Kapitel 22

 

Gracen

 

Ich habe in meinem Leben schon Hunderte von Eishockeyspielen gesehen. Ob ich Marek nun beim Travel Hockey oder im Winter beim Spielen auf einem zugefrorenen See zuschaute, es war immer etwas Besonderes, meinen Mann auf dem Eis zu beobachten. Auch als er am Boston College studierte, habe ich mir jedes Spiel angesehen, das ich besuchen konnte. Ich war sogar mit ihm bei Eishockeyspielen von Profimannschaften, bevor Marek selbst Profispieler wurde. Aber dies ist das erste Mal, dass ich in einem Stadion sitze und Marek als NHL-Spieler sehe. Ich habe keine Worte, um meine Gefühle zu beschreiben. Meine Nerven liegen blank und ich kann kaum still sitzen.

„Süße, ich glaube, du bist nervöser als ich“, sagt Josie zu meiner Linken.

Ich löse meinen Blick von Marek, der sich gerade mit seinen Mannschaftskameraden auf dem Eis aufwärmt, und wende mich Josie zu. Sie trägt ein Olson-Trikot. Mit geröteten Wangen hat sie mir erzählt, dass Reed es ihr heute Morgen geschenkt hat.

„Mir kommt es so vor, als hätte er mir seine College Jacke überreicht und mich gefragt, ob ich mit ihm gehen will“, sagte sie kichernd.

Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, dass ich nicht gern ein Fabritis-Trikot tragen würde. Aber Marek ist nicht in den Sinn gekommen, mir eines zu besorgen, und ich habe es auch nicht von ihm erwartet. Und im Moment kann ich es mir nicht leisten, mir selbst eines zu kaufen.

„Und, wie läuft es so?“, fragt Josie. Wir waren in letzter Zeit beide beschäftigt und haben nicht immer dieselben Schichten gearbeitet, weshalb wir kaum Gelegenheit für einen Plausch hatten.

„Es läuft gut“, antworte ich und blicke zwischen Josie und der Eisfläche hin und her. „Meine Kollegen auf der Entbindungsstation sind sehr nett.“

Josie versetzt mir einen sanften Stoß mit dem Ellbogen und bringt mich damit zum Lachen. „Ich spreche nicht von der Arbeit. Wie läuft es mit Marek?“

„Ich weiß genau, worauf du hinauswolltest“, erkläre ich kichernd. „Aber es ist … seltsam. Gut, aber seltsam.“

„Inwiefern?“

„Nun, Owen ist am Samstag bei uns zu Hause aufgetaucht.“

„Wie bitte?“, ruft Josie so laut, dass sich die Leute links von ihr nach ihr umdrehen. Sie ignoriert sie jedoch und beugt sich zu mir herüber. „Er ist bei euch aufgetaucht?“

Nickend richte ich meinen Blick auf Marek, der gerade ein paar Runden auf dem Eis dreht, um seine Beinmuskeln aufzuwärmen, dann wende ich mich wieder Josie zu. Ich beschließe, ihr eine grobe Zusammenfassung zu geben, damit sie mir ihre Fragen stellen kann. Danach könnten wir das Thema abhaken und das Spiel genießen. „Owen stand plötzlich vor der Tür. Er hat mich bedroht. Marek hat ihn geschlagen. Owen ist gegangen. Nachdem Marek meine Eltern angerufen hat, gestand ich ihnen, warum ich eingewilligt hatte, Owen zu heiraten. Es stellte sich heraus, dass meine Eltern meine Hilfe gar nicht gebraucht haben und ich mich umsonst zum Narren gemacht habe.“

„Wow“, sagt Josie gedehnt. „Einfach … wow. Aber du musst mir noch ein bisschen mehr erzählen.“

Sie hat recht. Das sind eine Menge Informationen auf einmal. Also fülle ich einige Lücken und beantworte ihr ein paar Fragen. Ich weiß, dass wir auch in Zukunft gute Freundinnen sein werden, denn Josie gibt mir nicht das Gefühl, dass mein Verhalten dumm war. Sie unterstützt mich sogar und sagt mir, dass sie in meiner Situation genauso gehandelt hätte.

Das bezweifle ich zwar, aber es ist eine wirklich nette Geste.

Als ich glaube, ihre Neugier ausreichend befriedigt zu haben, wende ich mich wieder der Eisfläche zu, auf der die Spieler gerade ihre letzten Aufwärmübungen absolvieren.

Josie ist jedoch noch nicht zufrieden und stupst mich erneut an. „Was ist nun mit dir und Marek?“

„Was meinst du?“, frage ich ausweichend, ohne sie anzusehen.

„O um Himmels willen, Gracen“, knurrt sie. „Ich will Details hören. Es ist offensichtlich, dass sich etwas zwischen euch geändert hat. Er hat Reed angerufen und war ganz versessen darauf, uns gute Plätze zu besorgen, damit du ihn aus nächster Nähe spielen sehen kannst. Also was ist passiert?“

Diesmal fällt es mir nicht schwer, meinen Blick von Marek zu lösen, denn ich beantworte ihr die Frage gern.

Ich stoße den Atem aus, wobei ich mich ihr zuwende, um ihr direkt ins Gesicht zu sehen. Um zu vermeiden, dass uns jemand hört, beuge ich mich vor und sage mit gedämpfter Stimme: „Marek und ich … wir sind in gewisser Weise zusammen.“

„Zusammen?“

„Wir haben miteinander geschlafen. Um genau zu sein, viermal in der Nacht, bevor Owen aufgetaucht ist. Dann ist er zu Auswärtsspielen nach New York und New Jersey gereist, und es hat so ausgesehen, als würden wir keinen Sex mehr haben. Das war sehr verwirrend.“

„Warum nicht? Offenbar waren die ersten vier Male unglaublich. Ich kenne nicht viele Männer, die fantastischem Sex verschmähen.“

Ich muss unwillkürlich lachen. Es war wirklich verdammt gut. Tatsächlich war es der beste Sex meines Lebens, aber das behalte ich für mich. Stattdessen erzähle ich ihr den Rest der Geschichte. „Eine Woche vor Lillys Geburt hat meine Plazenta sich vorzeitig abgelöst.“

„O Gracen, das ist schrecklich“, haucht Josie. Sie ist Ärztin und weiß genau, wie bedrohlich die Situation für mich gewesen ist.

Ich nicke zustimmend. „Ich musste mich einer Hysterektomie unterziehen, doch damit kam ich zurecht. Lilly war gesund, alles andere war nicht wichtig. Aber als ich Marek davon erzählte, erschütterte ihn das zutiefst, und er zog sich einfach von mir zurück. Scheinbar hatte es ihn irgendwie abgeschreckt.“

„Das tut mir leid“, bemerkt Josie leise.

Ich zucke lässig mit den Schultern. Sein Verhalten hatte mich tief getroffen, doch mittlerweile hatte er es mehr als wiedergutgemacht. „Es hat ihn nicht lange abgeschreckt. Nachdem er von den Auswärtsspielen zurückkehrte, ist er direkt zu mir ins Bett gekommen.“

„Also ist es nur Sex?“, fragt sie zögerlich.

Ich zucke erneut mit den Schultern, doch diesmal nicht, um lässig zu wirken. Vielmehr kann ich ihre Frage nicht wirklich beantworten. „Wir haben uns auf eine monogame sexuelle Beziehung geeinigt, während wir gemeinsam unsere Tochter großziehen.“

Josie rümpft die Nase. „Das klingt irgendwie … äh … steril.“

Ich schenke ihr ein aufrichtiges Lachen. So verkorkst die Situation sein mag, sie hat auch eine lustige Seite. „Ich habe beschlossen, einfach einen Tag nach dem anderen zu nehmen und abzuwarten, was passiert.“

Offenbar klinge ich nicht überzeugend, denn Josie verengt die Augen zu dünnen Schlitzen und schüttelt den Kopf. „Nein, das glaube ich nicht. Ich kann es in deinen Augen sehen und zwischen den Zeilen lesen.“

Ich ziehe eine Augenbraue in die Höhe. „Was meinst du?“

„Dass du Gefühle für Marek hast, doch ich bin mir nicht sicher, ob sie erwidert werden“, erklärt sie unverblümt. „Wenn dem wirklich so ist, wirst du verletzt werden.“

Unwillkürlich richte ich meinen Blick auf Marek. Als ich mich schließlich wieder ihr zuwende, gestehe ich: „Ich habe nie aufgehört, ihn zu lieben. Und ja, er erwidert meine Gefühle nicht. Aber er hat mir vergeben, daher will ich diese Sache zwischen uns als einen Neuanfang betrachten.“

„Das sagt sich so leicht“, gibt Josie zu bedenken. „Doch Marek scheint mittlerweile viel besser damit zurechtzukommen. Vielleicht wendet sich ja alles zum Besten.“

„Vielleicht“, wiederhole ich. Ich will mir keine Hoffnungen machen.

Josie deutet auf den Countdown, der auf der riesigen Anzeigetafel über der Eisfläche angezeigt wird. „Sollen wir uns ein Bier und etwas zu essen holen, bevor das Spiel beginnt?“

Ich nicke zustimmend, und wir machen uns auf den Weg zu der Treppe, die zu den Verkaufsständen führt. Marek hat uns zwei fantastische Plätze in der ersten Reihe seitlich der Spielerbank besorgt. Seine Dauerkarten sind eigentlich für einen anderen Bereich, doch er hat mit einem der älteren Spieler getauscht, damit ich bei meinem ersten Spiel der Cold Fury eine gute Sicht habe. Er hat mir zwar kein Trikot geschenkt, aber er hat sich viel Mühe gegeben, um mir ein außergewöhnliches Erlebnis zu bieten.

Als wir mit unserer Verpflegung zu unseren Plätzen zurückkehren, steht der Anpfiff kurz bevor. Marek spielt in der Second Line und ist deshalb noch nicht auf dem Eis. Ich zwinge mich, ihn auf der Spielerbank nicht anzustarren. Damals habe ich Mareks Konzentration stets bewundert. Er hat mich nie angeschaut oder angelächelt, wenn ich unter den Zuschauern war, sondern immer nur auf das Spiel geachtet, egal ob er auf dem Eis stand oder nicht. Daran hat sich auch heute nichts geändert, denn selbst beim Aufwärmen hat er kein einziges Mal in meine Richtung geblickt. Aber ich kann mir vorstellen, dass er sich als Profi noch mehr konzentrieren muss als früher.

Das Spiel beginnt. Kurz bevor der Schiedsrichter den Puck einwirft, steigt meine Nervosität ins Unermessliche, und ich habe plötzlich das Gefühl, explodieren zu müssen. Als der Puck endlich auf dem Eis landet, springe ich von meinem Sitz auf und schreie: „Los geht’s, Cold Fury!“

Ich setze mich auf die Kante meines Sitzes und lehne mich weit vor, um nichts zu verpassen.

Josie lacht leise und stößt mir den Ellbogen in die Rippen. Ich sehe sie an, woraufhin sie mit dem Kopf in Richtung Spielerbank deutet. Ich folge ihrem Blick.

Zu meiner Überraschung betrachtet Marek mich von der Bank aus mit einem amüsierten Lächeln im Gesicht, bevor er sich eine Sekunde später wieder dem Spiel zuwendet. Ich muss unwillkürlich lächeln.

Obwohl ich das Geschehen aufmerksam verfolge, werfe ich immer wieder verstohlene Blicke in Richtung Spielerbank. Marek dreht sich kein zweites Mal zu mir um, doch das eine Mal war genug.

 

***

 

Also schön, das ist wirklich unangenehm. Josie und Reed sitzen Marek und mir gegenüber und knutschen ungeniert. Reed hat seinen Arm um Josie geschlungen, und sie schmiegt sich an ihn, während wir eiskaltes Bier, Chickenwings, Nachos und Miniburger genießen. Nach jedem Schluck Bier und jedes Mal, wenn die Unterhaltung auch nur für den Bruchteil einer Sekunde ins Stocken gerät, küsst er sie. Manchmal lässt er seine Lippen an ihren Hals wandern. Ihre Hand ruht auf seinem Oberschenkel, obwohl ich mir dabei nicht ganz sicher bin, denn Reed rutscht ab und an auf seinem Stuhl hin und her.

Als Reed und Josie sich wieder einmal küssen, beugt Marek sich vor und flüstert lautstark, damit die beiden es hören können: „Waren wir früher auch so schamlos?“

Ich beäuge die öffentliche Zurschaustellung von Zuneigung und flüstere ebenso lautstark: „Ja, aber damals waren wir Teenager. In dem Alter hat man nichts anderes von uns erwartet.“

Marek lacht. Reed zieht schließlich den Kopf zurück, wendet sich uns zu und bedenkt uns mit einem betont spöttischen Blick. Josie grinst, nicht im Geringsten verlegen.

Ich zucke fast auf meinem Stuhl zusammen, als Marek seinen Arm um meine Schulter legt. Er versucht nicht, mich zu küssen, aber die subtile Geste spricht Bände. Sie ist beiläufig und mühelos und zeugt von der Vertrautheit, die wir in all den Jahren zueinander aufgebaut hatten.

Und von der Tatsache, dass wir uns einmal geliebt haben.

Es ist außerdem bezeichnend, dass er es in Gegenwart eines engen Freundes und Mannschaftskameraden tut sowie vor einer Frau, die mittlerweile eine gute Freundin von mir ist.

Trotzdem darf ich mir das nicht zu Kopf steigen lassen. Ich darf nicht vergessen, wie verletzlich ich in Bezug auf Marek bin. Und er hat die Fähigkeit, mir erneut das Herz zu brechen, wenn ich mich wieder auf ihn einlasse.