Kapitel 25

 

Marek

 

Ich lege meine Hand an Gracens Rücken, als wir dem Oberkellner durch das Restaurant folgen. Vor ein paar Tagen habe ich uns hier einen Tisch reserviert und um eine etwas abgelegene Nische im hinteren Teil gebeten. Gracen rutscht hinein, und ich tue es ihr gleich.

Sie legt das glitzernde schwarze Tuch über ihren nackten Schultern ab, während ich die Speisekarten entgegennehme und nicke, als der Oberkellner sagt, dass gleich jemand an unseren Tisch kommen wird, um uns zu bedienen.

Ich sitze nah genug neben Gracen, dass ich ihre Körperwärme spüren kann, halte aber genügend Abstand, um mich ihr zuwenden und mit ihr unterhalten zu können. Ich reiche ihr eine Speisekarte und sie schenkt mir ein Lächeln.

Bisher war der Abend wunderschön. Obwohl ich während der Saison sehr beschäftigt bin, bemühe ich mich seit einigen Wochen, mehr Zeit mit Gracen zu verbringen. Neben der Arbeit, Lilly und den Heimspielen bleibt ihr wenig Freizeit. Die Tatsache, dass sie sie mit mir verbringt, weiß ich zu schätzen.

Der heutige Abend ist also nur für Gracen. Ich hatte Karten in der ersten Reihe für Avenue Q ergattert, welches eines von Gracens Lieblingsmusicals ist. Ich bin eigentlich ein Theatermuffel, aber die Vorstellung hat einige großartige Erinnerungen in mir wachgerufen. Gracen war während der Highschool sehr theaterbegeistert und träumte davon, Schauspielerin zu werden. Ich weiß allerdings nicht, was sie letztlich dazu gebracht hat, Krankenschwester zu werden, weil ich zu diesem Zeitpunkt nicht Teil ihres Lebens war.

Wir lassen den Abend mit einem späten Abendessen in einem der besten Restaurants in der Innenstadt ausklingen. Glücklicherweise verdiene ich genügend Geld, denn so habe ich einen wirklich guten Tisch reservieren können.

Nachdem wir beim Kellner einen Bourbon mit Soda für mich und einen Dirty Martini für Gracen bestellt haben, lege ich die Speisekarte erst einmal beiseite. Wir haben es nicht eilig, und ich will mich in Ruhe mit Gracen unterhalten. In den letzten Wochen hatten wir nicht viel Zeit füreinander, und ich wurde oft daran erinnert, wie sehr meine Karriere eine Beziehung beeinflussen kann.

Ich wende mich Gracen zu, stütze meinen Ellbogen auf den Tisch und streiche mit der anderen Hand über ihre Schulter. Sie trägt ein schlichtes, ärmelloses schwarzes Kleid und erschaudert sichtlich.

„Hat dir die Aufführung gefallen?“, frage ich sie.

Sie schenkt mir ein freudiges Lächeln, wobei ihre makellosen weißen Zähne im Kerzenlicht strahlen. „Es war fantastisch. Ich liebe dieses Musical.“

„Ich erinnere mich“, gestehe ich und bemerke, wie sie überrascht blinzelt. Ich beuge mich vor, um sie zu küssen, und als ich mich zurückziehe, zwinkere ich ihr zu. „Was ist denn? Ich war damals sehr aufmerksam.“

„Früher hast du es gehasst, dir die Theaterstücke und Musicals anzusehen, in denen ich mitgespielt habe“, erinnert sie mich mit einem tadelnden Blick.

„Aber ich bin gekommen“, erwidere ich mit einem unerschrockenen Lächeln.

Gracen lacht und greift nach ihrem Wasserglas. Während sie einen Schluck trinkt, frage ich: „Warum bist du Krankenschwester geworden? In den ersten beiden Jahren am College hattest du doch Ambitionen, Schauspielerin zu werden.“

Sie verzieht die Lippen zu einem sehnsuchtsvollen Lächeln, als dächte sie an die Zeit zurück, in der sie noch große Träume hatte, die vielleicht unerreichbar waren. Dann zuckt sie mit den Schultern und begegnet meinem Blick. „Ich war schwanger und wusste, dass ich mich auf eine Karriere konzentrieren musste, mit der ich meine Rechnungen bezahlen kann.“

Ich zwinge mich, nicht zusammenzuzucken, als ich daran erinnert werde, dass sich Gracens Leben drastisch verändert hat, nachdem ich sie verlassen hatte. Wäre ich geblieben, hätte sie es sich leisten können, gleichzeitig ihre Träume zu verfolgen und Mutter zu werden.

Ich vermeide es jedoch, mich zu entschuldigen, denn Gracen und ich haben so etwas wie einen Pakt geschlossen. Wir wollen die Vergangenheit ruhen lassen und nach vorn blicken. Seit Gracen mir vor einigen Wochen ihre Liebe gestanden hat, ist mir klar geworden, dass wir vielleicht eine Bindung zueinander aufbauen können, die sogar noch stärker ist als die, die wir früher einmal hatten.

Also frage ich: „Wie war es wirklich? Wie war die Schwangerschaft so ganz allein?“

Gracen sieht mich ungläubig an, denn sie weiß, dass ich mit der Frage das Risiko eingehe, alte Wunden wieder aufzureißen. Ich betrachte sie jedoch mit einem urteilslosen Ausdruck offener Neugier.

Sie entspannt sich sichtlich und hebt ihr Kinn ein wenig an. „Es war gar nicht so schlimm. Ich wohnte bei meinen Eltern, die mich nach Kräften unterstützt haben. Mom begleitete mich zu den Vorsorgeuntersuchungen.“

Das überrascht mich nicht. Gracen steht ihren Eltern sehr nahe. Ganz im Gegensatz zu ihrer älteren Schwester Beverly, die immer ihr eigenes Leben führte, auf ihre Unabhängigkeit bestand und ziemlich verschlossen war.

„Ich weiß nicht, wie du das alles geschafft hast“, sage ich, als der Kellner an unseren Tisch kommt.

Nachdem er unsere Getränke serviert hat, fragt er: „Möchten Sie bestellen?“

„Noch nicht“, antworte ich. „Wir lassen uns heute Abend Zeit.“

„Wie Sie wünschen, Sir“, erwidert er mit einer leichten Verbeugung. „Ich komme später wieder.“

Ich nicke und wende mich Gracen zu, um unsere Unterhaltung fortzusetzen. Doch dann sehe ich, wie sie sich eine Hand vor den Mund hält, um ein Kichern zu unterdrücken.

„Was ist denn?“, frage ich, während sie mich mit einem Funkeln in den Augen mustert.

„Du bist … erwachsen geworden“, erklärt sie mit einem Schnauben, als sie die Hand sinken lässt und nach ihrem Martiniglas greift.

Lachend nehme ich einen Schluck von meinem Drink und genieße das Brennen des Alkohols und das Kribbeln des Sprudelwassers auf meiner Zunge. Dann wende ich mich wieder Gracen zu und wiederhole: „Ich weiß nicht, wie du das alles geschafft hast. Du hast studiert, jeden Tag einen weiten Weg zum College auf dich genommen und dich dabei um ein Kind gekümmert.“

Gracen zuckt mit den Schultern. „Wahrscheinlich war es eine Tortur, aber wenn ich heute zurückblicke, kann ich mich kaum noch entsinnen. Es ist, als hätte Lilly alles andere in den Schatten gestellt und die Erinnerung an ihre schwere Geburt verblassen lassen.“

Mir dreht sich der Magen um, wenn ich daran denke, was sie durchgemacht hat. Inzwischen habe ich einiges über vorzeitige Plazentaablösung gelesen und weiß, dass ich mich glücklich schätzen kann, dass Gracen und Lilly am Leben sind. Ich will mir gar nicht vorstellen, wie Gracen im Unterricht saß und wahrscheinlich zu Tode erschrocken war, als sie zu bluten begann und unvorstellbare Schmerzen litt.

Sie war völlig allein in einer fremden Stadt und lief Gefahr, ihr Baby zu verlieren. Und niemand war da, um ihr beizustehen. Plötzlich spüre ich ein Brennen in meinen Augen. Das Gefühl ist so befremdlich, dass ich im ersten Moment befürchte, ich werde krank.

Dann merke ich, was los ist, und blinzle heftig, um nicht in Tränen auszubrechen.

Gracen, die mich besser kennt als die meisten Menschen, sieht mein Dilemma und eilt mir zu Hilfe, indem sie das Thema wechselt. „Da wir gerade von Lilly reden … Ist es zu glauben, wie sehr sie zum Eishockeyfan mutiert ist? Sie ist noch nicht einmal vier Jahre alt und will dir nur noch beim Eishockeyspielen zusehen.“

Nette Ablenkungstaktik, Gracen.

Ich räuspere mich und nicke. Gracen gibt vor, meinen heiseren Tonfall nicht zu bemerken, als ich sage: „Ja, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.“

Gracen lacht. „Nun, sie ist auch übermäßig dramatisch und eine geborene Entertainerin. Vielleicht wird sie ja Schauspielerin, wie ihre Mutter es einmal werden wollte.“

„Dieses Kind kann alles werden, was es will“, sage ich lachend und voller Stolz. „Wenn sie nur ein Zehntel deiner Entschlossenheit hat, wird sie die Welt erobern.“

Gracen errötet und verzieht die Lippen zu einem verlegenen Lächeln. Dann tritt ein verschmitzter Ausdruck in ihre Augen. „Die Sturheit hat sie von dir geerbt, so viel ist sicher.“

„Und das teuflische Lachen von dir“, entgegne ich und demonstriere, was ich meine. „Ha, ha, ha, ha.“

Gracen gibt mir einen Klaps auf den Arm und ruft protestierend: „So klinge ich bestimmt nicht.“

„Doch, das tust du“, beharre ich. „Wenn du so lachst, sehe ich mich immer vor, denn ich weiß, dass du dann etwas im Schilde führst.“

Ich ernte ein lautes Schnauben. „Ihren Hang zu Übertreibungen hat sie jedenfalls von dir.“

Ich werfe den Kopf in den Nacken und lache schallend. Es ist ein gutes Gefühl. Meine Zeit mit Gracen ist knapp bemessen, und wenn wir beide einmal freihaben, will ich mich mit ihr auf den Laken wälzen. Trotzdem genieße ich diesen Abend sehr.

Der Kellner kommt auf uns zu, aber ich schüttle den Kopf. Er macht auf dem Absatz kehrt und geht davon. Ich nehme noch einen Schluck von meinem Drink, während Gracen es mir gleichtut.

„Wie läuft die Arbeit?“, frage ich, als ich mein Glas abstelle.

Gracen greift nach einem Zahnstocher, auf dem drei mit Blauschimmelkäse gefüllte Oliven aufgespießt sind. Sie zieht eine mit den Zähnen ab und lässt sie hinter ihren vollen, rosafarbenen Lippen verschwinden. Mein Gott, diese Lippen. Sie fühlen sich großartig an, wenn sie meinen Schwanz …

Ich schüttle den Kopf. Das ist nicht der richtige Zeitpunkt.

Nicht der richtige Zeitpunkt.

Glücklicherweise ahnt Gracen nichts von meinen lüsternen Gedanken, als sie mir erzählt, wie viel Spaß ihr der Job macht. Sie schließt mit den Worten: „Aber es ist nicht dasselbe wie die Arbeit auf der Säuglingsstation. Ich hoffe, dass irgendwann eine Stelle frei wird und ich dafür in Betracht komme.“

„Ich bin sicher, dass Josie ein gutes Wort für dich einlegen wird“, sage ich.

Gracen schüttelt den Kopf. „So viel Einfluss hat sie nicht. Diese Jobs sind hart umkämpft. Trotzdem ist es schön, eine Freundin zu haben, mit der ich reden kann.“

„Das freut mich“, erwidere ich aufrichtig. Allerdings würde ich meine linke Niere darauf verwetten, dass Josie in den ersten Tagen, in denen Gracen hier in Raleigh wohnte, nicht gerade auf meiner Seite war. „Reed hat erzählt, dass Josie nächste Woche zu dem Auswärtsspiel in Pittsburgh mitkommt.“

Gracen nickt und dreht den Zahnstocher mit den restlichen Oliven in ihren Fingern. „Sie kann es kaum erwarten. Sie nimmt sich nicht oft frei.“

Reed wird im siebten Himmel sein. Ich erinnere mich an damals, als Gracen mit meinen Eltern zu einigen meiner Auswärtsspiele am Boston College reiste. Es ist wahr. Ich spiele wirklich besser, wenn sie zuschaut.

Vielleicht wird sie eines Tages ebenfalls mitfahren. Mit Lilly. Aber es wäre auch schön, nur mit Gracen zu reisen.

Doch im Moment will ich sie nicht darum bitten. Sie ist so beschäftigt mit ihrem neuen Job und würde sich keinen Urlaub nehmen wollen. Falls irgendwann eine Stelle auf der Säuglingsstation frei wird, will sie eine makellose Bilanz vorweisen können. Hoffentlich hat sie sich in ein paar Monaten besser eingelebt, dann kann ich sie vielleicht davon überzeugen, sich für einen Roadtrip hier und da freizunehmen.

Ja, ich denke definitiv, dass Gracen und ich auf dem richtigen Weg sind. Wir lassen es langsam angehen und festigen unsere Beziehung dadurch nur noch mehr.

Ich erhebe mein Glas. „Auf einen fantastischen Abend“, sage ich leise. Dann beuge ich mich vor und füge mit einem tiefen Brummen hinzu: „Und er wird noch besser werden, sobald ich dich später aus diesen Kleidern befreit habe.“

Gracens Augen funkeln verheißungsvoll, als sie ihre Hand auf meinen Oberschenkel legt. Sie streichelt über mein Bein und greift mit der anderen Hand nach ihrem Glas. „Danke für die Einladung. Wenn wir später zu Hause sind, werde ich dir einen blasen.“

Ich stöhne, bevor ich einen Schluck von meinem Bourbon nehme. Mittlerweile bereue ich es, den Kellner weggeschickt zu haben, weil wir uns Zeit lassen wollten.

Gracen grinst mich über den Rand ihres Glases hinweg an, während ich in Gedanken ihr teuflisches Lachen höre. Ich erwidere ihr Grinsen und denke bei mir, dass die Vorfreude alles vielleicht sogar noch besser machen wird.