Gracen
Ich öffne die Glastür, die zu einem Innenhof direkt neben der Krankenhauscafeteria führt. Er steht sowohl Patienten als auch Besuchern und medizinischem Personal offen, aber heute sind alle Tische bis auf den letzten Platz besetzt, da es für September ungewöhnlich kühl in Carolina ist.
Das habe ich zumindest gehört.
Ich entdecke Josie an einem runden Vierertisch und bahne mir einen Weg zu ihr. Kurz nachdem ich heute Morgen zur Arbeit gekommen war, hat sie mir eine Nachricht geschickt, um sich mit mir zum Mittagessen zu verabreden. Wir arbeiten heute beide von sieben bis neunzehn Uhr.
„Ich habe etwa zwanzig Minuten Zeit“, sage ich und setze mich auf den Platz zu ihrer Rechten.
„Und ich ungefähr zehn“, erwidert sie grinsend und beißt dann genüsslich in ein Sandwich, das aussieht, als wäre es mit Thunfisch belegt.
„Angeberin“, sage ich mit einem gespielten Knurren.
Josie gluckst beim Kauen. Ich packe mein Schinken-Käse-Sandwich aus, das ich mir aus der Kühltheke in der Cafeteria genommen habe. Vor den warmen Mahlzeiten stand eine lange Schlange von Besuchern, die mehr Zeit zum Essen haben als das medizinische Personal.
Als ich in mein Sandwich beiße, schluckt Josie ihren Bissen hinunter. Sie verschwendet wirklich keine einzige ihrer zehn Minuten. „Wie läuft es zwischen dir und Marek?“
Ich weiß genau, worauf sie hinauswill, doch ich halte meine Antwort unverbindlich. „Es war schön, seine Eltern über das Wochenende hier gehabt zu haben. Lilly hat die beiden sofort in ihr Herz geschlossen.“
Damit kann ich Josie offenbar von Marek ablenken, denn sie runzelt die Stirn. „Wie war das Wiedersehen mit ihnen?“
„Sie waren viel freundlicher, als ich es verdient habe.“
Josies besorgte Miene weicht einem missfallenden Gesichtsausdruck. „Du verdienst nichts als Freundlichkeit, Gracen.“
„Mag sein. Aber ich hätte es auch verdient, wenn sie wütend auf mich gewesen wären.“
„Doch das waren sie nicht?“
Ich schüttle den Kopf. „Sie waren einfach nur nett und nachsichtig.“
„Marek könnte sich eine Scheibe von ihnen abschneiden“, murmelt Josie.
„Nun“, sage ich, während ich an der Kruste meines Sandwichs zupfe. „Er hat mich gebeten, bei ihm im Haus wohnen, statt mir ein Apartment zu suchen. Dabei hat er mir versprochen, dass er von jetzt an netter zu mir sein wird.“
Josie zieht eine Augenbraue in die Höhe. „Sieh mal einer an. Das ist doch eine schöne Wendung.“
„Vielleicht.“ Offenbar ist mein Tonfall zu verhalten, denn Josie liest zwischen den Zeilen und runzelt die Stirn.
Sie beugt sich über den Tisch und fragt mit gedämpfter Stimme: „Was ist los?“
„Nichts.“
„Lügnerin.“
„Ich lüge nicht.“
„Doch, das tust du. Jetzt spuck es schon aus“, brummt sie.
Ich werfe die Hände in die Luft und verkünde lautstark: „Also schön. Er hat mich geküsst.“
Die Leute an den umliegenden Tischen drehen sich zu mir um und starren mich an. Ich laufe hochrot an und ziehe den Kopf ein, dann beuge ich mich vor und murmle: „Er hat mich stürmisch geküsst, und ich habe den Kuss erwidert.“
„Bedeutet das, ihr seid … wieder zusammen?“
Mit einem energischen Kopfschütteln bringe ich sie sofort von dieser Idee ab. „Auf keinen Fall. Er hat mich geküsst, nachdem er mir erneut Vorwürfe gemacht hat, weil ich ihm Lilly verheimlicht habe. Wir haben uns gestritten, und durch den Kuss hat er lediglich seine Wut kanalisiert.“
„Und was hat er für dich bedeutet?“, will sie wissen und legt neugierig den Kopf schief.
Meine Güte, für mich hatte das Ganze nichts mit Wut zu tun. Ich habe Marek geküsst, weil ich ihn immer noch liebe und weil er sich so um Lilly bemüht. Und weil ich ihn nach wie vor begehre.
Es ist töricht, dumm und wahnsinnig, doch ich verzehre mich nach ihm.
Ich nehme mein Sandwich vom Teller und betrachte es nachdenklich. „Ich will Frieden und Glück in meinem Leben. Aber mit Marek werde ich weder das eine noch das andere finden. Also darf der Kuss keine Bedeutung für mich haben.“
Ich beiße in mein Sandwich und lasse meine Worte auf Josie wirken. Sie starrt mich nur an und fragt sich vielleicht, warum ich auf das Thema nicht näher eingehen will. Ich erkenne den Moment, in dem sie beschließt, mich dennoch zu drängen, denn sie hat ein berechnendes, verschmitztes Funkeln in den Augen.
Ich schlucke den Bissen hinunter und bereite mich darauf vor, jegliche romantische Vorstellungen, die sie von Marek und mir haben könnte, von mir zu weisen, als eine Stimme hinter mir ertönt: „Hey, Josie.“
Ich werfe einen Blick über die Schulter und sehe einen sehr gut aussehenden Arzt dort stehen. Er starrt mich unverhohlen an. Sein braunes Haar ist ordentlich geschnitten, und in seinen braunen Augen liegt ein freundlicher Ausdruck.
„Hey, Aiden“, antwortet Josie.
Ich schenke dem Mann ein Lächeln, das er sofort mit einem strahlenden Grinsen erwidert. Ich bin fast geblendet, als er sich unaufgefordert einfach neben mich setzt. Er wendet sich Josie zu. „Willst du mich deiner neuen Freundin denn gar nicht vorstellen?“
Josie verdreht die Augen und zeigt mit einer winkenden Geste auf mich. „Aiden, das ist Gracen. Sie ist Krankenschwester auf der Entbindungsstation. Heute ist ihr erster Tag. Und Gracen, das ist Aiden McCune. Er ist ein Kollege aus der Notaufnahme.“
„Dr. McCune, schön, Sie kennenzulernen“, sage ich und reiche ihm die Hand.
Statt eines professionellen Händedrucks ergreift er zärtlich meine Hand und verzieht die Lippen zu dem charmantesten Lächeln, das ich seit Langem zu Gesicht bekommen habe: „Nicht doch, nenn mich bitte Aiden.“
„Oh je“, murmelt Josie. Ich schaue sie nicht an, aber ich kann förmlich spüren, wie sie erneut die Augen verdreht.
Aiden lacht leise und lässt meine Hand los. Er lehnt sich lässig in seinem Stuhl zurück und wendet sich mir zu. „Ich war gerade mit dem Mittagessen fertig und habe euch beide hier sitzen sehen. Also wollte ich mich vorstellen.“
„Und flirten“, fügt Josie hinzu.
Ich begegne ihrem Blick, woraufhin sie mich angrinst. An dem belustigten Funkeln in ihren Augen kann ich erkennen, dass Aiden offensichtlich ein netter Kerl ist. Andernfalls hätte sie ihm sicher nicht gestattet, sich zu setzen.
Sie sieht ihn an. „Gracen ist neu in Raleigh und gerade erst aus New York hierhergezogen.“
„Ach wirklich? Wie gefällt es dir hier?“, will er von mir wissen.
„Es ist eine sehr schöne Gegend.“ Ich weiß, dass das nicht sonderlich aussagekräftig ist, aber was soll ich sonst sagen? Ich bin seit etwas mehr als zwei Wochen hier und war bisher hauptsächlich damit beschäftigt, Mareks Zorn zu entfliehen.
„Was bringt dich hierher?“, fragt Aiden, während er lässig einen Fuß über dem Knie des anderen Beins kreuzt. Offenbar hat er vor, sich noch eine Weile mit mir zu unterhalten.
Ich zögere nicht mit meiner Antwort. Wenn Aiden tatsächlich mit mir flirtet und auf ein tiefergehendes Gespräch aus ist, dann werde ich ihm reinen Wein einschenken. „Ich habe vor etwa dreieinhalb Jahren ein Kind bekommen und es vor dem Vater geheim gehalten. Vor Kurzem hat er jedoch davon erfahren und ist nach New York gereist, um mich und meine Tochter Lilly praktisch zu entführen. Daraufhin hat er uns hierhergebracht, damit er sie kennenlernen kann.“
Aiden fällt die Kinnlade herunter, und Josie bricht in schallendes Gelächter aus. Sie schnappt nach Luft und versucht, etwas zu sagen, doch dann lacht sie einfach weiter.
„Wow“, erwidert Aiden gedehnt und verzieht die Lippen zu einem Lächeln, während Josie vor sich hin kichert. „Du hast eine bewegte Vergangenheit. Das gefällt mir. Bist du wieder mit dem Vater zusammen?“
„Nein“, sage ich hastig. Vielleicht sogar etwas zu hastig, denn Josies Kichern verebbt, und sie starrt mich an. Ich wende mich jedoch Aiden zu. „Ich bin Single und genieße mein Leben.“
„Genießt du es so sehr, dass du auf ein nettes Abendessen mit einem aufrichtigen, gut aussehenden Mann wie mir verzichten würdest?“, fragt Aiden und lächelt verschmitzt.
Ich lache und schüttle den Kopf. „Ich glaube, ich brauche zuerst etwas Zeit, um mich an mein neues Leben hier zu gewöhnen. Im Moment geht noch alles drunter und drüber, und ein Date würde die Dinge nur verkomplizieren.“
„Wie wäre es dann mit einem Mittagessen hier in der Krankenhauskantine?“, hakt Aiden nach. „Wir müssen es nicht einmal ein Date nennen.“
Ich muss zugeben, dass der Mann geschickt seinen Charme spielen lässt, ohne zu dick aufzutragen. So etwas habe ich noch nie zuvor erlebt. Und durch sein Interesse fühle ich mich geschmeichelt, und es steigert mein Selbstwertgefühl. Es ist lange her, seit ich zuletzt die Aufmerksamkeit eines Mannes auf mich ziehen konnte.
Ich sehe Josie an und kratze mich am Kinn: „Ich weiß nicht. Josie, ist er wirklich so ein guter Kerl, wie er behauptet?“
Josies Augen funkeln belustigt, als sie sich Aiden zuwendet. Ich tue es ihr gleich und bin überrascht, als er zusammenzuckt.
„Aiden hat mir das Herz gebrochen“, verkündet Josie. Verblüfft starre ich sie ein, woraufhin sie die Lippen zu einem Grinsen verzieht. „Es stimmt, doch es ist lange her. Ich bin ihm aber nicht böse, denn wir waren einfach nicht füreinander bestimmt. Das Schicksal hatte einen anderen für mich vorgesehen, und auf Aiden wartet sicher auch noch die Eine.“
Ich werfe einen Blick auf Aiden, der Josie mit einer Mischung aus Bedauern und Verlegenheit betrachtet.
„Aber ja“, fährt sie fort, und ich wende mich wieder ihr zu. „Er ist ein guter Kerl, und ich denke, du solltest irgendwann mit ihm zu Mittag essen.“
„Nun, das war peinlich“, murmelt Aiden und steht auf. Josie wirkt jedoch kein bisschen verlegen.
Überrascht beobachte ich, wie Aiden sich vorbeugt, Josie einen Kuss auf den Kopf drückt und sagt: „Du Luder.“
Josie stößt ein leises Lachen aus, woraufhin Aiden sie anlächelt und den Kopf schüttelt. Dann wendet er sich mir zu. „Es war schön, dich kennenzulernen, Gracen.“
„Gleichfalls“, erwidere ich. Ich empfinde etwas Mitleid mit ihm, weil Josie seinen Annäherungsversuchen einen Strich durch die Rechnung gemacht hat. Also füge ich hinzu: „Und ich würde mich gern irgendwann mit dir zum Mittagessen treffen.“
Aiden grinst so breit, dass ich für einen Moment richtiggehend geblendet bin. Ich kann gar nicht anders, als sein Lächeln zu erwidern. „Wunderbar. Ich bitte Josie später, mir deine Nummer zu geben.“
Kaum ist Aiden gegangen, da wickelt Josie den Rest ihres Sandwiches ein. „Meine zehn Minuten sind um. Ich muss zurück zur Arbeit.“
„Das Leben einer Notärztin“, sage ich lachend, bevor ich noch einen Bissen von meinem Sandwich nehme.
„Im Ernst“, beginnt Josie und steht auf. „Aiden ist ein guter Kerl. Nur für den Fall, dass du wirklich Interesse an einer Verabredung hast.“
Ich schüttle den Kopf, während ich meine Gefühle abwäge. Aiden scheint tatsächlich ein netter Mann zu sein, und ich würde gern Freundschaft mit ihm schließen, aber aus irgendeinem Grund habe ich das Gefühl, Verrat zu begehen. „Ich bin nicht interessiert, Josie. Vielleicht irgendwann einmal.“
Als könnte sie meine Gedanken lesen, beugt sie sich vor und stützt sich mit einer Hand auf dem Tisch ab. „Du schuldest Marek nichts. Nur weil du bei ihm wohnst und er der Vater deiner Tochter ist, kannst du dich trotzdem mit anderen Männern verabreden.“
„Und was ist mit dem Kuss?“, murmle ich und bin beschämt, weil er mir etwas bedeutet hat und ihm nicht.
„Welcher Kuss?“, fragt sie mit hochgezogenen Augenbrauen. „Du hast gesagt, er darf keine Bedeutung haben.“
Ich seufze frustriert. „Aber nur weil er keine Bedeutung haben darf, heißt das nicht, dass er keine hat.“
„Ich kann dir nicht folgen“, antwortet sie mit besorgtem Blick.
„Du musst zurück zur Arbeit.“
Sie ignoriert meine Worte. „Ich kann noch ein paar Minuten entbehren.“
„Das ist nicht nötig“, erwidere ich mit einem gezwungenen Lächeln. „Es ist wirklich nicht wichtig. Ich gebe zu, dass ich nach wie vor Gefühle für Marek habe, also hat mir der Kuss etwas bedeutet. Aber er empfindet nichts mehr für mich. Das hat er schon vor langer Zeit bewiesen, als er mich verlassen hat. Daran muss ich mich immer wieder erinnern und mich stattdessen darauf konzentrieren, ihm zu helfen, eine Beziehung zu Lilly aufzubauen.“
„Ich glaube, du irrst dich“, sagt Josie.
Ich blinzle sie überrascht an. „Du kennst Marek nicht. Ich irre mich nicht.“
„Er mag wütend sein, Gracen“, entgegnet Josie mit fester Stimme. „Aber er hat dich einmal geliebt und du hast sein Kind geboren. Es ist nicht wichtig, ob er noch wütend ist. Insgeheim liebt und respektiert er das, was du ihm als Vater geschenkt hast. Darauf könnte man aufbauen.“
Ich schüttle den Kopf, ohne wirklich über ihre Worte nachzudenken. „Unmöglich.“
„Warum?“
„Weil es hier nicht nur um Mareks Wut geht“, erkläre ich mit kaum hörbarer Stimme und atme tief durch. „Er hat mich ebenfalls verraten, denn er hat mir das Herz gebrochen, als er mich verlassen hat. Ich bin vielleicht nicht so verbittert wie er, aber das, was er mir angetan hat, hat Spuren hinterlassen. Ich weiß nicht, ob ich ihm je wieder vertrauen und ihn lieben könnte.“
Josie wird blass, als sie sich der Bedeutung meiner Worte bewusst wird. Sie muss schlucken und nickt. „Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht.“
„Nun, ich schon“, erwidere ich. „Sehr häufig sogar. Genau genommen denke ich seit Jahren darüber nach. Ich hatte diese alberne Vorstellung, dass Marek eines Tages in mein Leben zurückkehren und mir sagen würde, was für ein Idiot er war, weil ich seine Seelenverwandte bin. Die einzige Frau, die er jemals lieben wird. Und mit jeder Woche, jedem Monat, ja, mit jedem verdammten Jahr, das vergangen ist, wurde mir klar, dass das nichts weiter als Wunschdenken war. Zwischen Marek und mir gibt es nichts, worauf man aufbauen könnte. Obwohl er mir immer noch viel bedeutet, glaube ich nicht, dass ich ihm je wieder vertrauen könnte. Ich hätte zu große Angst, dass er mir erneut das Herz bricht.“
Josie starrt mich für einen Moment an und überrascht mich dann, indem sie den Tisch umrundet und neben mir in die Hocke geht. Sie ergreift meine Hände und drückt sie. „Das tut mir leid. Ich weiß, wie du dich fühlst, denn ich habe vor langer Zeit genau dasselbe mit Aiden durchgemacht. Aber ich kann dir versprechen, dass diese Wunde heilen wird. Vielleicht ist Marek wirklich nicht der Richtige für dich. Möglicherweise ist es Aiden oder ein anderer Mann, der den Boden anbeten wird, auf dem du gehst. Ich gebe dir nur den Rat, dich nicht zu verschließen und offen für neue Möglichkeiten zu sein.“
In meinen Ohren klingen ihre Worte töricht, aber Josie ist eine wunderbare, liebenswürdige Frau, die die Liebe ihres Lebens gefunden hat und im siebten Himmel schwebt. Also schenke ich ihr ein Lächeln und sage das, was sie im Moment hören will. „Okay. Ich verspreche, dass ich offen für neue Möglichkeiten sein werde.“