Marek
Unter Gracens Schlafzimmertür scheint Licht hervor, was mir verrät, dass sie wahrscheinlich noch wach ist. Eigentlich bin ich nur nach oben gekommen, um nach Lilly zu sehen. Meine Eltern haben den ganzen Tag auf sie aufgepasst und sie gegen Abend nach Hause gebracht. Sie schläft schon seit einer Weile, aber ich liebe es, die Tür zu öffnen und sie zu beobachten. Ihr Gesicht ist so friedlich und entspannt, wenn sie schläft. Ich könnte sie stundenlang betrachten.
Eigentlich hatte ich nicht vor, Gracen zu stören. Seit der Begegnung mit Owen hat sie sich zurückgezogen und sich den Rest des Tages in ihrem Zimmer verschanzt. Sie ist nicht gerade glücklich darüber, dass ich ihre Eltern angerufen und eine Konfrontation erzwungen habe.
Doch ich bin froh, dass ich es getan habe, denn jetzt weiß ich, was wirklich los ist. Vor allem kann Gracen diese unnötige Last, die sie die ganze Zeit mit sich herumgetragen hat, endlich abwerfen.
Ich kann immer noch nicht glauben, dass sie sich auf einen solchen Handel mit Owen eingelassen hat. Andererseits kann ich es verstehen. Gracen ist der Typ Mensch, der in ein brennendes Gebäude laufen würde, um ein Kätzchen zu retten, daher ist es keine Überraschung, dass sie sich opfern würde, um das Haus ihrer Eltern zu retten.
Es war dumm von ihr, doch sie ist sich dessen mehr als bewusst und muss es nicht auch noch von mir hören. Nachdem wir Lilly zu Bett gebracht hatten, ist sie ohne ein weiteres Wort in ihr Zimmer geflüchtet und hat die Tür hinter sich geschlossen. Also ging ich in mein Schlafzimmer, um meine Sachen zu packen. Morgen findet unser erstes Spiel der Vorsaison in New York statt, und ich muss morgen früh noch vor Sonnenaufgang aufbrechen. Nach nicht einmal fünf Minuten war ich fertig und habe seither Däumchen gedreht.
Ich habe an Gracen gedacht und an diese vertrackte Situation, in die sie geraten war.
Aber vor allem habe ich die letzte Nacht im Geiste Revue passieren lassen.
Wir hatten viermal Sex, bevor die Sonne aufging.
Nun, zumindest wenn man den Oralsex mitzählt, und das tue ich auf jeden Fall.
Auch wenn es verdammt dumm war, bereue ich es kein bisschen. Es war besser, als ich es in Erinnerung hatte. Und das will etwas heißen, denn der Sex mit Gracen war der beste meines Lebens. Mir ist bewusst, dass es damals so wunderbar war, weil ich tiefe Gefühle für sie hatte. Und ich frage mich, wie es heute noch unglaublicher sein kann, obwohl keine Liebe mehr im Spiel ist.
Aber etwas ist da, ganz sicher. Vielleicht, weil sie meine Tochter geboren hat, oder vielleicht, weil ich reifer geworden bin.
Wer weiß?
Bevor ich mich eines Besseren besinnen kann, klopfe ich leise an ihre Tür. Ich warte nicht darauf, dass sie mich hereinbittet, schließlich will ich mich vergewissern, dass es ihr gut geht. Zugegeben, ich will außerdem herausfinden, ob noch ein Funke dieser explosiven Chemie zwischen uns vorhanden ist, oder ob wir dieses Verlangen wirklich gedämpft haben.
Nun, eigentlich meine ich ihr Verlangen, denn meines besteht nach wie vor. Ich will sie heute Abend, morgen Abend und auch am Abend danach.
Gracen sitzt mit überkreuzten Beinen auf ihrem Bett und hat sich über eine Zeitschrift gebeugt, die sie vor sich aufgeschlagen hat. Sie hebt den Kopf und sieht mich misstrauisch an.
„Lass es hinter dir“, sage ich, als ich eintrete und die Tür hinter mir schließe.
Gracen blinzelt überrascht und errötet. Offenbar habe ich den Nagel auf den Kopf getroffen.
„Ich kenne dich“, erinnere ich sie und setze mich auf die Bettkante. „Ich weiß, wie dein Verstand funktioniert. Aber es ist vorbei, und alles ist gut. Also lass es ruhen.“
Sie beäugt mich noch immer argwöhnisch und scheint meine Worte abzuwägen. Ich halte ihrem Blick stand, bis sie frustriert den Atem ausstößt. Sie lässt sich in die Kissen sinken, die sie gegen das Kopfteil gelehnt hat, und zieht eine gequälte Grimasse. „Ich komme mir so dumm vor. So verdammt töricht. Wenn ich nur mit meinen Eltern gesprochen hätte, statt zu versuchen, alles alleine zu regeln.“
Ich lache leise und zucke mit den Schultern. „Im Nachhinein ist man immer schlauer. Aber du hast es gut gemeint, Gracen. Das ist alles, was zählt.“
Sie streckt sich und schlägt ein nacktes Bein über das andere. Ich bemühe mich, den Anblick zu ignorieren, doch ihre Shorts sind, nun ja, wirklich kurz. Ich erinnere mich sehr wohl, wie gut diese Schenkel sich gestern Abend um meine Taille angefühlt haben.
Sie verschränkt die Hände auf ihrem Bauch. „Du hast recht. Und danke für deine netten Worte. Ich habe vor einer Weile noch einmal mit meinen Eltern telefoniert, und sie haben mir ordentlich die Leviten gelesen.“
Ich lächle und nicke. Es war nicht zu überhören, wie entsetzt Sheryl und Tim waren, weil ihre Tochter geglaubt hatte, sie müsse sich für sie opfern. Aber ich weiß auch, dass sie versuchen, die Situation mit Humor zu nehmen. Vor allem Tim. Ich wette, er hat seine Tochter schonungslos aufgezogen.
Es gibt noch ein weiteres ernstes Thema, über das ich mit Gracen sprechen möchte. Und nachdem ich es zur Sprache gebracht habe, werde ich sie küssen und sehen, wie sie reagiert. Ich lasse meine Hand in meine Hosentasche gleiten und taste nach dem Kondom, das ich vorhin eingesteckt habe.
„Hör zu“, beginne ich und wende mich ihr zu. Ich lege eine Hand auf die Matratze und beuge mich vor. „Letzte Nacht …“
Sie neigt neugierig und erwartungsvoll den Kopf.
„Wir haben nicht verhütet“, bemerke ich mit sanfter, aber fester Stimme. Wir hätten darüber reden sollen, bevor ich sie vernascht habe, doch ich konnte es kaum erwarten, mich in ihr zu vergraben. „Ich wollte dich wissen lassen … Ich habe normalerweise keinen ungeschützten Sex. Du musst dir also keine Gedanken machen. Trotzdem muss ich dich fragen, Gracie … wegen Owen. Ich meine, in der Highschool war er kein Kind von Traurigkeit.“
„Das ist er auch heute nicht“, erklärt sie ruhig und schüttelt angewidert den Kopf.
Mir wird nicht nur mulmig bei dem Gedanken, welche Auswirkungen das auf mich haben könnte. Ich bin obendrein um ihretwillen besorgt. Fühlte sie sich betrogen? Hat er ihr das Herz gebrochen?
„Aber keine Sorge“, fährt sie fort. „Owen und ich hatten nie Sex.“
Eine Mischung aus Erleichterung und Schock durchfährt mich, während ich versuche, ihre Worte zu verarbeiten. „Wie bitte?“
„Wir haben nie miteinander geschlafen“, erklärt sie und reckt trotzig ihr Kinn in die Höhe. „Ich habe ihn immer wieder vertröstet und ihm vorgegaukelt, dass ich bis zu unserer Hochzeitsnacht warten will. Nun ja, es war ihm egal. Er hatte ohnehin eine Geliebte.“
„Das tut mir leid“, sage ich, doch das ist gelogen. Tatsächlich bin ich froh, dass sie nie intim waren. Ich bin zwar nicht so töricht, zu glauben, dass Gracen in den vergangenen Jahren enthaltsam war, aber das Bild von ihr und Owen will ich wirklich nicht in meiner Vorstellung sehen.
„Ist schon gut“, erwidert sie mit einem Achselzucken. „Außerdem musst du keine Bedenken haben. Ich habe mich immer geschützt.“
Verdammt, am liebsten würde ich sie küssen.
Ich betaste die Folienverpackung in meiner Hosentasche. Wenn sie mir jetzt erzählt, dass sie die Pille nimmt, werfe ich das Ding in den Müll. „Äh … und was ist mit einer möglichen Schwangerschaft? Immerhin wissen wir bereits, dass meine Jungs auf deine Eier fliegen.“
Ich versuche nur, die Stimmung etwas aufzulockern, und erwarte, dass sie über meinen Witz lacht. Aber ein stumpfer Ausdruck tritt in ihre Augen, und sie runzelt die Stirn. Sie senkt den Blick auf ihre Hände, die sie so sehr verkrampft hat, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortreten.
Mir wir flau im Magen.
„Gracen?“ Ich frage mich bange, was sie mir sagen könnte, und denke, dass eine mögliche Schwangerschaft nicht das Schlimmste ist.
Sie atmet tief durch, begegnet meinem Blick und schenkt mir ein gezwungenes Lächeln. Dann sagt sie mit betont fröhlichem Tonfall: „Darüber musst du dir auch keine Sorgen machen.“
Das ist zwar eine Antwort, aber ich weiß, dass noch mehr dahintersteckt.
„Nimmst du die Pille?“, dränge ich.
Erschrocken wie ein Reh im Scheinwerferlicht öffnet sie den Mund, doch sie bringt kein Wort hervor.
Voller Angst und mit angespanntem Tonfall frage ich: „Warum müssen wir uns keine Sorgen um eine Schwangerschaft machen?“
Mein Magen verkrampft sich, denn Gracens Miene ist plötzlich wie versteinert. Sie hebt das Kinn an, kann aber das Zittern in ihrer Stimme nicht verbergen. „Weil ich keine Kinder mehr bekommen kann.“
„Wie bitte?“, frage ich ungläubig und so leise, dass ich mich selbst kaum hören kann.
„Etwa eine Woche vor Lillys Geburt hat meine Plazenta sich vorzeitig gelöst. Die Ärzte mussten sie per Kaiserschnitt holen. Als sie die Blutung nicht unter Kontrolle bringen konnten, haben sie eine Hysterektomie durchgeführt, um mein Leben zu retten.“
Ich habe das Gefühl, mich auf der Stelle übergeben zu müssen. Sofort ziehe ich die Hand aus der Hosentasche, denn das Kondom scheint im Moment die schlechteste Idee zu sein, die ich je hatte.
„Ich verstehe das nicht.“ Am liebsten würde ich mit der Faust gegen eine Wand schlagen. „Du hast meiner Mutter erzählt, dass die Wehen eingesetzt haben, als du gerade am Unterricht teilgenommen hast.“
„Nein, ich habe nicht gesagt, dass die Wehen eingesetzt haben. Sie hat gefragt, wie die Entbindung war, und ich sagte, sie sei ganz in Ordnung gewesen. Aber ich besuchte gerade einen meiner Kurse, als ich zu bluten begann, und dann …“
„Wie kann so etwas passieren? Was hat es zu bedeuten, wenn eine Plazenta sich vorzeitig löst?“
„Ich habe keine Ahnung, warum es passiert ist“, antwortet sie und zupft am Saum ihrer ausgefransten Shorts herum. „Aber dabei löst sich die Plazenta von der Gebärmutterschleimhaut, wodurch die Sauerstoffversorgung des Babys unterbrochen wird. Das ist sehr gefährlich. Zum Glück hat mich ein Krankenwagen in ein nahe gelegenes Krankenhaus gebracht, und Lilly konnte rechtzeitig geholt werden. Sie ist kerngesund, falls du dir deshalb Sorgen machst. Da sie ohnehin ein paar Tage später hätte zur Welt kommen sollen, war ihre Lunge bereits vollständig entwickelt.“
Ich schüttle heftig den Kopf, öffne die Faust und schließe sie wieder. „Ich weiß, dass Lilly gesund ist. Aber ich … Ich kann nicht glauben, dass du mir das nicht erzählt hast. Verdammt … du musstest das alles ganz allein durchstehen.“
Sie zuckt erneut mit den Schultern und begegnet meinem Blick. „Warum hätte ich es dir sagen sollen? Es hat nichts mit dir zu tun.“
Ich verspüre einen schmerzhaften Stich im Herzen, obwohl ihre Worte mich eigentlich nicht so treffen sollten. Gracen hat recht. Es geht mich nichts an, aber es hätte mich etwas angehen sollen.
Verdammt.
Es ist unfassbar.
Sie hatte eine Hysterektomie und kann keine Kinder mehr bekommen. Lilly wird ihr einziges Kind bleiben, es sei denn, sie adoptiert eines. Und sie kann von mir nie wieder schwanger werden.
Noch einmal schüttle ich den Kopf und springe so ruckartig auf, dass Gracen nach Luft schnappt. Es ist mir ein Rätsel, warum ich überhaupt darüber nachdenke, sie zu schwängern. Ich muss mir das aus dem Kopf schlagen.
Mit der Hand wische ich mir übers Gesicht und atme tief durch. Gracen beäugt mich wachsam.
Ich habe keine Ahnung, was ich ihr sagen soll. Bei dem Gedanken, dass Gracen das alles ganz allein durchgemacht hat, ist mir elend zumute. Zum ersten Mal habe ich ein schlechtes Gewissen, weil ich mich von ihr getrennt habe. Noch schäbiger fühle ich mich, wenn ich daran denke, wie ich es getan habe. Ich habe ihr gesagt, dass mir meine Freiheit wichtiger sei und ich keine Verantwortung wolle. Somit habe ich eine Situation geschaffen, in der Gracen auf sich allein gestellt mit dieser Schwangerschaft fertig werden musste, und sie und Lilly wären fast gestorben.
„Es tut mir leid“, presse ich heiser hervor. „Es tut mir leid, dass du das allein durchstehen musstest und dass du keine Kinder mehr bekommen kannst.“
Gracens Miene erweicht sich, und ein mitfühlender Ausdruck tritt in ihre Augen.
Sie sieht mich mitfühlend an.
Mich.
Verdammt. Dadurch fühle ich mich sogar noch schlechter.
„Marek … es ist in Ordnung“, sagt sie leise. „Ich habe meinen Frieden damit gemacht und bin dankbar, dass ich Lilly habe.“
Für sie ist es einfach, das zu sagen. Sie hatte Jahre Zeit, um es zu verarbeiten, aber mir wurden gerade vor zwei Minuten im übertragenen Sinne die Eingeweide herausgerissen.
„Ich, äh … ich muss für meinen Flug morgen packen“, murmle ich lahm und gehe zur Tür. Jegliche Gedanken daran, ihr schönes Gesicht zu küssen und mich in ihr zu vergraben, sind längst verflogen. Bevor ich das Zimmer verlasse, drehe ich mich noch einmal um. „Aber wegen letzter Nacht gibt es zwischen uns keine Missverständnisse?“
Ein verständiger Ausdruck breitet sich auf ihrem Gesicht aus, als sie sich der Bedeutung meiner Worte bewusst wird. Die letzte Nacht war wirklich nur eine einmalige Sache. Ich kann mit Gracen unmöglich so weitermachen.
Nicht, solange sie die erstaunlichsten – und auch die schlimmsten – Gefühle in mir hervorruft. Ich kann mein Herz nie wieder an sie binden, denn ich habe gerade herausgefunden, dass es verdammt wehtut, wenn der Mensch, der mir wichtig ist, leidet.