Marek
„Haben Sie sonst noch Fragen an mich, Mr. Fabritis?“
Ich werfe einen Blick auf Lilly, die auf dem Stuhl neben mir sitzt und sich in ein Buch von Dr. Seuss vertieft hat, während ich mit Miss Dormers, der Leiterin der renommierten Brassfield School, spreche. Es ist die dritte „Schule“ dieser Art, die ich heute besuche. Ich frage mich, wann aus den einfachen Kindertagesstätten „Bildungs- und Lernzentren“ für Kleinkinder geworden sind.
„Das ist alles ein bisschen viel auf einmal“, gestehe ich. „Sie ist noch keine vier Jahre alt und soll bereits Spanisch lernen? Zu meiner Zeit waren die Höhepunkte meines Tages der Mittagsschlaf und Götterspeise.“
Miss Dormers lacht und schenkt mir dann ein wissendes Lächeln. „Die Kinder hier machen viele Nickerchen und Pausen und bekommen gesunde Snacks. Aber mental werden sie auf jeden Fall gefordert.“
Bisher war der heutige Tag ein unglaubliches Erlebnis für mich. Gracen hat ihre Stelle im Krankenhaus angetreten und mich gestern darüber informiert, dass ich mich nicht nur um Lilly kümmern, sondern ihr auch dabei helfen muss, eine geeignete Kindertagesstätte für Lilly zu finden, da das Trainingslager am Montag beginnt. So hatte ich mir meinen letzten freien Freitag vor Saisonbeginn zwar nicht vorgestellt, aber ich scheue mich nicht vor der Verantwortung.
Natürlich macht es mich ein wenig nervös, ganz allein auf Lilly aufzupassen. Was ist, wenn ihr etwas im Hals stecken bleibt? Oder sie eine Allergie hat, von der ich nichts weiß? Das hätte Gracen mir doch sicher mitgeteilt, nicht wahr?
Verdammt, ich zweifelte bereits an meinen eigenen Fähigkeiten, als ich sie in den Autositz schnallte, den wir aus Gracens Wagen in meinen verladen hatten. Ich war überzeugt davon, dass der Gurt viel zu eng saß. Und während ich mit ihr durch die Gegend fuhr, war ich ein nervliches Wrack.
„Ich werde mich zuerst mit Lillys Mutter beraten müssen“, sage ich zu der hilfsbereiten Schulleiterin. „Aber wir werden vor Ende des Tages eine Entscheidung treffen.“
Zumindest glaube ich das. Ich habe völlig vergessen, Gracen zu fragen, wann sie Feierabend hat. Doch da ihr erster Tag nur aus einer Einführung in ihren Job besteht, gehe ich davon aus, dass sie nicht allzu lange im Krankenhaus bleiben wird. Seitdem ich sie vorgestern geküsst habe, haben wir uns nicht mehr eingehend unterhalten. Ich war so verdammt wütend auf sie und zugleich unglaublich erregt, und bin deshalb immer noch völlig verwirrt.
Ich nehme eine elegante Informationsmappe von Miss Dormers entgegen, bevor sie Lilly und mich zum Ausgang begleitet. Kaum habe ich Lilly in ihren Autositz geschnallt, sagt sie: „Ich muss mal aufs Töpfchen.“
In diesem Fall weiß ich, wie ich mit der Situation umgehen muss. Gracen hat mir unsere Tochter nicht einfach ausgehändigt, ohne mir ein paar grundlegende Anweisungen mit auf den Weg zu geben. Sie hat mir genaustens erklärt, was ich zu tun habe, wenn Lilly auf die Toilette muss.
„Klein oder groß?“, frage ich, da bei Letzterem meine Hilfe etwas mehr gefragt ist.
„Klein“, antwortet sie mit einem niedlichen Grinsen.
„Okay“, erwidere ich mit einem Lächeln und schnalle meine Tochter wieder ab. „Dann mal los.“
Nachdem ich es geschafft habe, Lilly zurück in die Schule zu bringen und auf die Besuchertoilette neben dem Büro zu setzen, bin ich einigermaßen stolz auf mich. Ich stehe vor der Tür und rufe alle dreißig Sekunden: „Alles in Ordnung?“
Jedes Mal antwortet Lilly: „Alles klar.“
Nach einer gefühlten halben Stunde – obwohl erst fünf Minuten vergangen sind - versichert mir Lilly zum zehnten Mal, dass es ihr gut geht, doch ich drücke langsam die Tür auf.
Lilly sitzt auf der Toilette, ihre kleinen Jeansshorts hängen auf Höhe ihrer Schienbeine. Sie hat die Ellbogen auf die Oberschenkel gestützt und sich leicht nach vorn gebeugt, während sie ihre Beine in der Luft baumeln lässt.
„Musst du immer noch pinkeln?“, will ich wissen.
„Ich glaube, ich muss auch groß“, antwortet sie. „Erzählst du mir eine Geschichte?“
„Ich … äh … eine Geschichte?“
Sie nickt und grinst mich erwartungsvoll an.
„Also schön … was für eine Geschichte möchtest du denn hören?“ Ich betrete die Toilette und schließe die Tür hinter mir.
„Über eine Prinzessin“, ruft sie fröhlich.
Mist. Eine Prinzessin? Im Ernst?
Ich zermartere mir den Kopf und versuche, mich auf irgendetwas zu besinnen, was ich über Prinzessinnen wissen könnte, aber mir fällt nichts ein. Derweil starrt Lilly mich mit ihren blauen Augen gespannt an, und mir tritt der Schweiß auf die Stirn. Ich gerate in Panik und habe Angst, zu versagen.
Doch dann erinnere ich mich an etwas, was Gracen heute Morgen zu mir gesagt hat, als sie Lilly Eier und Speck zum Frühstück briet. „Denk einfach daran, dass Lilly ein unkompliziertes Kind ist. Im Grunde kannst du sie gar nicht enttäuschen.“
Meine Güte, ich hoffe, sie hat recht damit.
Ich atme tief durch, lehne mich gegen das Waschbecken und stecke die Hände in die Hosentaschen. „Also gut, es war einmal eine Prinzessin.“
„Wie hieß sie denn?“, fragt Lilly aufgeregt.
„Äh … Prinzessin Joan“, antworte ich, weil mir auf Anhieb der Name meiner Mutter in den Sinn kommt.
Lilly runzelt die Stirn. Ich bin mir nicht sicher, ob sie den Namen seltsam findet oder tatsächlich ihre Notdurft verrichtet, aber ich fahre fort.
„Prinzessin Joan wurde in einem Turm gefangen gehalten und von einem großen bösen Drachen bewacht.“
Lilly reißt vor Staunen die Augen auf. Ihre Reaktion ermutigt mich.
„Alle Prinzen des Landes versuchten, sie zu retten, aber keiner von ihnen schaffte es, an dem Drachen vorbeizukommen und die lange gewundene Treppe zu erklimmen. Das Tier war einfach zu gewaltig.“
„Was ist dann passiert?“, fragt sie atemlos und runzelt erneut die Stirn.
Ja … sie verrichtet definitiv ihre Notdurft.
„Nun, zum Glück für Prinzessin Joan gab es einen sehr starken und mutigen Prinzen namens Galeti.“
„Galeti? Was ist das denn für ein Name?“, will sie misstrauisch wissen.
„Das ist ein litauischer Name. Er war ein Prinz aus dem Königreich Litauen.“ Mittlerweile spreche ich mit fester Stimme, und Lilly kauft mir die Geschichte ab. Sie schenkt mir ein strahlendes Lächeln und beugt sich noch weiter vor, als würde sie vor Vorfreude gleich platzen. „Prinz Galeti war ein Eishockeyspieler. Er war riesig und stark und hatte keine Angst vor dem Drachen.“
„Wirklich?“ Ihre Augen sind so groß wie Untertassen und funkeln vor Neugierde.
„Wirklich. Er eilte mit seinem Eishockeyschläger die Treppe hinauf, und als der Drache versuchte, ihm den Weg zu versperren, checkte er den Drachen direkt gegen die Bande.“
„Welche Bande?“
„Äh … die Burgmauer. Und der Check war so kraftvoll, dass der Drache eine Gehirnerschütterung erlitt und aus dem Spiel ausscheiden musste.“
„Welches Spiel?“
„Ich meine, er wurde vom Wachdienst abgezogen.“ Verdammt, das ist gar nicht so leicht. „Und so lief Prinz Galeti weiter die Treppe hinauf, trat die Tür ein und zog die Prinzessin in seine Arme.“
„Hat er sie geküsst? Das hat er doch, oder?“
„Ja, er hat sie geküsst. Er gab ihr einen dicken Kuss, und dann …“
„Lebten sie glücklich bis ans Ende ihrer Tage“, ruft Lilly überschwänglich und klatscht in die Hände. „Das war eine tolle Geschichte, Daddy.“
Gerade habe ich zum ersten Mal in meiner Funktion als Vater etwas für meine Tochter getan, und die Tatsache, dass es ihr gefallen hat, lässt meine Knie weich werden.
Und jedes Mal, wenn sie mich „Daddy“ nennt, durchströmt mich ein unbeschreibliches Glücksgefühl. Dann schnürt sich mir plötzlich die Kehle zu, und Tränen steigen mir in die Augen. Ich habe seit zwei Jahrzehnten nicht mehr geweint.
Zum Glück dämpft Lilly den Überschwang an Emotionen im Nu, als sie ruft: „Ich bin fertig. Kannst du mir den Po abwischen?“
Ich breche in schallendes Gelächter aus und stoße mich vom Waschbecken ab. Obwohl ich mich normalerweise nicht darum reißen würde, jemandem den Hintern abzuwischen, tue ich es in diesem Fall gern.
Als ich Lilly schließlich wieder in ihren Autositz geschnallt habe, sagt sie: „Ich habe Hunger, Daddy.“
Ich bin mir nicht sicher, ob sie wirklich weiß, was es zu bedeuten hat, aber sie nennt mich konsequent „Daddy“. Noch nie hat mich etwas so sehr berührt. Ich werfe einen Blick auf meine Armbanduhr. Es ist bereits dreizehn Uhr fünfzehn.
Verdammt, die Zeit ist wie im Flug verstrichen. Gracen hat gesagt, dass Lilly nach dem Mittagessen normalerweise ein paar Stunden schläft. Wir sind weit über die Essenszeit hinaus, und nun weiß ich nicht, was ich tun soll. Ich gehe davon aus, dass eine Mahlzeit wichtiger ist als Schlaf, aber idealerweise sollte sie beides bekommen. Laut Gracen steht Lilly für gewöhnlich um vierzehn Uhr dreißig auf, doch bis ich sie gefüttert und schlafen gelegt habe, wird es so spät sein, dass sie wahrscheinlich erst zum Abendessen wieder aufwachen wird. Das wäre sicher nicht gut, denn dann tut sie die ganze Nacht kein Auge zu.
„Scheiße“, murmele ich und fahre mir mit den Fingern durchs Haar.
„Scheiße“, wiederholt Lilly und ahmt die Geste nach.
Ich reiße die Augen auf und schüttle den Kopf. „Nein, Schatz. Das darfst du nicht sagen. Es ist ein böses Wort.“
„Warum hast du es dann gesagt?“, fragt sie und legt den Kopf schief.
„Ähm … nun … es ist zwar ein böses Wort, aber Daddys dürfen es aussprechen.“
„Oh, okay“, trällert sie, als wäre das absolut einleuchtend. Ich bin verdammt stolz auf mich, weil meine Erklärung aus Sicht eines Kleinkindes offenbar Sinn ergibt.
Ich tätschle ihr das Knie, trete einen Schritt zurück und schließe die Tür. Während ich die Vorderseite des Wagens umrunde, ziehe ich mein Handy aus der Tasche und überlege, Gracen anzurufen und sie um Rat zu bitten. Doch das kann ich nicht tun. Sie ist bei der Arbeit.
Also entscheide ich mich für die nächstbeste Option.
Kaum habe ich mich ans Steuer gesetzt, meldet Reed sich am anderen Ende der Leitung.
„Ist Josie da?“, frage ich. Ich habe ihre Telefonnummer nicht, und wenn man bedenkt, wie ich Gracen bisher behandelt habe, ist sie wahrscheinlich nicht mein größter Fan.
„Ja, sicher“, antwortet Reed. Einen Moment später höre ich ihn sagen: „Es ist für dich.“
„Hallo?“, murmelt sie zögerlich.
„Josie, ich bin’s, Marek.“
„Was ist los?“, will sie wissen und klingt dabei überraschend aufgeschlossen.
„Ist es gefährlich, wenn ein Kind seinen Mittagsschlaf verpasst?“
„Wie bitte?“
„Wenn ich Lilly heute nicht schlafen lege, hat das irgendwelche gefährlichen Auswirkungen?“
„Ja“, antwortet sie mit ernster Stimme.
Mein Magen verkrampft sich, denn ich habe keine Ahnung, wie ich die Situation bewältigen soll. Vielleicht gebe ich ihr nichts zu essen und lasse sie stattdessen einfach schlafen.
„Was könnte passieren?“, frage ich voller Anspannung.
„Wahrscheinlich wirst du es um neunzehn Uhr mit einem sehr quengeligen Kleinkind zu tun haben“, erklärt sie lachend. „Warum?“
Erleichterung durchströmt mich, und ich kann Josie nicht einmal böse sein, weil sie mich auf den Arm genommen hat. „Ich passe heute auf Lilly auf, und wir wollten gerade etwas zu Mittag essen. Aber wenn wir damit fertig sind, wird es zu spät für ihr Nickerchen sein.“
„Entspann dich.“ Josie lacht wieder. „Sie wird schlafen, wenn sie müde ist. Ich habe schon Kinder über ihrem Teller einschlafen sehen. Vielleicht bleibt sie auch wach. Kommt ganz darauf an.“
„Aber sie wird nicht sterben, wenn sie nicht schläft?“, frage ich, nur um sicherzugehen.
„Nein, sie wird nicht sterben, Marek.“
„Wunderbar. Danke.“ Ich beende das Gespräch und drehe mich auf meinem Sitz zu Lilly um. „Hast du Lust auf ein bisschen Spaß?“
Sie nickt mir mit funkelnden Augen zu.
„Dann halt dich gut fest, kleines Mädchen, denn wir fahren zu Dave and Buster’s. Da gibt es Cheeseburger und Spiele.“
„Warum soll ich mich festhalten? Ich bin doch angeschnallt“, erklärt sie.
„Du darfst nicht alles wörtlich nehmen, aber daran arbeiten wir noch.“ Ich grinse meine Tochter an und drehe mich wieder nach vorn, um endlich losfahren zu können.
Das Nickerchen kann warten!