Ich sitze mit Johan in einer Bar in Venedig. Laute Musik, Black Sabbath.

Ich halte mich für irgendwie merkwürdig, aber gesund. Irgendwie merkwürdig, weil Politik und Geld und Beziehungen und Familie und Arbeit und Wünsche, weil eben sowieso alles merkwürdig ist. Gesund, weil, wenn alles merkwürdig ist, merkwürdig ja normal ist.

Ich trinke Bier in tiefen Zügen und rede mit einem Selbstverständnis davon, dass mein Leben ohne Sinn, ohne jeden Zusammenhang ist, dass es sich später anfühlt, als hätte ein Geist gesprochen. Ich sage

– Klar, Sinn, was soll’s, das ist Luxus. Ganz schön, aber braucht man jetzt nicht unbedingt unbedingt.

Ich brauche das schon. Ich erinnere mich dort in der Bar in Venedig nur grad nicht mehr daran. Ich habe das da irgendwie total aus den Augen verloren. Ich bin da schon ein Erledigter, ein Zerbrochener. Ich habe es nur noch nicht gemerkt.

Als ich im Krankenhaus bin, finde ich ein Bild dafür. Bilder sind eine Zeit lang alles, was mich vor dem völligen Verschwinden bewahrt.

Dieses geht so, dass mein Leben nach und nach abgestorben ist, weil es nicht mehr von Gefühlen durchblutet wurde. Dass mein Kopf, dem es schwerer- und schwerergefallen ist, zu fühlen, die Emotionen unbemerkt immer härter rationiert hat, bis das Fühlen in großen Teilen meines Lebens vertrocknet und verschwunden ist. Aus der Arbeit, aus Freundschaften, aus allen Dingen, die mir mal etwas bedeutet haben. Irgendwann treffe ich niemanden mehr, irgendwann sagen mir Worte nichts mehr. Irgendwann ist all das verloren und verstorben, weggebrochen, weggeweht. Irgendwann sage ich mir selbst nichts mehr und mein Leben mir auch nicht.

Und dass einem so ein ganzes Leben überhaupt abhandenkommen kann, und hier geht das Bild weiter, liegt daran, dass Gefühle nicht nur meine Welt am Leben gehalten haben, sie waren auch der Klebstoff für meine Biografie, für alles, was ich mir über mein Leben erzählt habe.

Ohne Emotionen wird aus einem Leben, das sinnerfüllt erscheint, das eine Geschichte ist, Kinder haben, Arbeit haben, Interessen haben, Sachen wollen, lieben, Träume, ohne Gefühle wird das, was bei anderen ein Leben ergibt, zu einer unendlichen, unendlich sinnlosen Reihe von Sachen, die man macht oder machen muss, die man entscheidet oder entscheiden muss. Oder die einem einfach zustoßen. Erst das, dann das, dann das. Ohne Gefühle hat das alles nichts mehr mit dir zu tun, außer dass es dich anstrengt. Es ergibt keine Erzählung. Dein Leben wird zu einer Liste von Erledigungen, und der letzte Punkt ist der Tod. Und alles davor ist mehr oder weniger nervig, mehr oder weniger auslaugend, mehr oder weniger schmerzhaft. Alles davor ist irgendwie sinnlos und leer und unzusammenhängend und furchtbar anstrengend, fast nicht zu schaffen. Und jeder Traum ist ein Albtraum. Besonders die schönen.

Ich merke das nicht. Lange Zeit ist das alles angenehm, weil ich nichts entscheiden muss. Aber irgendwann geht das auch nicht mehr. Und am Ende ist nur die Familie übrig. Und die Familie treibt in einer trüben Suppe aus Gleichgültigkeit und Müdigkeit und Trauer und Selbstmitleid um irgendwas, das da, das man mal gewesen sein muss und das jetzt nicht mehr da ist.

In Venedig brauche ich noch keine Bilder. An diesem Abend reicht es, mich ein wenig zu betrinken und an Johans Seite in unser Airbnb mit Panoramafenster zum Kanal zu wanken und dort noch irgendeinen Film auf Netflix zu sehen, bei dem ich schnell einschlafe. Am nächsten Morgen bin ich wieder um vier oder halb fünf wach, schalte die Nachttischlampe an und lese. Ich muss lesen. Ich weiß nicht, warum. Aber ich weiß, ich muss lesen. Das ist die Regel. Solange ich lese, bin ich okay.