DREI

Als Frau Bruckner ihm am nächsten Tag öffnete, sah sie müde und bedrückt aus. Der Tandler fand sie irgendwie sympathisch, auch wenn sie ihn und seine Männer oft distanziert und kurz angebunden behandelte. Sicherlich hatte sie es mit Zamberk-Tachov nicht leicht.

»Was werden Sie machen, wenn Sie keine Wohnung finden?«, fragte der Tandler.

»Irgendwas wird mir schon einfallen«, meinte sie. »War bis jetzt immer so. Manchmal erst im letzten Moment, ich mach mir keine Sorgen.«

»So schauen Sie aber nicht aus, so als ob Sie sich keine Sorgen machen würden«, meinte der Tandler.

»Ich bin wie eine Katze, ich fall immer auf die Füße.« Sie lächelte, wurde dann aber wieder förmlich. »Sie kommen am Montag wieder und holen alles ab, was zum Recyclinghof gebracht werden muss?«

Der Tandler nickte.

»Dann wünsche ich Ihnen schon einmal ein schönes Wochenende, vermutlich sehen wir uns bis dahin ja nicht mehr.« Sie drehte sich um, verschwand in ihrer Wohnung und ließ den Tandler einfach stehen. Der hätte sich über ein weiteres Lächeln von ihr gefreut.

Er lud alle Kartons in seinen Transporter, brachte sie zum Stadl und war fast ein bisschen traurig darüber, dass der Auftrag im Schloss bald erledigt wäre.

Den Tandler plagte die Neugier, deshalb war es ihm nicht möglich, sich nach dem frühen Aufwachen am Sonntag noch einmal umzudrehen und gemütlich weiterzuschlafen. Das Geld, die Waffen, die beiden Briefe – das alles ließ ihm keine Ruhe. Zamberk-Tachov machte Geschäfte mit stinkreichen Bulgaren. Aber in Bulgarien wurde man nicht mit ehrlicher Arbeit so reich, dass man Oldtimer im Millionenwert kaufen konnte. Hier stimmte doch was nicht. Immer wenn den Tandler die Neugier plagte, dann spürte er das körperlich als Missempfinden: ein Ziehen im Rücken und Nacken, ein Kribbeln in den Fingern und eine Unruhe in den Füßen. Dagegen half nur, sich mit dem Objekt seiner Neugierde zu beschäftigen.

Im Stadl lagerten die Akten, die er nächste Woche zum Schreddern bringen musste. Da könnte er doch erst noch einen Blick hineinwerfen. Zwar versprach der Tandler auf seiner Internetseite, sensible Dokumente professionell zu vernichten und diskret zu behandeln, aber wenn er sie sich kurz ansähe, wäre das kein Widerspruch. Diskret behandeln bedeutete ja nur, dass er nicht weitererzählte, was er in den Ordnern entdeckte – falls es etwas zu entdecken gab. Und schon am Mittwoch würden alle Dokumente von einem Profiunternehmen zu kleinen Papierschnipseln verarbeitet werden, die dann der Papierfabrik in Laakirchen als Rohstoff dienten. Er fuhr nach Riedl.

Das Lager im Anbau war mit Möbeln und Umzugskisten aus dem Schloss vollgestellt. Der Tandler kletterte über Sofas und Tische, quetschte sich zwischen Schränken durch, bis er endlich in der Ecke mit den Aktenordnern ankam. Insgesamt waren es elf Kartons mit je zehn prall gefüllten Ordnern.

In der ersten Umzugskiste befanden sich Akten aus den Jahren 1920 bis 1942. Es handelte sich um Lohnabrechnungen für eine ganze Schar von Gärtnern und Gehilfen. Zwei Ordner enthielten Rechnungen über Anschaffungen für den Garten: Pflanzen, Dünger, spezielle Gartengeräte, sogar eine Herde Schafe war gekauft worden, wahrscheinlich um durch Beweidung das Gras kurz zu halten. Außerdem gab es Rechnungen für einen Architekten zur Gestaltung des Landschaftsparks, zu dem anscheinend auch ein Wasserfall gehörte, denn der Tandler fand eine Quittung aus Bozen für »Natursteine Wasserfall und Fontäne«. Er erinnerte sich, dass Zamberk-Tachov und Frau Bruckner irgendetwas über den Park erzählt hatten, aber was? Für ihn sah alles nur nach vielen Bäumen aus, die jedoch schienen selten und wertvoll zu sein. Er nahm sich vor, sich am Montag das Wäldchen anzuschauen.

Etwa vierzig Aktenordner dokumentierten die Essgewohnheiten der Familie Zamberk-Tachov: Belege über Lebensmittel- und Getränkeeinkäufe aus siebzig Jahren waren hier versammelt. Den Schlossherren schien es immer gut gegangen zu sein, davon zeugten Quittungen für Champagner und Absinth in größeren Mengen sowie für Kaviar, Hummer, Austern und Roastbeef aus den zwanziger und dreißiger Jahren, als viele sich nicht einmal ein einfaches Gulasch hatten leisten können.

Während des Zweiten Weltkriegs war jedoch auch bei den Zamberk-Tachovs das gute Leben vorbei gewesen. Zumindest ging das aus den Abrechnungen hervor. Aber schon in den späten vierziger Jahren hatte sich das wieder geändert, exotische Früchte und jede Menge Fleisch waren geliefert und bezahlt worden.

Nichts Aufregendes, dachte der Tandler enttäuscht, nachdem er Lohnabrechnungen der Hausangestellten und Rechnungen von Handwerkern durchgeblättert hatte, als ihm plötzlich eine unbeschriftete Mappe in die Hände fiel. Anscheinend war die Familie an der Arisierung der Zündholzfabrik Sandler und Röhrling beteiligt gewesen – einige Dokumente aus dem Jahr 1938 wiesen einen Marjan Zamberk-Tachov als Mitinhaber der Fabrik aus, aber schon 1941 hatte er seine Anteile wieder verkauft. Das interessierte den Tandler. Doch die nächsten Dokumente hatten nichts mehr mit der Zündholzfabrik zu tun.

Es begann mit einem Schriftverkehr, den Marjan Zamberk-Tachov mit einem gewissen Arthur Glaser führte. Der erste Brief war bereits im Oktober 1936 verfasst worden. Glaser beklagte darin antisemitische Übergriffe auf ihn, seine Familie und sein Geschäft und bat Zamberk-Tachov, seinen »lieben und werten Freund«, um rechtlichen Beistand. Der Tandler schloss daraus, dass Marjan wohl Jurist gewesen war.

Weitere Briefe Glasers ließen den Tandler glauben, dass Zamberk-Tachov nicht nur nicht geholfen, vielmehr Glaser vertröstet und sogar schlecht beraten hatte. In einem Brief vom Januar 1937 erwähnte Glaser, dass er sein Büromaschinengeschäft und die Villa in der Stockhofstraße für eine gute Summe hätte verkaufen können, es aber auf Anraten seines »lieben und werten Freundes« nicht getan hatte. In einem Brief vom Februar 1938 war zu lesen, dass Glaser ein Affidavit für die Ausreise der gesamten Familie in die USA erhalten, es aber auf Drängen von Zamberk-Tachov im Jänner hatte verfallen lassen. Nun war der Freund nicht mehr »lieb und wert«, sondern nur noch »Freund«.

Im April 1938 bedankte sich Arthur Glaser dafür – nun schon eher förmlich, ganz ohne »Freund« –, dass Zamberk-Tachov ihm seine Villa samt antikem Mobiliar und sein Papierwarengeschäft inklusive Inventar abkaufen würde. Es folgten die Urkunden, aus denen hervorging, dass Marjan Zamberk-Tachov im Juli 1938 eine Villa mit hundertfünfzig Quadratmetern Wohnfläche und großem Garten im Neustadtviertel und ein Büromaschinengeschäft in der Landstraße für nur eintausendfünfhundert Reichsmark erworben hatte. Der Tandler suchte im Internet nach einer Umrechnungstabelle und fand heraus, dass diese Summe einer heutigen Kaufkraft von sechstausend Euro entsprach. Eine komplette Villa und ein Büromaschinengeschäft für sechstausend Euro! Aber Champagner saufen für fünfhundert Reichsmark im Monat! Der Tandler war empört. Ein sauberer Freund, dieser Marjan Zamberk-Tachov.

Arthur Glaser und seiner Familie schien die Flucht nach Amerika dennoch gelungen zu sein. Ein auf August 1939 datierter Brief informierte »Herrn Zamberk-Tachov und Familie« darüber, dass Glaser mit Frau und Kindern nach »unzähligen Irrwegen, mit denen ich Sie nicht langweilen möchte«, in Boston bei entfernten Verwandten untergekommen war und nun versuchen musste, »gänzlich ohne Vermögen oder Wertsachen« ein »Auskommen durch Hilfsarbeit« zu finden. »Ich wasche Teller in einem Restaurant, fülle Würste bei einem deutschen Metzger und mache abends in einer jüdischen Bäckerei sauber – und doch reicht es nicht für eine eigene kleine Wohnung. So leben wir weiterhin im Keller bei meiner Cousine in nur einem Raum – doch das soll Sie nicht tangieren«, endete dieser letzte Brief. Doch, es soll ihn tangieren, ich hoffe, es hat ihm schlaflose Nächte bereitet, dachte der Tandler.

Dieser Marjan, ob das der Großvater oder ein Großonkel vom Hochgschissenen war? Der Tandler blätterte durch die übrigen Aktenordner, doch in keinem fanden sich Hinweise auf die Familienverhältnisse oder gar einen Stammbaum. Diese Ordner enthielten nur Rechnungen über Gebühren, Steuerunterlagen und Ähnliches.

Im letzten Karton waren die Aktenordner von Adriana Zamberk-Tachov. Es musste sich dabei um die Tante des Hochgschissenen handeln, denn zwei Ordner beinhalteten medizinische Unterlagen: Krankenberichte, Rechnungen aus Privatkliniken und derlei. Dem Tandler fiel auf, dass sie häufig nur als »Adriana Zamberk« angeschrieben wurde, anscheinend hatte sie das »Tachov« aus ihrem Namen gestrichen. Die frühere Schlossherrin musste heute fünfundachtzig Jahre alt sein und hatte vor sechzehn Jahren einen Schlaganfall erlitten. Der Tandler verstand viele medizinische Begriffe nicht, reimte sich aber zusammen, dass Adriana anfangs keinerlei geistige Beeinträchtigung aufgewiesen hatte und lediglich körperlich leicht eingeschränkt gewesen war. Sie konnte es sich leisten, täglich einen Physiotherapeuten für Hausbesuche und anscheinend auch eine Köchin zu bezahlen. Alle Rechnungen und Unterlagen bezogen sich auf die ersten Jahre nach ihrer Erkrankung, als sie die Geschäfte noch allein geführt hatte. Der Tandler erinnerte sich: Zamberk-Tachov hatte erzählt, dass die Tante ihm vor zehn Jahren alles überschrieben habe. Die letzten Dokumente in diesen Ordnern stammten vom Juli vor zehn Jahren.

Der Tandler wollte alles in die Umzugskiste zurückpacken, als aus einem der Ordner mit medizinischen Berichten eine Klarsichthülle herausfiel. Die Heftlöcher der Hülle waren eingerissen. Er wollte die Hülle und ihren Inhalt wieder in den Ordner legen, als ihm auffiel, dass das oberste Dokument ein alter Meldezettel aus dem Jahr 1968 war, ausgestellt auf Karl Loibl, von Beruf Installateur. Die Reparaturen im Schloss hatte aber seit den sechziger Jahren immer die Firma Vizthum ausgeführt, das hatte der Tandler in den Akten gesehen, da war kein Karl Loibl dabei gewesen.

In der Hülle waren noch mehr Papiere von Karl Loibl: ein Zeugnis über den Abschluss der Ausbildung 1956 bei einem Betrieb in Stubenberg in der Steiermark und ein Empfehlungsschreiben von einem oberösterreichischen Installateurbetrieb aus Freistadt aus dem Jahr 1965. Aus dem Meldezettel ging hervor, dass Karl Loibl wohl schon 1965 nach Linz gekommen, 1968 aber aus Spallerhof nach Urfahr gezogen war. Zuunterst befand sich ein undatierter, von Hand beschriebener Zettel, auf dem Adressen standen: eine Straße in Tamsweg im Lungau, eine in Ried im Innkreis und die letzte in Linz. Neben der Linzer Adresse war auch eine Linzer Telefonnummer notiert. Doch wie in der Stadt allgemein bekannt war, existierte das Haus in der Lunzerstraße 42 heute nicht mehr.

Eine unschöne Bereicherung auf Kosten einer jüdischen Familie und ein Installateur, der zwischen den medizinischen Unterlagen der früheren Schlossherrin auftauchte. In Gedanken versunken saß der Tandler vor dem Stadl auf der Hausbank in der Sonne und sah ihr beim Untergehen zu.

Er hatte die Dokumente zur Arisierung und die Briefe der Familie Glaser zur Seite gelegt und entschieden, sie nicht wie vereinbart zur Aktenvernichtung zu bringen. Das könnte er später, falls sich alles als unwichtig herausstellen sollte, immer noch tun. Bis dahin wollte er die Unterlagen in seinem abschließbaren Schreibtisch im Büro in der Schmiedegasse aufbewahren.

Diese Familie schien einige Geheimnisse zu haben, und der Tandler war neugierig darauf, sie zu lüften.

Der Montag verlief ereignislos. Theo und seine Söhne waren verhindert, weshalb der Tandler mit Dorian und Sali die unverwertbaren Möbel und Gegenstände abholte und zum Recyclinghof brachte.

Frau Bruckner zeigte sich erst, als er mit allem fertig war. »Was passiert jetzt noch?«, fragte sie.

»Wir müssen eine ordentliche Abnahme machen. Das heißt, der Herr Zamberk-Tachov oder Sie gehen mit mir durch alle Räume, wir protokollieren, dass wir alles, was wegsollte, auch weggeschafft haben und dass nichts fehlt, was nicht hat wegsollen.«

»Der Besitzer ist nicht da, der ist bis zum Wochenende in Bulgarien. Dann muss ich das wohl machen, weil ja am Donnerstag in der Früh schon die Architekten vom Investor kommen. Geht Mittwoch? Morgen hab ich nämlich mehrere Wohnungsbesichtigungen.«

Das war dem Tandler gerade recht. Er freute sich, dass Frau Bruckner die Endabnahme machen würde und nicht der unangenehme Schlossbesitzer. Auch blieb ihm so Zeit, das Lager vom Stadl aufzuräumen. So vollgestellt, wie es im Moment war, konnte er nicht problemlos an die Umzugskisten mit den Ordnern gelangen, er musste diese aber am Mittwoch zur Aktenvernichtung bringen. Sali und Stefanos hatten versprochen, ihm morgen zu helfen. Er verabredete sich mit Frau Bruckner für Mittwoch um drei Uhr.

Schon um acht Uhr traf er sich am folgenden Tag mit Stefanos und Sali, gemeinsam fuhren sie mit dem Kastenwagen des Tandlers zum Stadl nach Riedl. Die beiden wollten am Nachmittag zum Pichlinger See zum Schwimmen. Es war richtig warm geworden, es würde wohl voll werden am kleinen Baggersee, da sollten sie nicht zu spät kommen.

Johanna Ramböck war schon da. Sie wusste am besten, wo es noch Platz in den beiden Schauräumen gab. Auch für das Ausräumen des Lagers hatte der Tandler eine Ablaufroutine entwickelt: Jedes Möbelstück wurde zuerst sorgfältig geprüft, dann gereinigt, anschließend in den Verkaufsraum getragen und mit einem Preisschild versehen. Bei Sitzmöbeln mussten Bezug, Holz, Lackierungen, Polsterung und bei Schlafsofas zusätzlich der Klappmechanismus untersucht werden. Bei Schränken und Kommoden war jede einzelne Schublade und Tür zu öffnen, Scharniere, Schienen und Einlegeböden waren zu begutachten. Vergrößerbare Tische stellten kleine Herausforderungen dar, da sich manche Ausziehmechanismen als widerspenstig erwiesen.

Bei älteren Möbeln war oft schwer erkennbar, ob es sich um wertvolle Stücke oder eher Massenware handelte. Johanna hatte in Deutschland in Rosenheim Innenarchitektur und Möbeldesign studiert, sie war die Expertin und fällte das abschließende Urteil über jedes einzelne Stück. Zwar hatte sie den Master abgebrochen, da ihre künstlerischen Fähigkeiten nicht für das Zeichnen von Entwürfen oder Bauen von Modellen ausreichten, aber ihr Wissen zu Möbelstilen, Werkstätten oder Materialien war ausgezeichnet. Sie besaß zahlreiche Bücher und Kataloge, die die Bewertung von Sitzgarnituren und Schränken einfacher machten.

Der Tandler entschied, dass sie mit den Sitzmöbeln beginnen sollten. Diese waren oft sperrig, liefen im Verkauf aber besser als Schränke oder gar Betten. Mit Johanna prüfte er die einzelnen Stücke auf Qualität und Funktionalität, danach bearbeiteten Sali und Stefanos das jeweilige Möbel mit dem Staubsauger und einem feuchten Tuch und schleppten es anschließend in den Stadl, wo Johanna ihnen den Platz anwies, an dem es ausgestellt werden sollte. Dann befestigte sie das handgeschriebene Preisschild.

Zwei unspektakuläre Sitzgarnituren aus den siebziger Jahren einschließlich Wohnzimmer-Schrankwand waren schnell bearbeitet und etwas Platz im Anbau geschaffen.

»Oh, ein Art-déco-Sessel!«, rief Johanna, als sie sich näher mit einem scheußlich bezogenen Fauteuil beschäftigte. »Sieht aus wie Thonet. Nussholz«, meinte sie. »Muss aus den dreißiger Jahren sein, aber da muss ich noch einmal nachschlagen.« Vorsichtig löste sie den Stoffbezug, ein grelles tropisches Blumenmuster, an einer Ecke ab.

»Thonet? Das ist doch der mit den fürchterlich unbequemen Kaffeehausstühlen, oder?«, fragte Stefanos.

»Damit sind die bekannt geworden. Und mit Schwingsesseln aus Stahlrohr. Aber Thonet hat viele Möbel gemacht – auch schon im 19. Jahrhundert. Aber du hast recht, richtig bequem sind die Bugholzstühle nicht, die Freischwinger übrigens auch nicht.«

»Bugholz?«, fragte Stefanos.

»Gebogenes Holz? ›Bug‹ von ›biegen‹?«

»Meine Güte, du bist manchmal schon eine echte Oberlehrerin!«

Der Tandler schmunzelte. Seit fast einem Jahr versuchte Stefanos vergeblich, mit Johanna anzubandeln. Sie flirtete mit ihm, ließ ihn dann aber immer wieder abblitzen. Stefanos hatte schon Bücher über Möbel gelesen, nur um Johanna zu beeindrucken. Die aber putzte ihn immer wieder mehr oder weniger scherzhaft herunter. Der Tandler fragte sich, wie lange Stefanos sein Balzverhalten noch durchhalten würde.

»Wenn der Originalstoff noch gut ist, können wir den für über tausend Euro verkaufen. Da neben der Stehlampe ist übrigens noch ein Thonet, vom Designer Halabala – ja, lach nur, Stef, der heißt wirklich so –, über den hab ich einmal ein Referat gehalten.« Sie deutete auf einen Fauteuil, dessen hölzerne Armlehne und Sitzkufe aus einem einzigen geformten Bugholz bestanden. »Sebastian, für den Halabala kannst du über zweitausend kriegen! Wenn der Stoff in Ordnung ist, da muss ich schauen.« Auch dieses Möbel war mit einem scheußlichen grellen floralen Muster bespannt. Darunter kam ein grünlicher dunkler Stoff mit dezentem Arabeskenmuster zum Vorschein. »Starke Abnutzungsspuren, aber nirgends eingerissen. Originalbezüge verwendbar. Volltreffer, Sebastian!«

»Mich wundert, dass der Hochgschissene und sein Antik-Experte das nicht gesehen haben«, meinte der Tandler.

»Entweder hat den nur Biedermeier oder Rokoko interessiert, oder er hat keine Ahnung. Mach dir keine Gedanken, ist doch umso besser für dich. Stef, runter mit den Füßen!« Johanna lief zu Stefanos, der auf einem Stahlrohrsofa mit hellem Bezug lag, und schubste ihn unsanft hinunter.

»Jetzt sag nicht, dass das auch so ein Hillibilli oder was weiß ich ist«, schimpfte Stefanos. »Das ist modern, und der Bezug ist neu!«

Johanna warf Kissen und Sitzkissen auf den Boden und kippte das Stahlrohrgestell, das zusätzliche Kufen aus Buchenholz aufwies, nach hinten, um das Holz näher zu betrachten. Sie fischte ihr Handy aus der Hosentasche, wischte durch mehrere Webseiten und rief dann: »Ein Robert Slezak aus den Dreißigern, auch von Thonet gebaut!«

Der Tandler sah sich die von Johanna aufgerufene Seite an. »Dreitausendfünfhundert Euro?«, fragte er ungläubig.

»Sebo, du hast im Lotto gewonnen!« Stefanos deutete auf die zahlreichen Möbel aus dem Schloss. »Wer weiß, was da noch alles dabei ist!«

»Wir gehen anders vor, auch wenn es umständlicher ist und wir mehr räumen müssen«, schlug Johanna vor. »Alles, was eher siebziger und achtziger Jahre ist, bearbeiten wir zuerst. Die teuren Stücke sollten wir vielleicht nur online verkaufen, nicht im Verkaufsraum.«

Der Tandler stimmte zu.

Nachdem er Stefanos und Sali kurz nach Mittag zum Badesee gefahren hatte, kehrte der Tandler in den Stadl zurück. Das Lager hatte sich etwas gelichtet, er konnte sich nun ohne akrobatische Verrenkungen zwischen den Möbelstücken bewegen. Johanna war im Verkaufsraum beschäftigt.

Neben einigen Einzelstücken, Schränken und Kommoden befanden sich noch sechs komplette Sitzgarnituren im Lager, darunter auch die Schlafcouch, in der der Tandler die beiden Briefe gefunden hatte. Die hatte er, abgelenkt von der Entdeckung der Thonet-Möbel, fast vergessen. Johanna hatte gesagt, dass die Couch mit den zwei Fauteuils vermutlich nicht so wertvoll sei, wollte das abschließende Urteil aber in Ruhe im Lauf der Woche fällen.

Der Tandler klappte die Couch auf. Ob hier noch mehr verborgen war? Vorsichtig kroch er in den Stauraum. Der Holzrahmen des Untergestells war innen mit schwarzem Stoff bespannt, der an einer Stelle bei der rechten Armlehne etwas ausgebeult aussah. Tatsächlich wies die Bespannung hier auf einer Länge von etwa dreißig Zentimetern einen Riss auf. So war eine kleine Tasche entstanden, in der noch mehr Papier steckte. Zehn weitere Briefe. Diese Tasche im Bespannungsstoff des Stauraums war so angebracht, dass man, um die Briefe dort verschwinden zu lassen, die Couch gar nicht aufklappen musste, sondern sie direkt zwischen Armlehne und Sitzpolsterung hineinschieben konnte.

Die beiden ersten Briefe hatte er bei der linken Armlehne, die ausklappbar war, erspäht. Dort befand sich aber im Stauraum keine geheime Tasche. Wer auch immer diese beiden Briefe versteckt hatte, hatte sich entweder vertan oder nicht gewusst, wo das Geheimfach angebracht war. Da Johanna das Lager betrat, steckte er die Papiere schnell in seinen Overall.

»Kommst du allein zurecht?«, fragte er sie.

Sie nickte. »Ich mach mir Sorgen, ob diese wertvollen Stücke hier sicher sind«, meinte sie. »Wenn die Fotos der Möbel erst im Internet zu sehen sind … Meinst du, der alte Hauer vom Hof drüben merkt, wenn hier jemand einbricht?«

»Was soll ich denn machen? Eine Alarmanlage installieren vielleicht?«

Johanna lachte. »Wer soll den Alarm hören? Der Hauer ist ziemlich taub und der Gugerbauer zu weit weg. Der Schober ist nie da … und bis die Polizei aus Hellmonsödt oder Linz kommt, haben die Diebe alles in einen Lkw geladen und sind weg. Wenn wir einen Zaun hätten, könnten wir scharfe Hunde von meinem Schwager bekommen, der züchtet und bildet aus.«

»Hätten, täten … Einen Zaun haben wir aber nicht. Johanna, ich brauch Ideen, die sich auch realisieren lassen, nicht eine Aufzählung von Sachen, die möglich, aber bei uns nicht umsetzbar sind.«

»Du könntest die wertvollen Möbel in einen bewachten Lagerraum bringen.«

»Weißt du, was das kostet? Da sind wir den Gewinn nach spätestens zwei Wochen wieder los.«

Johanna überlegte eine Weile. »Mein Schwager – der, der die Hunde züchtet und trainiert – hat eine große, trockene Garage. Da bricht garantiert niemand ein, da laufen zu viele Hunde frei herum, die nicht nur gefährlich ausschauen, sondern es auch sind. Soll ich ihn fragen?«

»Wenn die Hunde nicht in die Garage kommen und die Sitzmöbel zerbeißen oder markieren …«

Johanna lachte wieder. »Das ist doch selbstverständlich, dass die Garage abgeschlossen wird. Ich ruf ihn an.«

»Wo ist die Garage?«, fragte der Tandler.

»Bei Hellmonsödt, also nicht so weit von hier. Und bis dahin sagen wir niemandem was.«

»Dann muss ich jetzt dringend Stef und Sali anrufen, ich hoffe, die beiden haben noch nicht allen Griechen und Albanern in Linz erzählt, dass wir hier wertvolle Möbel haben.«

»Ruf du Sali an, ich kümmere mich um Stef, auf mich wird er hören«, sagte Johanna.

»Du weißt also, dass …?«

»Stef scharf auf mich ist? Das ist wohl nicht zu übersehen.«

»Ich frag ja nur …«

Sie lachte. »Ich lass ihn noch ein bisserl zappeln, vielleicht geh ich bald einmal mit ihm aus, wer weiß.«

Der Tandler wählte Salis Nummer, während Johanna Stefanos anrief. Der ging wohl sofort ans Telefon, da der Tandler Johannas flirtendes Lachen hörte.

Erst beim zweiten Versuch nahm Sali das Gespräch an. Er gab dem Tandler sein Ehrenwort, nicht einmal Dorian vom Wert der Möbel erzählt zu haben. »Besa e shqiptarit nuk shitet pazarit«, erwiderte er empört, als der Tandler kurz bezweifelte, ob dieser Schwur auch die engsten Familienmitglieder einschloss. »Das Ehrenwort eines Albaners kann nicht im Basar verkauft werden! Wir sind nicht wie die Österreicher …«

Johanna flirtete immer noch mit Stefanos, gab dem Tandler aber das »Daumen hoch«-Zeichen. Er fuhr beruhigt ins Büro.

Dort angekommen, breitete er die Briefe aus. Alle waren an »Meine Liebe« adressiert und von »eh-scho-wissen« unterschrieben. Sechs waren datiert. Wenigstens die konnte er zeitlich ordnen. Vielleicht war es möglich, anhand der Inhalte die anderen Briefe grob zu datieren.

Als der Tandler alle zwölf Briefe sortiert und gelesen hatte, brauchte er einen Schnaps. Die Briefe erzählten anscheinend von einer Familientragödie, die nicht gut ausgegangen war. Aus den Inhalten schloss er, dass mindestens zwei involvierte Personen tot waren. Nur wer?

Im hinteren Zimmer des Büros, dem ehemaligen Schlafzimmer seiner Oma, musste noch eine Flasche Raki Kumbulle sein, ein klarer Pflaumenschnaps, den ein Onkel von Dorian herstellte und den dieser ihm aus jedem Heimaturlaub mitbrachte. So wie Theo ihn regelmäßig mit Tsipouro versorgte, doch den bewahrte der Tandler in seiner Wohnung auf. Der Raki war warm, aber das machte nichts.

Er breitete die Briefe auf dem Boden aus und las sie noch einmal:

2. Jänner 2005

Meine Liebe,

ich schreibe, weil ich besorgt bin. Seit wir Dich besucht haben und über die damaligen Sachen gesprochen haben, verhält er sich seltsam. Ich fürchte, er hat uns belauscht. Was soll ich tun?

Es belastet mich, mir tut oft der Kopf weh, und ich schlaf schlecht.

Deine eh-scho-wissen

6. Juni 2005

Meine Liebe,

ich schicke Dir sicherheitshalber alle Unterlagen. Wie ich schon im letzten Brief geschrieben habe, stierlt er in meinen Sachen. Hier kann ich sie nicht länger aufbewahren.

Die Frau Dr. Golob, meine Ärztin, bringt sie für mich zur Post. Ihr kann ich vertrauen. Leider ist sie nur noch zwei Wochen da, dann geht sie nach Graz. Sie war bei mir, weil mir oft so schwindlig ist, sie meint, es ist der Blutdruck.

Bitte pass gut auf alles auf.

Deine eh-scho-wissen

26. Dezember 2005

Meine Liebe,

jetzt ist mir tagsüber immer komisch, ich schlaf dann plötzlich ein. Er macht mir Tee, Kaffee, lässt mich nicht mehr in die Küche.

Alle Zimmer hat er abgesperrt, ich kann nur noch ins Bad und in mein Schlafzimmer.

Seinen Tee trink ich jetzt nicht mehr, nur mehr Wasser aus der Leitung im Bad. Jetzt bin ich weniger müd, und so krieg ich mit, dass er immer noch sucht. Sogar die Holzverkleidung im alten Zimmer von L. hat er von der Wand gerissen.

Kannst Du kommen?

Deine eh-scho-wissen

6. August 2006

Meine Liebe,

neulich ist er endlich einmal für einen Tag weggefahren und hat vergessen, den Schlüssel zum Glashaus mitzunehmen. Ich bin rein, und jetzt hab ich noch mehr Angst! Er züchtet Rizinus, drei Stauden sind da, fast schon zwei Meter hoch. Blauer Eisenhut, Goldregen, Tränendes Herz, Aronstab … auch Tollkirschen sind dabei, Engelstrompete. Ich hab im ganzen Glashaus keine einzige Pflanze gefunden, die nicht giftig ist.

Glaubst Du mir jetzt?

Deine eh-scho-wissen

30. August 2006

Meine Liebe,

ich habe einen Plan. Ich esse nichts mehr von ihm. Ich habe einen Vorrat Kekse im Kleiderkasten versteckt, auch Zwieback ist da. Seit zwei Monaten sperrt er mich jetzt ein. Einmal in der Woche, wenn die Frau Raddatz mich zum Spazierengehen abholt, lässt er mich für diese eine Stunde unbeobachtet raus.

Die Frau Raddatz ist ein bisserl dement; wenn ich sie irgendwo hinsetze und weggehe, dann fängt sie wie am Spieß an zu schreien. Das weiß er. Und dass ich der Frau Raddatz nichts anvertrauen kann, weil sie eh nichts versteht, das weiß er auch.

Aber so kann ich mir wenigstens beim Bäcker was zum Essen holen, die sind so nett, ich darf es dort aufschreiben lassen, Geld gibt er mir ja keins mit.

Bitte sei nicht bös, dass ich auf die Briefe jetzt »Gebühr zahlt Empfänger« draufschreiben muss, ich kann keine Briefmarken kaufen ohne Geld, auf dem Postamt kann ich keine Schulden machen.

Musst nicht antworten, ich hab noch keinen Ersatz für die Frau Dr. Golob gefunden, und wenn Du mir direkt schreibst, kommt die Post nicht an.

Deine eh-scho-wissen

14. September 2006

Meine Liebe,

wenn du diesen Brief liest, dann bin ich frei. Heut Nacht werd ich ausbrechen. Ich hab alles vorbereitet. Ich werde vom Schlafzimmer aufs Vordach vom Balkon klettern, daneben ist das Spalier vom Marillenbaum, da komm ich sicher runter.

Wir sehen uns bald, irgendwie komm ich schon zu Dir.

Deine eh-scho-wissen

Ob der Person, die diese Briefe geschrieben hatte, der Ausbruch geglückt war? Die übrigen Briefe waren undatiert, es gelang dem Tandler nicht, eine vernünftige Reihenfolge herzustellen.

Meine Liebe,

ich möchte mich bei Dir bedanken, dass Du mir am Telefon so lange zugehört hast. Es wird wahrscheinlich unser letztes Telefongespräch für lange Zeit gewesen sein, ich kann von hier nicht mehr frei sprechen. Er hat so einen Apparat eingebaut, ich glaube, damit hört er die Gespräche ab. Oder zeichnet sie auf. Halt mich nicht für verrückt, ich kenn mich mit Technik nicht aus, aber ich hab das Gefühl, dass er genau weiß, mit wem ich über was gesprochen hab. Ich schreib Dir ab jetzt Briefe. Antworte bitte nicht an meine Adresse, sondern so wie früher über die Frau Dr. Golob.

Wenn er nicht da ist, schließt er sein Zimmer ab, er hat so Sicherheitsschlösser gekauft, damit ich nicht reinkann.

Zuerst habe ich gedacht, dass mein Leben nun einfacher wird, aber das Gegenteil ist der Fall. Ich hätte damals schon auf Dich hören und mich nicht auf diesen Kuhhandel einlassen sollen.

Nun kann mir L. auch nicht mehr helfen. Er hat sich, wie immer in seinem Leben, feig davongemacht. Wobei, eine große Hilfe war er nie. Es hat sich halt nur die Last auf zwei Paar Schultern verteilt. Jetzt bin nur noch ich da.

Die Nachbarn kommen immer und wollen mir ihr Beileid ausdrücken. Ich brauche das Beileid nicht, es ist nicht schad um ihn. Aber ich hab Angst, nur kann ich das niemandem sagen. Angst, weil ich jetzt ganz allein bin, er mich kontrolliert und einsperrt. Ja, vor zwei Tagen hat er mich zum ersten Mal eingesperrt. Im Arbeitszimmer. Als ich ihn zur Rede gestellt hab, hat er gesagt, dass es das Dienstmädchen gewesen sein muss. Aber die Rosza war zu der Zeit schon gar nicht mehr im Haus.

Wo wird das Ganze noch hinführen?

Deine eh-scho-wissen

Meine Liebe,

nun geht es mir besser. Ganz vielen lieben Dank für Deinen Besuch.

Du hast ihn erlebt. Bist Du nicht auch erschrocken? Diese Augen! So kalt und so voller Hass! Ich hab mich immer bemüht, dass alles normal ist, aber der L. hat da mit seinem Verhalten nicht geholfen, im Gegenteil.

Jedenfalls hab ich mich gefreut, dass Du die zwei Wochen bei mir warst. Und: Ja, ich werde drüber nachdenken, umzuziehen. Finanziell wird es schon irgendwie gehen.

Ich umarme Dich!

Deine eh-scho-wissen

Meine Liebe,

warum kommst Du Weihnachten nicht vorbei? Neulich hat er sein Zimmer nicht abgeschlossen, als er sich im Garten mit seinen komischen Freunden getroffen hat. Ich hab mich vorsichtig hineingeschlichen. Auf dem Schreibtisch hat er so eine Art Tagebuch. Ich weiß, dass man das nicht tun soll, aber ich hab es durchgeblättert. Zum richtigen Lesen hat mir die Zeit gefehlt, ich wusste ja nicht, wann er wieder ins Haus kommt.

L. hat ihm alles erzählt. Zumindest glaube ich das, weil er die Fotos aus Griechenland im Buch hat. Und die hatte L., das weiß ich.

Er hat mir versprochen, dass er an seinem Geburtstag gehen wird. Das ist nicht mehr lang, bis dahin werde ich es aushalten!

Deine eh-scho-wissen

Meine Liebe,

ich muss Dir widersprechen. Nein, ich kann mich nicht mit ihm versöhnen. Ich hab noch einmal seine Aufzeichnungen lesen können. L. hat wohl versucht, ihm alles zu erklären, aber die beiden haben sich darüber nur noch mehr zerstritten. Das war kurz vor L.s Unfall.

Ich bin mir sicher, dass das kein Zufall war. Er ist so ein schlechter Mensch, er hat die Finger im Spiel gehabt.

L. hat versucht, ihm die Gründe darzulegen, warum wir diese Vereinbarungen geschlossen haben. Das hat dann zu L.s Unfall geführt.

Ich hätte damals alles anders machen sollen, auf meinen Stand verzichten und den Lehrer nehmen, vielleicht hätte der aus ihm einen anständigen Menschen machen können. L. jedenfalls ist es nicht gelungen. Und mir auch nicht.

Er hat gestern erfahren, dass das Haus, in dem wir wohnen, gar nicht uns gehört, sondern meinem Bruder, und dass der uns nur drin wohnen lässt, solange ich lebe. Da ist er so wütend geworden, dass er die Fensterscheiben im Erker zerschlagen hat. Die alten Butzenscheiben. Hoffentlich finde ich jemanden, der die reparieren kann.

Deine eh-scho-wissen

Meine Liebe,

ich fühle mich nicht mehr gut. Ständig ist mir schwindlig, und vor zwei Tagen bin ich sogar gestürzt.

Er bringt mich dann ins Bett, bleibt aber immer sitzen, bis ich eingeschlafen bin.

Da hab ich mich schlafend gestellt.

Ich hab das Gefühl, dass er etwas sucht. Immer klappern irgendwo Türen von Schränken, oder ich hör die alten Schubladen quietschen. Und wenn ich dann aufsteh und schau, sitzt er nur da und sieht mich spöttisch an.

Ich brauche Deine Hilfe!

Deine eh-scho-wissen

Schließlich der zweite Brief, den der Tandler schon kannte:

Meine Liebe,

er hat geglaubt, dass ich schlafe. Ich hab ihn getäuscht. Ich trink den Tee nicht mehr, den er mir jeden Abend gibt, ich leere ihn in die Blumenvasen. Er stierlt nachts in meinen Sachen, besonders in den Papieren. Gut, dass ich Dir alles geschickt hab, bei Dir sind die Sachen sicher, das weiß ich. Was soll ich nur tun?

Deine eh-scho-wissen

Wer war »L.«? Wer war die Person, die eine wahrscheinlich etwas ältere Frau eingesperrt und wohl auch versucht hatte, sie zu vergiften? Und wer war die Absenderin? Worum ging es bei den »damaligen Sachen«, die so wichtig gewesen waren, dass die Absenderin an die Empfängerin Unterlagen geschickt hatte? Wo waren diese Unterlagen? Hatte die Absenderin das Haus verlassen können? Vermutlich nicht, denn nach der Nachricht mit der Schilderung der Fluchtpläne gab es keinen weiteren Brief mehr. Den Tandler plagte die Neugier, er spürte es körperlich, dieses Ziehen im Rücken, das nur weggehen würde, wenn er diese Rätsel gelöst hätte: die Briefe, die Waffen und die Geldpäckchen.

Am wahrscheinlichsten war es, dass die frühere Schlossherrin die Adressatin der Briefe war. Die Verfasserin konnte sie nicht sein, es gab kein Spalier mit einem Marillenbaum an der Wand des Schlosses. Zwar hatte der einzige Balkon tatsächlich ein Vordach, auch das Glashaus existierte, doch das Spalier fehlte. Wegen der großen Fenster war neben dem Balkon gar kein Platz dafür, und Marillen wuchsen in der Wachau, aber eher schlecht im Linzer Stadtklima.

Ob Frau Bruckner etwas wusste? Der Tandler beschloss, sie gleich morgen nach der Zamberk-Tachov’schen Familiengeschichte zu fragen, vielleicht war da ja ein L. dabei.