Gracen
Ich entriegle die Eingangstür von Mareks Haus, und Lilly folgt mir, als ich die Einkaufstüten hineintrage. Das Piepen der Alarmanlage erinnert mich daran, den Deaktivierungscode einzugeben, dann schließe ich die Tür.
Die nächsten drei Tage muss ich nicht arbeiten, und ich habe vor, jeden Moment davon mit Lilly zu genießen. Heute war ich mit ihr zuerst im Kindermuseum in der Innenstadt von Raleigh, und danach haben wir einen Einkaufsbummel gemacht. Es ist erstaunlich, dass mein fast vierjähriges Kind bereits einen Sinn für Mode hat. Die Wahl ihrer Kleider ist ihr offenbar wichtig. In meinen Augen wird sie viel zu schnell erwachsen, wenn sie Jeans und Freizeitkleidung meidet und stattdessen Rüschenkleider, Spitzensocken und glänzende schwarze Lackschuhe bevorzugt. Lilly ist für ihr Alter ziemlich groß und scheint immer mehr in die Höhe zu schießen. Ich habe das Gefühl, ständig neue Kleidung für sie zu kaufen. Zu meiner Überraschung habe ich heute festgestellt, dass sie bereits in die Klamotten für Sechsjährige passt.
Lilly gähnt, als wir die Küche betreten. Ich stelle die Papiertüten mit den Zutaten für das Chili mit Hühnchen ab, das ich zum Abendessen kochen will, und streiche meiner Tochter übers Haar. „Möchtest du ein Nickerchen machen?“
Sie schüttelt den Kopf. Im Kindergarten hätte sie um diese Zeit längst einen Mittagsschlaf gemacht, doch zu Hause ist es so gut wie unmöglich, sie dazu zu bewegen, sich hinzulegen. Mittlerweile habe ich es aufgegeben und lasse sie einfach schlafen, wenn sie müde ist.
Mein Handy klingelt in meiner Handtasche, die immer noch über meiner Schulter hängt. Ich lasse sie auf die Anrichte fallen und ziehe das Telefon heraus. Als das Display einen eingehenden Video-Chat anzeigt, strecke ich es Lilly entgegen und grinse. „Es sind Mimi und G-Pa.“
Schlagartig sind sämtliche Anzeichen von Müdigkeit aus ihrem Gesicht gewichen, und ihre blauen Augen – die Mareks so sehr ähneln – leuchten auf. Sie nimmt mir das Telefon aus der Hand und tippt auf die grüne Taste, um den Anruf anzunehmen.
Ich stelle mich hinter sie und beuge mich über ihre Schulter, um auf den Bildschirm zu schauen. Die Gesichter meiner Mutter und meines Vaters erscheinen. Sie sitzen dicht an dicht auf der Wohnzimmercouch, über deren Lehne eine cremefarbene Decke hängt, die meine Mutter gehäkelt hat. Bei dem Anblick verspüre ich einen Anflug von Heimweh.
„Hey, Lilly-Maus“, sagt mein Vater und schenkt seiner Enkelin ein strahlendes Lächeln.
„G-Pa“, ruft Lilly. „Rate mal, was Mommy und ich heute Morgen gemacht haben?“
„Was denn?“, fragt er.
„Wir waren in einem Museum, und dann waren wir einkaufen, und ich habe ein paar neue Kleider bekommen, und ich kann es kaum erwarten, dass Daddy nach Hause kommt, damit ich sie ihm zeigen kann …“
Ich richte mich auf und beginne, die Lebensmittel einzuräumen, während Lilly sich mit meinen Eltern unterhält. Es ist faszinierend, wie sehr Lilly sich in den letzten vier Wochen an Marek gewöhnt hat. Die Tatsache, dass sie ihren Großeltern von ihm erzählt, obwohl er heute nicht einmal dabei war, spricht Bände.
„Wo ist Daddy jetzt?“, höre ich die Stimme meiner Mutter.
„Er spielt Eishockey“, sagt Lilly stolz. Marek absolviert gerade mehrere Auswärtsspiele an der Westküste und wird übermorgen zurück sein.
Seit Joan und Gale am Sonntag mit Lilly ein Spiel besucht haben, redet sie von nichts anderem mehr. Ich hatte keine Ahnung, wie aufregend es für sie sein würde, ihren Vater auf dem Eis zu beobachten. Er hat ihr zwar ein Eishockeyspiel im Fernsehen gezeigt, aber so richtig verstanden hat sie nicht, was ihr Vater beruflich macht. Bis sie ihn live im Stadion erlebte. Und jetzt kann sie es kaum erwarten, das nächste Spiel zu sehen.
Lilly plappert weiter, doch meine Gedanken schweifen ab, während ich die Einkäufe wegräume. Ich bin überglücklich, dass meine Tochter so viel Freude an ihrem neuen Leben hier hat. Sie hat sich problemlos eingelebt, sich schnell an den Kindergarten gewöhnt und eine Beziehung zu ihrem Vater aufgebaut.
Ich wünschte, es wäre genauso einfach für mich, aber ich bin verwirrter denn je, was meine Gefühle für Marek angeht. Vor einer Woche sind mir diese drei bedeutenden Wörter über die Lippen gekommen, und ich könnte mich immer noch dafür ohrfeigen.
„Ich liebe dich.“
Ich hätte mich beherrschen und mich nicht vom Rausch der Leidenschaft mitreißen lassen sollen. Aber als ich ihn tief in mir spürte und er mich mit seinem großen, dicken Schwanz ausfüllte, war das Gefühl alles verzehrend. Ich konnte kaum atmen, so überwältigt war ich.
Trotzdem sind mir die drei Wörter unwillkürlich entfahren, und ich wünschte, ich könnte sie zurücknehmen. Aber nicht, weil ich sie nicht so gemeint habe, sondern gerade weil ich sie von ganzem Herzen so gemeint habe. Und es ist enttäuschend, dass Marek sie nicht akzeptieren will.
Zumindest habe ich das in jener Nacht vor einer Woche so verstanden.
In den darauffolgenden fünf Nächten bis zu seinem Roadtrip liebte Marek mich in seinem Bett. Sobald Lilly eingeschlafen war, zog er mich leise in sein Schlafzimmer und entkleidete mich. Manchmal vögelte er mich wild und hemmungslos, und manchmal ließ er sich Zeit. Marek ist durchaus in der Lage, seinen Körper sprechen zu lassen, wenn es um die Gefühle geht, die er für mich empfindet. Er hat mich stillschweigend verwöhnt und mich in die höchsten Sphären der Lust katapultiert. Aber er liebt mich nicht, und ich werde mich hüten, diese Worte je wieder zu erwähnen.
Wie könnte ich? Im Moment werde ich nur von Zweifeln geplagt.
Zweifeln an Marek und an meinem Platz in seinem Haus. Ich weiß nicht einmal, ob es so eine gute Idee ist, hier in North Carolina zu bleiben, wo ich mir vielleicht erneut eine Menge Kummer einhandeln könnte.
Ich darf nicht vergessen, was den Bruch zwischen Marek und mir verursacht hat. Er hat mich verlassen, nachdem er plötzlich beschlossen hatte, dass er mich nicht mehr liebt. Er wollte sein Leben ohne mich führen.
In den vergangenen Tagen bin ich immer wieder subtil daran erinnert worden, aber ich habe die Anzeichen einfach ignoriert. Ich darf nicht zu viel erwarten, denn ich will nicht noch einmal mit einem gebrochenen Herzen enden.
Vor ein paar Abenden hat Marek Lilly über Video-Chat angerufen. Es war fast Schlafenszeit für sie, doch wir hatten uns auf der Couch aneinander gekuschelt und einen Film geschaut. Ich hatte mir gewünscht, dass der Moment ewig dauern würde. Lilly wird nicht immer mein kleines Mädchen bleiben, deshalb nutze ich jede Gelegenheit, um sie an mich zu drücken. Lilly war außer sich vor Freude, als sie Mareks Gesicht auf dem Display meines Handys erblickte. Ich schaltete den Fernseher stumm und ließ sie den Anruf entgegennehmen.
„Da ist ja mein Mädchen“, sagte Marek und lächelte in die Kamera.
„Hey, Daddy“, trällerte sie und hielt sich das Gerät so nah ans Gesicht, dass er wahrscheinlich nicht mehr als ihre Nase und Lippen erkennen konnte. Ich griff nach dem oberen Rand meines Handys und zog es vorsichtig zurück, damit Marek sie vollständig sehen konnte. „Spielst du Eishockey?“
Lilly versteht nicht, was ein Auswärtsspiel ist, und kann weder die Roadtrips noch die freien Tage zwischen den Spielen einordnen. In ihrer Vorstellung steht ihr Daddy immer nur auf dem Eis und spielt. An jenem Abend hatte er frei. An seinem feuchten Haar konnte ich erkennen, dass er gerade geduscht hatte.
Er hat Lilly gefragt, wie ihr Tag war, und sie plauderten eine Weile, während ich ihnen lauschte. Dann erschien Holts Gesicht auf dem Bildschirm. Er schob Marek ein Stück zur Seite, legte eine Hand auf seine Schulter und sagte in die Kamera: „Lilly! Was geht ab, Prinzessin?“
Lilly kicherte, erwiderte aber nichts, sondern starrte nur auf den Bildschirm.
„Komm schon, Mann“, wandte Holt sich Marek zu. „Das Uber ist da.“
Dann winkte Holt Lilly zum Abschied. „Gute Nacht, Lilly.“
„Gute Nacht“, wiederholte sie.
Marek führte die Kamera etwas näher an sein Gesicht. „Ich muss los, aber vorher würde ich noch gern mit deiner Mommy sprechen.“
„Okay“, sagte Lilly, drehte sich um und wollte mir das Handy reichen.
Sie hielt inne, als Marek rief: „Ich liebe dich, Lilly.“
„Ich liebe dich auch“, antwortete sie und grinste ihn an. Ein wohlig warmes Gefühl breitete sich in meiner Brust aus, als ich die Liebe sah, die Vater und Tochter verband.
Lilly reichte mir das Telefon. Ich setzte ein strahlendes Lächeln auf, dann drehte ich den Bildschirm zu mir. „Hey. Was gibt’s?“
Für einen Moment schien Marek den Anblick meines Gesichts auf sich wirken zu lassen, bevor er mir ein Lächeln schenkte. „Ich wollte nur mal hören, wie es euch geht.“
„Uns geht es gut. Lilly vermisst dich.“
„Vermisst du mich auch?“, fragte er. Der verschmitzte Unterton in seiner Stimme verriet mir, dass er ein Ja von mir hören wollte.
Also war ich ehrlich. „Natürlich vermisse ich dich.“
„Das ist mein Mädchen“, antwortete er.
Die besitzergreifenden Worte ließen mein Herz anschwellen, während seine heisere Stimme meinen Magen zum Flattern brachte.
Doch der Moment war vorbei, als Holts Gesicht wieder auftauchte. Er sah, dass Marek mit mir sprach, und sagte: „Hey, Gracen. Verabschiede dich von deinem Mann. Wir haben noch einiges vor.“
Mein Lächeln wurde breiter, dann lachte ich. „Kein Problem. Viel Spaß euch beiden.“
„Oh, den werden wir haben“, erwiderte Holt, bevor er verschwand. Ich konnte jedoch seine Stimme hören. „Komm schon, Marek.“
Marek warf einen flüchtigen Blick auf Holt und wandte sich wieder mir zu. Er lächelte verlegen und zuckte mit den Schultern. „Wir gehen etwas essen.“
„Viel Spaß“, wiederholte ich und bemühte mich, aufrichtig zu klingen. Ich wollte, dass meine Worte von Herzen kamen, weil ich ihn nie davon abhalten würde, sich mit seinen Freunden zu vergnügen.
„Den werde ich haben“, erwiderte er, aber nicht in einem anzüglichen Tonfall. Nichtsdestotrotz war deutlich zu hören, dass er sein Nomadenleben liebte.
Für mich war das eine Art Mahnung, dass ich mein Herz schützen musste und meine Erwartungen nicht zu hoch schrauben durfte.
Tief im Inneren hoffte ich jedoch weiter.
Und ich hoffe auch jetzt noch.
In der vergangenen Woche gab es wirklich schöne Momente, die mich an den Jungen erinnerten, in den ich mich vor Jahren verliebt habe. An einem Tag schenkte er mir ein Fabritis-Trikot, das zu dem passte, das er Lilly gegeben hatte. Er lud mich ein, mir ein weiteres Spiel der Cold Fury anzusehen, und statt danach auszugehen, kamen wir direkt zurück nach Hause und liebten uns die ganze Nacht lang.
Immer öfter zeigt er mir offen seine Zuneigung. Sogar vor Lilly und seinen Eltern. Unsere Tochter denkt sich nichts dabei, aber seine Eltern haben überrascht die Augenbrauen in die Höhe gezogen, als er mich zum ersten Mal von hinten umarmte und mir vor ihren Augen einen Kuss auf den Nacken drückte.
Jeden Abend, wenn er in Raleigh ist, schlafe ich in seinem Bett. Bisher hat er keine Anstalten gemacht, meine Sachen aus dem Gästezimmer zu holen. Und er hat mich auch nicht zu jedem seiner Spiele eingeladen. Ich erwarte ganz sicher nicht, dass er mich zu einem Auswärtsspiel mitnehmen wird. Das würde wahrscheinlich seine Freiheit beschneiden, an der er offensichtlich immer noch hängt. Also werde ich wohl nie zu der erlesenen Gruppe der Spielerfrauen gehören.
Ich atme tief durch und beschließe, mich auf die positiven Aspekte zu konzentrieren und meine Erwartungen niedrig zu halten. Mehr kann ich nicht tun.
„Mommy“, höre ich Lillys Stimme und senke den Blick, als sie an meiner Hose zupft. Sie streckt mir das Telefon entgegen. „G-Pa will mit dir sprechen.“
Ich schenke ihr ein Lächeln, nehme das Handy und drehe den Bildschirm zu mir. Meine Mutter ist nicht mehr da, ich sehe nur noch das Gesicht meines Vaters.
„Hey“, sage ich in süßlichem Tonfall, in den ich auch heute jedes Mal verfalle, wenn ich mit meinem Vater spreche.
Mein Dad lacht leise. „Lilly scheint sich in einen Eishockeyfan verwandelt zu haben.“
Ich muss ebenfalls lachen. „Ja, sie ist wirklich begeistert von dem Sport, seit sie weiß, dass ihr Vater ihn ausübt.“
„Hör mal“, sagt mein Vater und wechselt das Thema. „Ich wollte dir nur mitteilen, dass ich vor ein paar Tagen einen Anruf von Mr. Waller erhalten habe.“
„Owens Vater?“, frage ich schockiert, obwohl ich genau weiß, wen er meint.
Mein Vater nickt. „Er hat uns mitgeteilt, dass er uns einen Zahlungsaufschub um weitere sechs Monate erteilt.“
„Einfach so?“, will ich misstrauisch wissen.
„Einfach so“, bestätigt mein Vater. „Unser Anwalt hilft uns bei den Verhandlungen mit dem Gasunternehmen, das unser Grundstück kaufen will. Es wird wahrscheinlich ein paar Monate dauern, bis alles unter Dach und Fach ist, aber wir werden den Vertrag noch vor Ablauf der Hypothekenfrist unterschrieben haben. Du musst dir also um uns keine Sorgen machen, Schatz. Uns geht es gut.“
Im Gegensatz zu dem gezwungenen Grinsen, das ich Marek vor ein paar Abenden geschenkt habe, verziehe ich nun die Lippen zu einem warmherzigen, strahlenden Lächeln. „Das freut mich. Immerhin eine Sorge weniger.“
Meine Worte haben zur Folge, dass mein Vater wissen will, was mir sonst noch auf dem Herzen liegt. Das führt dazu, dass meine Mutter wieder auf dem Bildschirm erscheint, woraufhin sie mich über meinen Job und meine Beziehung zu Marek ausfragen. Ich erzähle ihnen alles über meine Arbeit, doch in Bezug auf Marek halte ich mich vage. Im Grunde wiederhole ich das, was ich für mich beschlossen habe.
Ich werde mich auf die positiven Aspekte konzentrieren, aber meine Erwartungen auf ein realistisches Minimum beschränken. Auf diese Weise würde ich mein Herz schützen können.