bedeutet das, dass ich Marek bei Tageslicht gegenübertreten muss, und das wird alles andere als angenehm werden. Denn gestern Abend hätte er mich fast geküsst, und ich hätte ihn fast gewähren lassen.

Es war schwer, ihn an seine wahren Gefühle für mich zu erinnern. Marek hat schon immer eine mächtige Präsenz ausgestrahlt. Er strotzt vor Selbstvertrauen und Anziehungskraft. Seit ich ihm im Alter von fünfzehn zum ersten Mal begegnet bin, fühlte ich mich hilflos zu ihm hingezogen. Meine Eltern waren mit mir nach Wilkie umgesiedelt, als ich gerade die zehnte Klasse besuchte. Er war damals achtzehn und in der Oberstufe. Drei Monate später, an meinem sechzehnten Geburtstag, verlor ich meine Jungfräulichkeit an ihn. Es war ein Geschenk, das ich mir selbst gemacht habe.

Es gab eine Zeit, in der er mir genauso verfallen war wie ich ihm. Fünf wunderschöne Jahre lang gehörten wir einander.

Obwohl er gestern Abend völlig betrunken war, hätte ich ihm fast nachgegeben. Hätte ich mich von ihm küssen lassen, hätten wir zweifellos an Ort und Stelle auf dem Küchenboden miteinander geschlafen. Ich bin mir sicher, dass er es wollte, denn ich habe die Erektion in seiner Jeans gesehen.

Meine Güte, ich habe diesen Schwanz genauso sehr geliebt wie ihn. Er war riesig, zuweilen sogar unangenehm, aber immer darauf bedacht, mir Lust zu bescheren.

Einst war Marek mir mit Haut und Haaren ergeben.

Ich bin so froh, dass ich der Versuchung gestern nicht erlegen bin. Das wäre eine Katastrophe gewesen, mit der ich nicht hätte umgehen können.

Allerdings war es nicht leicht, auf Distanz zu bleiben, denn eine Nacht mit Marek wäre es fast wert gewesen, meine Seele an den Teufel zu verkaufen. Seit unserer Trennung habe ich zwar mit einigen Männern geschlafen, aber keiner von ihnen hat Marek das Wasser reichen können. Etwa ein Jahr nach Lillys Geburt begann ich, auf Drängen meiner Eltern hin, mich wieder in die Dating-Welt zu stürzen. Sie hofften, dass ich mich wieder verlieben und sesshaft werden würde.

Ich wollte das nicht, doch das würde ich ihnen nie verraten. Es fiel mir schwer, Vertrauen zu fassen, also beschränkte ich mich auf unverbindliche Beziehungen. Aber nach einem Jahr voll halb garem Sex wusste ich, dass ich als Single besser dran war. Niemand war mit Marek vergleichbar.

Dieser Mistkerl hatte mich für jeden anderen Mann verdorben.

Owen konnte ich allerdings nicht mit ihm vergleichen, zumindest nicht im Bett. Wir haben nie miteinander geschlafen. Vier Monate lang waren wir zusammen, und ich habe mich ihm kein einziges Mal hingegeben. Aber ich bin sicher, dass es ihn nicht sonderlich störte, da er während unserer „Beziehung“ unverhohlen weiter die Stadtschlampe Lisa Camaretti vögelte.

Wenn man eine Erpressung überhaupt als Beziehung bezeichnen konnte.

Ich schäme mich nicht einmal, zuzugeben, dass ich ihn so lange wie möglich hingehalten habe. Doch irgendwann musste ich seinen Heiratsantrag entweder annehmen oder riskieren, dass meine Eltern darunter gelitten hätten. Also willigte ich ein. Er hatte ein Druckmittel, und ich hatte keine Kraft mehr. In meiner Hochzeitsnacht mit Owen hätte ich zum ersten Mal mit ihm schlafen müssen, und der Gedanke macht mich krank. Als Marek auftauchte, um die Hochzeit zu verhindern, hat er mich zwar vor einer schrecklichen Situation bewahrt, mich aber direkt in eine andere missliche Lage gestürzt.

Ich hebe den Kopf, als meine Schlafzimmertür langsam mit einem leisen Quietschen geöffnet wird. Lilly steckt den Kopf ins Zimmer und schenkt mir ein Grinsen.

Ich ziehe die Hände unter meinem Kopf hervor und strecke sie ihr entgegen. „Guten Morgen, Lilly-Maus.“

„Mommy!“, ruft sie und läuft ins Zimmer, zieht sich aufs Bett und krabbelt zu mir unter die Decke.

„Gut geschlafen?“, frage ich und drücke ihr einen Kuss auf den Kopf.

Sie nickt und kuschelt sich an mich.

Lilly ist ein so warmherziges Kind und hält nie mit ihrer Liebe zu mir hinter dem Berg. Ihre spontanen Umarmungen und unerwarteten Zuneigungsbekundungen lassen mein Herz jedes Mal dahinschmelzen, ganz gleich, wie oft ich sie höre. Solange ich meine Tochter an meiner Seite habe, habe ich das Gefühl, alles bewältigen zu können. Sie ist das Beste, was mir je widerfahren ist.

„Hast du Hunger? Worauf hast du Lust?“, frage ich sie.

„Pfannkuchen.“

„Also schön, dann machen wir Pfannkuchen“, verspreche ich, richte mich im Bett auf und ziehe sie an mich. Ich schlage die Bettdecke zurück und rolle mit ihr aus dem Bett, wobei ich sie kitzle. Ihr Kichern ist ansteckend, und ich stimme unwillkürlich mit ein.

Ich setze sie auf dem Boden ab und gebe ihr einen zärtlichen Klaps auf den Hintern. „Du kennst die Morgenroutine. Zieh dir deine Windel aus, wirf sie in den Mülleimer und schlüpfe in eine Hose.“

„Okay, Mommy“, erwidert sie mit gefälligem Tonfall.

Lilly ist ein sehr unabhängiges Mädchen. Schon früh hatte sie gelernt, sich selbst anzukleiden.

Zumindest halbwegs.

Mit etwas Mühe schafft sie es, sich ihrer Kleider zu entledigen und Unterwäsche, Hemd und Hose anzuziehen, wobei jedes Mal eine fünfzigprozentige Chance besteht, dass die Nähte nach außen zeigen. Socken und Schuhe stellen für sie weiterhin eine frustrierende Herausforderung dar, doch sie wird nicht aufgeben. Mir bereitet es Freude, dass sie einige dieser Aufgaben selbst übernimmt. Nachts braucht sie zwar noch eine Windel, aber ich denke, das wird sie auch bald hinter sich lassen können. Einstweilen ist sie stolz auf ihre Fähigkeit, sich eigenständig anzuziehen. Obwohl ich mir von Herzen wünsche, dass sie für immer mein kleines Mädchen bleibt, will meine Seele, dass sie die ganze Welt erobert.

Lilly eilt in ihr Zimmer, und ich schlüpfe in ein präsentables Outfit. Nachdem Marek mich gestern Abend unverhohlen begafft hat, weiß ich, dass ich mich in seiner Gegenwart nicht ganz so freizügig kleiden sollte.

Gerade als ich meine Haare zu einem unordentlichen Knoten zusammenbinde, klingelt mein Handy. Ich sehe Owens Namen auf dem Display und versteife mich. In seinen letzten Nachrichten hat er mir zunehmend zu verstehen gegeben, dass er sich mit mir unterhalten will. Bisher habe ich es jedoch vermieden, ihn anzurufen, weil es für mich leichter ist, nicht mit ihm zu reden.

Doch der Gedanke, dass er meine Eltern besucht und wahrscheinlich schikaniert hat, gefällt mir ganz und gar nicht. Also beschließe ich, den Stier bei den Hörnern zu packen. In dem Wissen, dass ich ihn erneut hinhalten werde, straffe ich die Schultern und nehme den Anruf an.

„Owen“, hauche ich, als wäre ich erleichtert, von ihm zu hören.

„Es wird aber auch Zeit, dass du endlich rangehst“, antwortet er knapp.

„Es tut mir leid“, lüge ich unverblümt. „Bisher hatte ich kaum einen ruhigen Moment für mich.“

„Weil du so viel Zeit mit Marek verbringst?“, fragt er neugierig.

Es kommt mir grundfalsch vor, dass in seiner Stimme nicht einmal ein Anflug von Eifersucht mitschwingt. Owen fühlt sich von Marek nicht bedroht, weil er weiß, dass Marek mich verlassen hat. Aber er hat keine Ahnung von der innigen Beziehung, die Marek und ich einst hatten, was vor allem daran liegt, dass Owen nicht in der Lage ist, eine so tiefe Liebe zu verstehen. Sie übersteigt einfach seine Vorstellungskraft. Außerdem ist er überzeugt davon, dass mir gar nicht in den Sinn kommen würde, nicht zu ihm zurückzukehren, da er gegen meine Eltern und mich ein Druckmittel hat.

Selbstgefälliges Arschloch.

„Ich helfe Marek und Lilly dabei, einander kennenzulernen“, korrigiere ich ihn.

„Wie läuft es denn so?“, fragt er widerwillig.

Das ist das Einzige, was ich diesem Mann jemals zugutehalten werde. Obwohl er Lilly nie besonders nahestand, war er immer nett zu ihr. Immerhin scheint er sich in Gegenwart von Kindern im Griff zu haben und führt sich nicht wie ein manipulativer Fiesling auf. Er musste Lilly nicht benutzen, um an mich heranzukommen, weil er mich schon in der Hand hatte. Mit der Zeit genoss Owen Lillys Gesellschaft sogar und benahm sich ihr gegenüber anständig. Oder besser gesagt, er trug seinen Schafspelz sehr überzeugend.

„So gut, wie es zu erwarten war“, antworte ich und sage zum ersten Mal in diesem Gespräch die Wahrheit. „Lilly begreift langsam, welche Rolle er in ihrem Leben spielt, und Marek bemüht sich, ihr ein Vater zu sein.“

Owen brummt zustimmend, dann ist das Thema Lilly für ihn beendet. Viel zu leichtfertig wirft er den Schafspelz ab. „Wann kommst du zurück? Ich will diese Hochzeit hinter mich bringen.“

Mir läuft ein kalter Schauer über den Rücken, und mein Magen verkrampft sich. „Ich weiß nicht. Vielleicht in ein paar Monaten.“

„Auf keinen Fall“, entgegnet er mit düsterem Tonfall. „Ich bin zwar ein geduldiger Mann, aber so geduldig nun auch wieder nicht, Gracen. Du hast zugestimmt, meine Frau zu werden. Und als du ihm nach North Carolina gefolgt bist, hast du versprochen, dass es nur vorübergehend sein würde. Bis du dich mit ihm in Bezug auf das Sorgerecht geeinigt hast.“

Ich schließe die Augen und reibe mir mit der freien Hand über den Nasenrücken. Mir war nichts anderes übrig geblieben, als Owen zu versprechen, dass ich zurückkommen würde. Ich wollte ihm Hoffnung machen, damit er meine Eltern in Ruhe lässt, bis ich eine Lösung gefunden habe.

„Hör zu“, sage ich und verabscheue den verzweifelten Unterton in meiner Stimme. Dadurch offenbare ich ihm nur meine Schwächen. „Ich hatte noch keine Gelegenheit, mit Marek über das Sorgerecht zu sprechen. Er ist wütend auf mich, weil ich ihm Lilly vorenthalten habe, und … er macht es mir nicht gerade leicht. Ich brauche lediglich ein wenig mehr Zeit …“

„Die Zwangsversteigerung wurde vorgezogen“, fällt Owen mir ins Wort.

Mir rutscht das Herz in die Hose. Ich kann nicht glauben, dass er so tief sinkt.

„Es tut mir leid, aber mir sind die Hände gebunden.“ Er lässt die Worte in der Luft hängen und gibt mir so zu verstehen, dass er möglicherweise doch helfen könnte.

Es ist ganz offensichtlich, was er mir damit sagen will. Er wird die Zwangsversteigerung meines Elternhauses nicht verhindern, es sei denn, ich komme zurück und heirate ihn.

„Ich habe es dir gesagt, Gracen“, fährt er mit gedämpfter Stimme fort und ist hörbar zufrieden, dass er mich in die Enge getrieben hat. „Sobald wir verheiratet sind, gehören deine Eltern zu meiner Familie. Ich werde die zweite Hypothek abbezahlen und dafür sorgen, dass sie ihr Haus behalten können.“

Ich muss schlucken und schweige, denn ich habe Angst, dass ich in Tränen ausbrechen könnte, wenn ich etwas sage.

Aber er will ohnehin, dass ich zuhöre, während er fortfährt. „Wenn du die Hochzeit platzen lässt … nun, dann wird es sofort zur Zwangsversteigerung kommen.“

Dieser verdammte Mistkerl. Er spielt sich als mein Retter auf, dabei hat er meine Eltern überhaupt erst in diese Situation gebracht. Und das alles nur, weil er mich an seiner Seite haben will, um mit mir in unserer Gemeinde anzugeben. Für ihn bin ich nichts weiter als eine hübsche Zierde. Nachdem ich seinen Heiratsantrag abgelehnt hatte, machte er meinen Eltern das Leben schwer. Sie hatten eine zweite Hypothek auf ihr Haus aufgenommen, um meine Ausbildung zu finanzieren. Dann verlor mein Vater seinen Job, und die Bank gewährte ihm einen Zahlungsaufschub. Aber Owen, dessen Vater der Direktor der örtlichen Bank ist, nutzte seine Beziehungen und setzte mich unter Druck, um mich umzustimmen.

„Kannst du bitte einen weiteren Aufschub für sie erwirken, Owen?“, flehe ich und muss die Galle hinunterschlucken, die meine Worte in mir aufsteigen lassen. „Ich verspreche dir, ich werde alles so schnell wie möglich klären. Aber ich muss vorsichtig sein, wenn es um Lilly geht. Die ganze Angelegenheit ist schwer für sie, und ich will Marek nicht noch mehr gegen mich aufbringen.“

Wahrscheinlich werde ich für meine Lügen zur Hölle fahren. Doch mir bleibt nichts anderes übrig. Ich muss das eine Problem vorübergehend aus der Welt schaffen, um mich um ein anderes kümmern zu können, während ich hoffe, dass das erste nicht über mir zusammenbricht.

„Marek ist ein Arschloch“, bemerkt Owen selbstgefällig, als müsste ich mich dafür schämen, dass ich mit ihm ein Kind gezeugt habe. Nicht dafür, dass ich ihn geliebt habe. „Soll ich vorbeikommen und dir zur Hand gehen? Es wäre kein Problem. Würde das den Prozess beschleunigen?“

„Nein“, erwidere ich hastig. „Ich denke, es wäre besser, wenn du mir noch etwas Zeit gibst, damit ich mich mit ihm gut stellen kann.“

„Und wie genau willst du das anstellen?“, fragt er und lacht leise. Offenbar amüsiert der Idiot sich über meine missliche Lage.

„Indem ich mich wiederholt dafür entschuldige, dass ich ihm seine Tochter vorenthalten habe“, entgegne ich schroff. „Du darfst nicht vergessen, dass ich ihm unrecht getan habe.“

An diesem Punkt würde Owen vielleicht sagen: „Wen kümmert das schon? Er hat dir auch unrecht getan.“ Aber davon weiß er nichts. Er kennt die Umstände nicht, unter denen Marek mich verlassen und mir das Herz gebrochen hat. Außer meinen Eltern habe ich nie jemandem etwas darüber erzählt. Als ich herausfand, dass ich schwanger war, standen sie mir zur Seite. Sie waren zwar nicht mit meiner Entscheidung einverstanden, Marek das Kind zu verheimlichen, doch sie konnten nachvollziehen, warum ich ihm nichts sagen wollte. Sie wussten, wie sehr er mich verletzt hatte und wie einsam ich mich fühlte, nachdem er mich verlassen hatte.

Da Mareks und meine Trennung in Owens Augen unbedeutend ist, wechselt er das Thema. „Eines würde mich interessieren. Wie hat er von unserer Hochzeit erfahren?“

„Jemand hat ihm eine E-Mail geschickt“, antworte ich, während ich auf meinem Daumennagel herumkaue.

„Ich wette, es war deine Schwester Bev. Sie kann mich nicht ausstehen.“

Nicht viele Menschen können dich leiden, Owen.

„Bev war es nicht“, versichere ich ihm. Das weiß ich mit Sicherheit. Außerdem war Bev überglücklich, als sie hörte, dass ich Owen heiraten würde, denn dadurch würde ich gesellschaftlich ein größeres Ansehen genießen. Sie fand es großartig.

„Du musst mir schon ein Datum nennen, Gracen“, sagt Owen, und mein Puls beschleunigt sich. „Ich will einen neuen Termin für die Hochzeit festlegen.“

„Gib mir noch einen Monat“, flüstere ich. Das ist nicht annähernd genug Zeit, um alles in trockene Tücher zu bringen, doch ich hoffe, dass es ihn zufriedenstellen und er einwilligen wird.

„Zwei Wochen“, entgegnet er. Dabei verhandelt er nicht mit mir, sondern erteilt mir einen Befehl, der keinen Raum für Diskussionen lässt. Doch dann mildert er seine Worte etwas ab, indem er hinzufügt: „Ich werde eine dreißigtägige Verlängerung für deine Eltern erwirken. Aber danach kann ich ihnen nicht mehr helfen.“

„Danke“, antworte ich. In diesem Moment scheint meine Zunge genauso schwer wie das Gewicht, das auf meinen Schultern lastet.

„Bis bald“, murmelt er mit einem anzüglichen Unterton in der Stimme.

Einfach widerlich.

Als er das Gespräch beendet, bemerke ich, dass meine Hände schwitzen.