SIEBEN
Am Freitag um kurz vor zwölf rief Isis den Tandler an. Er war gerade mit Büroarbeit beschäftigt. Es gab einiges zu tun, denn Johanna hatte fast das gesamte Porzellan aus dem Schloss online für einen guten Preis an einen Sammler verkauft. Im Gegensatz zum Tandler blieb sie bei Verkaufsverhandlungen hartnäckig. Auf dem Geschäftskonto befand sich zum ersten Mal nach langer Zeit ausreichend Geld, um seinen Männern einen kleinen Bonus zahlen und zusätzlich an Urlaub denken zu können, denn Zamberk-Tachov hatte die Rechnung für die Entrümpelung schon beglichen. Das Geld war nicht von ihm, sondern von »Omotenashi Luxury Hotels« überwiesen worden, über eine japanische Bank namens Tokuda, die ihren Sitz aber in Varna in Bulgarien hatte.
»Können wir uns treffen?«, fragte Isis, ohne vorher Zeit mit einer Begrüßung zu verschwenden.
»Ist was passiert?«, fragte der Tandler, da Isis angespannt klang.
»Ja und nein«, sagte sie. »Entschuldige bitte, ich bin ein Trampel. Du musst sicher arbeiten, ich –«
»Nein, nein, es geht sich schon aus. Ich brauch noch eine halbe Stunde«, beschwichtigte er sie. »Willst du spazieren gehen? Essen? Oder soll ich in die Wohnung kommen?«
»Komm in die Wohnung«, entschied Isis. »Der ›Spitzel‹, wie du deine Nachbarin nennst, schaut schon ganz komisch und hat gefragt, ob du da bist.«
Frau Wewerka, natürlich. Mit den Nachbarn im unteren Stockwerk, Frau Dr. Mühringer und Frau Schoißengeier, gab es nie Probleme. Im Gegenteil, Frau Dr. Mühringer kümmerte sich um seine Post, wenn er einmal ein paar Tage nicht da war, und zu Weihnachten versorgte sie ihn mit selbst gebackenen Keksen.
Der Tandler rumorte laut im Stiegenhaus, als er eine Stunde später vor seiner Wohnungstür stand. Der gewünschte Effekt stellte sich ein: Frau Wewerka versuchte, ihre Tür unauffällig einen Spaltbreit zu öffnen, der Tandler rief: »Wie geht es Ihnen, Frau Wewerka, immer noch gut beisammen?«, woraufhin der Spitzel die Tür sofort wieder zuzog. Lachend betrat er seine Wohnung.
Das Lachen verging ihm, als er Isis im Wohnzimmer auf dem Sofa sitzen sah. Anscheinend hatte sie schlecht geschlafen, dunkle Ringe zeichneten sich unter ihren Augen ab, sie war blass, und ihre Haare waren zerrupft. »Was ist denn passiert?«, fragte der Tandler und setzte sich zu ihr.
»Ich war gestern beim Notar, dem Notar, den Tante Adi und der Giftzwerg vor zehn Jahren in Anspruch genommen haben, als sie ihm das Schloss überschrieben hat. Der hat mir lang und breit die Begräbniswünsche von Tante Adi offengelegt. Da war nichts Neues dabei, das waren alles die Sachen, die sie schon vor Jahren mit ihm besprochen hat, sie wollte ja damals, dass ich als Zeugin dabei bin. Ich hab ihn gefragt, was sie denn dann letzte Woche geändert hat. Da schaut mich der Herr Dr. Viehhofer nur verständnislos an und sagt: ›Die Frau Zamberk hat seit Jahren nichts mehr geändert.‹ Ich frag ihn, wann er Tante Adi zum letzten Mal gesehen hat, und er sagt, dass das vor sechs oder sieben Jahren gewesen sein muss, als er sie im Schloss besucht hat, weil sich irgendwelche Vorschriften wegen der Testamentshinterlegung geändert hatten und sie was unterschreiben musste. Jetzt will er wissen, wie ich draufkomme, dass sie letzte Woche was geändert haben könnte.«
»Es war also nicht der Familiennotar, der letzte Woche bei ihr war?«
Isis schüttelte den Kopf. »Nein. Laut Pflegerinnen war der Herr Schöberl bei ihr, der Notar, der längst in Rente ist. Aber ich hab das gegoogelt, der ist vor zwei Jahren gestorben, der kann es nicht gewesen sein. Und der Herr Dr. Viehhofer, der war auf einmal so komisch. Da war nicht nur ein misstrauischer Unterton in seiner Stimme, er hat mir auch gedroht. ›Sie müssen mir schon alles erzählen, sonst kann es sein, dass Sie bald unter Mordverdacht stehen‹, hat er gesagt. Da hab ich mich gewundert, wieso der weiß, dass Tante Adi umgebracht worden ist, weil die Polizei mir eingeschärft hat, dass ich mit niemandem drüber reden soll.«
»Wie gut kennst du den Herrn Dr. Viehhofer?«, fragte er.
»Das ist es ja! Nicht Tante Adi hat den ausgesucht damals bei der Überschreibung, sondern der Mariano. Tante Adi wollte einen anderen Notar, hat dann aber nachgegeben. Der Dr. Viehhofer ist immer nur mit dem Giftzwerg gemeinsam gekommen, die beiden sind anscheinend gut befreundet. Deshalb bin ich vorsichtig geworden. Da stimmt doch irgendwas nicht. Oder bilde ich mir das nur ein?«
»Ich glaube, dass es gut war, dass du vorsichtig gewesen bist. Was hast du geantwortet auf seine Frage, warum du davon ausgehst, dass sie was ändern wollte?«, wollte er wissen.
»Ich hab gesagt, dass ich ganz durcheinander bin wegen ihrem Tod und sie mir letzte Woche am Telefon gesagt hat, dass sie möchte, dass an ihrer Sterbeversicherung was geändert wird, und dass ich deshalb davon ausgegangen bin, dass sie sich bei ihm meldet.«
»Hat er das geglaubt?«
»Ich denk schon. Zumindest war der misstrauische Ton weg, und er hat mich belehrt, dass er für Versicherungsänderungen nicht zuständig sei. Ich hab mich dann dumm gestellt und mich für die Aufklärung bedankt. Sebo, wer hat letzte Woche Tante Adi besucht?«
Der Tandler dachte nach. Versuchte, sich zu erinnern, was er in den Akten, die er zum Vernichten gebracht hatte, gelesen hatte. Da waren alte Unterlagen von einem Notarbüro und auch von einem Rechtsanwalt dabei gewesen, aber inhaltlich hatte es sich um Routinevorgänge gehandelt. Viehhofer hatte der nicht geheißen, da war er sich sicher. Er erinnerte sich eigentlich nur, weil ihm das Logo im Briefkopf aufgefallen war: Das Symbol für die Juristerei, die Waage der Justitia, war als Balkenwaage darauf abgebildet gewesen, drei Buchstaben, »I u I«, bildeten die Säule, die den waagerechten Balken mit den beiden Schalen daran trug.
»Hast du einen Laptop? Mir ist was eingefallen, vielleicht finde ich die Kanzlei, mit der Frau Zamberk früher zusammengearbeitet hat, bevor sie alles dem Neffen überschrieben hat.«
Isis stand auf und holte ihren Laptop aus dem Schlafzimmer.
»Wir brauchen eine Kanzlei, die auf zwei Inhaber eingetragen ist, beide Namen fangen mit I an.«
»Wie kommst du darauf?«
Er überlegte, ob er Isis die Wahrheit sagen sollte. Dann würde sie allerdings wissen, dass er mit Dokumenten von Kunden nicht so vertraulich umging, wie er auf seiner Website versprach. Andererseits wollte aber auch Isis wissen, was Frau Zamberk mit einem Notar hatte klären wollen, vielleicht interessierte sie sein Regelverstoß gar nicht. Er entschied sich für die Wahrheit, sagte, dass er Akten immer kurz durchblättere, um sicherzustellen, dass nicht versehentlich etwas vernichtet wurde, was hätte aufgehoben werden müssen, und dass er dabei auf dieses auffällig gestaltete Logo gestoßen sei.
»Du hättest Detektiv und nicht Entrümpler werden sollen!«, rief Isis und holte einen Notizblock. »Auch bei Internetrecherchen ist es gut, wenn man was zum Schreiben parat hat«, erklärte sie und setzte sich erwartungsvoll neben ihn.
Doch in Linz gab es keine Kanzlei mit zwei Inhabern, deren Namen mit I begannen. Enttäuscht wollte der Tandler schon aufgeben, als Isis vorschlug: »Probier eine österreichweite Suche. Man kann ja auch mit Anwälten aus anderen Städten zusammenarbeiten. Vielleicht hat sie in Linz niemandem vertraut.«
Nach wenigen Klicks wurden sie fündig. »Kanzlei Irran und Inkofer in Innsbruck. Und das Logo passt auch«, freute sich der Tandler. »Sagt dir das was?«
Isis schüttelte den Kopf, bestand aber darauf, dass er auf die Seite »Geschichte unserer Kanzlei« klickte. Interessiert las sie die umfangreiche Gründungsgeschichte. »Der Kanzleigründer Richard Irran ist im selben Jahr geboren wie Tante Adi«, sagte sie und markierte die entsprechende Stelle auf der Webseite. »Und er ist in Linz aufgewachsen. Sebo, ich glaube, das ist ein Treffer.«
»Aber der Herr Irran und der andere Gründer sind schon tot«, warf er ein.
Isis zog den Laptop zu sich und las weiter. »Wir haben Glück, dass die Töchter der beiden den Firmennamen behalten haben«, sagte sie. »Sie haben Ende der achtziger Jahre die Kanzlei übernommen und heißen jetzt wegen Heirat statt Irran Weberl und statt Inkofer Raspotnig.«
»Was machen wir jetzt?«, fragte der Tandler.
Isis überlegte. »Ich hab eine Idee. Ich ruf da an und sage, dass ich mich wegen der Angelegenheit mit der Frau Zamberk melde. Der Angelegenheit, wegen der jemand aus der Kanzlei Frau Zamberk vor Kurzem besucht hat. Dann erklären die mich entweder für verrückt, weil niemand eine Frau Zamberk kennt, oder ich krieg einen Termin.«
»An dir ist aber auch eine Miss Marple verloren gegangen«, erwiderte der Tandler anerkennend.
Isis griff zu ihrem Handy.
»Freitagnachmittag um drei Uhr? Da arbeitet doch kein Anwalt in Österreich«, zweifelte der Tandler, doch Isis hatte schon gewählt. Es dauerte nicht lange, und jemand nahm das Gespräch an.
Isis stand auf und ging zum Telefonieren ins Schlafzimmer. Wenig später kehrte sie zufrieden lächelnd zurück. »Montagnachmittag um vierzehn Uhr möchten Frau Weberl und Frau Raspotnig mit mir sprechen. Sie haben sich gefreut, dass ich mich gemeldet habe, weil sie eh schon versucht haben, mich zu erreichen, aber die Telefonnummer im Schloss ist anscheinend schon abgemeldet. Sie haben mich einbestellt, mehr erfahr ich dann am Montag. Sebo, kommst du mit nach Innsbruck?«
»So einfach war das? Wir haben auf Anhieb die richtige Kanzlei gefunden, und die wollen auch gleich mit dir sprechen?«
»Du schaust wie mein Bruder, als er zum ersten Mal in seinem Leben ein Rubbellos gekauft hat, ein einziges wohlgemerkt, und damals zehntausend Schilling gewonnen hat.« Isis lachte.
»Na ja, das ist schon irgendwie vergleichbar.«
»Komm, Sebo, freu dich. Kommst du jetzt mit? Entschuldige, dass ich dich da so mit reinzieh, wahrscheinlich musst du arbeiten, ich vergess das immer, du hast eine Firma –«
»Ich kann mich freimachen!«, sagte der Tandler schnell.
»Du hast mich vorhin Miss Marple genannt. Miss Marple möchte wissen, was dir passiert ist. Ich hab das Pflaster auf deinem Kopf gesehen und die kahl rasierte Stelle.«
»Regalbrett«, sagte der Tandler spontan und fühlte sich bei der Lüge ganz schlecht. Seit der Bub ihm das Loch im Zaun gezeigt hatte, war er in Bezug auf Isis wieder verunsichert und zweifelte, ob er sie wirklich in seine »Ermittlungen«, wie er seine Neugierdetaten manchmal nannte, einweihen konnte.
»Regalbrett«, sagte Isis zweifelnd, »am Hinterkopf?«
»Ja, weißt du, wenn man sich beim Ausräumen von einer Kiste so bückt und dann hochkommt …«
»Du bist so hochgekommen, dass dich das Brett dann quasi hinterm Ohr getroffen hat?« Isis bückte sich und simulierte die Verrenkungen, die nötig gewesen wären, damit ein Regalbrett ihn an der Stelle seines Kopfes hätte treffen können, wo sich die Wunde befand. »Hast du irgendwelche artistischen Fähigkeiten, die ich noch nicht kenne?«
Der Tandler zögerte. Es gab so viel zu klären. Ihm würde gar nichts anderes übrig bleiben, als Isis einzuweihen. »Weißt du was? Wir fahren jetzt nach Riedl, und ich zeig dir den Stadl. Außerdem muss ich eh kurz was Geschäftliches erledigen. Und dann gehen wir spazieren, ich kenn einen schönen Weg zum Kopfwehstein, dauert ungefähr eine Stunde, bis wir dort sind. Dann marschieren wir über Kirchschlag zurück, wir könnten beim Maurerwirt einkehren. Oder andersrum, zuerst einkehren, wie du willst. Auf dem Weg erzähl ich dir alles.« Beim Gehen zu denken und zu sprechen hatte ihm schon oft geholfen.
Johanna zeigte Isis den Stadl und das Lager, während der Tandler sich einen Überblick über An- und Verkäufe verschaffte.
»Ich freu mich wirklich, dass du die Sachen aus den Hausratsauflösungen weiterverkaufst«, sagte Isis zum Tandler. »Manche Firmen schätzen nur echte Antiquitäten, bei dir erhält alles eine zweite Chance. Es versetzt mir immer einen Stich, wenn ich sehe, dass Menschen Sachen, die noch gut sind, in eine Sperrmüllsammlung geben.«
»Bei manchen Gegenständen ist es eher schon die dritte oder vierte Chance«, warf Johanna ein, »aber Sebastian wollte wahrscheinlich seinem Familiennamen alle Ehre machen.«
»Auf jeden Fall weiß ich, wo ich meinen Hausrat hole, wenn ich eine Wohnung gefunden habe. Ich werde ihn hier kaufen.« Isis führte Johanna zu einer Stehlampe aus den fünfziger Jahren mit drei Lampenschirmen aus gefaltetem Satin in Pastelltönen. Der Satinstoff in Lindgrün, Altrosa und Hellgelb wies keine Risse auf, lediglich die Borte löste sich an zwei Stellen. »Den will ich haben, können Sie mir den zur Seite legen?«
Johanna nickte und entfernte die Lampe aus dem Verkaufsraum.
»Da plan ich schon meine Einrichtung und hab noch nicht einmal die Wohnung dazu. Noch so eine Baustelle. Ich weiß gar nicht, wann ich mich darum kümmern soll.«
»Komm, wir machen uns auf den Weg, bevor du auf trübe Gedanken kommst«, meinte der Tandler und führte Isis nach draußen.
»Lass uns zuerst was essen«, entschied sie.
»Gut. Wir gehen zum Maurer, dann über den Wanderweg zum Drillingsahorn und weiter zum Kopfwehstein.«
»Was immer du vorschlägst, ich war noch nie hier und kenne mich nicht aus.«
Wie fang ich nur an, dachte der Tandler, und was sag ich ihr eigentlich?
Nachdem sie einige Minuten schweigend auf einem Feldweg nebeneinanderher marschiert waren, forderte Isis ihn auf zu erzählen.
»Ich bin ein neugieriger Mensch, und ich mag Geschichten«, begann er und erklärte, dass er etwas weiter ausholen werde, damit Isis nicht einen falschen Eindruck von ihm bekomme. »Als Kind haben mich verschlossene Schubladen oder Türen verrückt gemacht. Ich hab alles versucht, um sie aufzukriegen, weil ich immer geglaubt hab, dass dort, wo was abgeschlossen ist, ein Schatz verborgen sein muss – und wenn schon kein Schatz, dann irgendetwas Spannendes. Weil sonst würde man das doch nicht abschließen. Andere Kinder haben Angst vor Kellern oder Dachböden gehabt, ich bin in jedem Haus, in das ich hineinkonnte, entweder bis ganz nach oben oder in die Katakomben gelaufen und dort in die hintersten Winkel gekrochen.«
»Hast du denn einmal einen Schatz gefunden?«
»Nicht nur einen!« Der Tandler lachte. »Auf dem Dachboden vom Opa hab ich seinen alten Steinbaukasten gefunden und eine Dampfmaschine, mit der er als Kind gespielt hat, die hab ich repariert. Ich hab sie aber nur einmal benutzen dürfen, weil man die mit Brennspiritus und offener Flamme betreiben musste, und meine Eltern waren ängstlich. Bei Freunden aus der Volksschule waren ganz viele Plastik-Indianerfiguren im Keller. Und ein Onkel hat eine Schneiderwerkstatt gehabt. Ich hab als Bub mit zehn Jahren eine Sammlung von ungefähr fünfzig Spulen schwarzem Schneidergarn besessen, das hat geglänzt, weil es gefettet war, und war so stabil, das hast du nicht mit der Hand reißen können. Das hab ich tatsächlich gegen Schokolade und andere Sachen getauscht. Ich hab auch zehn Stopfeier gehabt, du glaubst nicht –«
»Sebo, nicht ganz so weit ausholen«, unterbrach ihn Isis.
»Entschuldige. Also: Ich bin notorisch neugierig, und ich mag Geschichten. Möbel, Geschirr, Wäsche – alles, was alt ist, erzählt die Geschichte des Menschen, der es besitzt oder besessen hat. Die Stehlampe zum Beispiel, die du dir ausgesucht hast, die ist aus der Wohnung eines früheren Gymnasialprofessors, der Latein und Altgriechisch unterrichtet hat und mit sechsundneunzig Jahren ohne Erben verstorben ist. In seiner Wohnung waren Rumbakugeln, Bongos und Tanzkostüme, damit hättest du den Film ›Der große Gatsby‹ ausstatten können. Er war nie verheiratet, hat immer in dieser Wohnung gelebt, zuerst mit seiner Mutter, dann die letzten fünfunddreißig Jahre allein. Das Zimmer der Mutter war eine Art Schrein, er hat über drei Jahrzehnte nichts daraus entfernt, als ob die Mutter grad zum Frühstücken aufgestanden wär, so hat es ausgeschaut –«
»Sebo!«
»Also: Alles, was ich dir jetzt über meinen Einsatz im Fall Zamberk-Tachov erzähle, hat damit zu tun, dass ich neugierig bin. Und deswegen manchmal Sachen mache, die … na ja, die man als Entrümpler eigentlich nicht macht. Nicht machen soll. Darf.«
Sie waren mittlerweile in der Badhausstraße angekommen, bis zum Gasthof waren es noch etwa zwanzig Minuten, das sollte für seine Beichte reichen.
»Alles hat damit begonnen, dass ich in einer alten Couch Briefe gefunden hab. Die Briefe haben keinen Absender und sind an eine namenlose Frau gerichtet.« Er schilderte ausführlich deren Inhalt.
»Deshalb hast du mich also nach dem Glashaus gefragt!«, rief Isis. »Ich hab dich damals für verrückt gehalten, das Ganze aber wegen meiner frustrierenden Wohnungssuche wieder vergessen.«
»Ich muss noch mehr beichten«, sagte er und berichtete von den Akten über die Arisierung und seinem Besuch im Archiv. Das Geld und die Waffen wollte er nicht ansprechen.
»Tante Adis Vater hat sich in der Nazizeit schamlos bereichert?« Isis war fassungslos.
»Ja, aber 1975 hat jemand die finanziellen Forderungen der Nachkommen der Familie Glaser beglichen. Da kommen ja nur mehr die in Frage, die zu der Zeit noch gelebt haben und alt genug waren, um solche Geschäfte zu tätigen.«
Isis dachte nach. »Das war das Jahr, in dem Tante Adi das Schloss übernommen hat, weil die Großeltern verstorben sind. Entweder haben die Großeltern das noch in die Wege geleitet – als späte Reue vielleicht –, oder es war Tante Adi.«
»Oder die Eltern vom Giftzwerg«, warf der Tandler ein.
»Das kann ich mir nicht vorstellen. Lovrenc scheint ähnlich geldgierig gewesen zu sein wie sein Sohn. Zumindest hat Tante Adi ihn so beschrieben.«
»Aber seine Frau muss anders gewesen sein. Die Nachbarn haben erzählt, dass sie und Adriana gut befreundet waren.«
»Du warst bei den Stupsers!«, rief Isis und lachte.
Er nickte.
»Und wer hat dir eins über den Schädel gezogen? Frau Stupser, weil du ums Grundstück geschlichen bist und sie dich erwischt hat?«
»Nein, Frau Stupser hat mich höchstens mit Apfelstrudel und anderen Kleinigkeiten überfüttert. Vor zwei Tagen ist jemand in mein Büro eingebrochen und hat mich bei der Flucht niedergeschlagen. Und in der Nacht von Samstag auf Sonntag hat wohl jemand den Stadl aufgebrochen.« Der Tandler schilderte die Ereignisse.
»Am Wochenende wird bei dir im Stadl eingebrochen. Am Dienstag im Schloss. Am Mittwoch bei dir im Büro. Da sucht doch jemand was!«
Er nickte. »Da bin ich mir jetzt auch sicher. Vor einer Woche hätte ich es noch bezweifelt.«
Sie waren mittlerweile im Wirtshaus angekommen und hatten im Gastgarten Platz genommen. Außer ihnen war nur eine Familie mit zwei kleinen Kindern da, sie würden sich in Ruhe weiter unterhalten können. Isis bestellte eine Essigwurst und ein Bier, der Tandler entschied sich für Marillenkuchen und Kaffee. »Ich brauch Zucker für meine Nerven«, meinte er.
»Ich brauch ein Bier, auch für meine Nerven!«
Isis bat den Kellner um ein Blatt Papier und einen Stift. »Zeichnungen helfen mir, besser zu verstehen«, sagte sie und fertigte einen Zeitstrahl der Ereignisse an. »Letzte Woche war ein Mitarbeiter der früher einmal beauftragten Anwaltskanzlei bei meiner Tante im Pflegeheim. Denn auch wenn der Name nicht passt, den die mir genannt haben, die Person, die meine Tante besucht hat, ist Notar, die Pförtnerin hat sich den Ausweis von der Kammer zeigen lassen. Ich hab gefragt, ob denn irgendwelche Unterlagen gefunden worden sind. Es gibt aber keine Papiere. Montag früh wird Tante Adi umgebracht. Dass es Mord war, hat man nur entdeckt, weil der Mörder so deppert war, dass er ihr die Rippen zerquetscht hat, und sie sich im Reflex gewehrt hat. Am Wochenende davor wird bei dir im Stadl eingebrochen, aber es wird nichts gestohlen. Am Dienstag wird ins Schloss eingebrochen und mein Zimmer durchwühlt, aber es fehlt nichts. Am Mittwoch bricht jemand bei dir im Büro ein. Und es fehlt wieder nichts?«
Er nickte.
Isis seufzte. »Das ist nicht logisch. Auch nicht chrono-logisch: Wenn jemand etwas sucht, das Tante Adi letzte Woche mit dem Notar besprochen hat, dann kann das nicht in irgendwelchen Möbeln oder Schatullen versteckt und bei dir im Stadl sein. Du hast den Hausrat ja schon vor zwei Wochen aufgelöst und die Sachen abtransportiert.«
»Vielleicht hängen die Dinge anders zusammen«, meinte der Tandler. »Es wird etwas gesucht, das schon lange in Frau Zamberks Besitz war, und der Notarbesuch bei deiner Tante hat damit gar nichts zu tun. Deshalb sucht – nennen wir ihn einfach Mister X –, deswegen sucht Mister X im Hausrat vom Schloss danach.«
Isis dachte eine Weile nach. »Das ergibt ein klein wenig mehr Sinn. Wer könnte Mister X sein? Der Giftzwerg hat doch alles. Die Familie Glaser ist entschädigt worden, deren Nachfahren schließe ich deshalb aus. Das hätte dir deine Bekannte sonst sicherlich gesagt.«
»In den Briefen ist auch immer von einem ›Er‹ die Rede, der der Briefschreiberin Angst gemacht hat. Vielleicht ist das unser Mister X«, gab der Tandler zu bedenken.
»Aber die Briefe sind auch schon über zehn Jahre alt. Das kann nicht mit dem Notarbesuch und dem Mord zusammenhängen. Sie wäre doch eh innerhalb der nächsten Wochen gestorben. Warum bringt Mister X sie jetzt um?«
Der Gastgarten füllte sich mit Spaziergängern. »Lass uns weitergehen, hier können wir nicht mehr über Mord, Einbruch und Mister X reden, ohne dass die Gefahr besteht, dass jemand zuhört«, schlug er vor.
Sie bezahlten und brachen auf. Er entschied, direkt über den Buchenweg durch den Wald zum Kopfwehstein zu gehen und den Drillingsahorn auf dem Rückweg zu besichtigen.
»Was hat es mit dem Kopfwehstein eigentlich auf sich?«, fragte Isis.
»Das ist ein Stein mit einem runden Loch, ein Schalenstein. Der Sage nach hat sich der heilige Wolfgang da zum Schlafen hingelegt, und sein Kopf hat diesen Abdruck hinterlassen.«
Isis lachte schallend. »Dann muss der heilige Wolfgang ein Mühlviertler Granitschädel gewesen sein, wenn sein Kopf in einem Stein einen Abdruck hinterlässt!«
Auch der Tandler musste lachen. Man nannte die Mühlviertler wegen ihrer angeblichen Sturheit und des die Landschaft prägenden Steins oft Granitschädel.
»Was sind Schalensteine?«, wollte Isis wissen.
»Steine, Felsbrocken mit schüsselförmigen Einbuchtungen. Im Mühlviertel wurden ganz besonders viele davon gefunden und bei einigen in der Nähe Spuren von alten Opferungen. Da sind natürlich Sagen und Gschichteln dazu erfunden worden, aber man weiß bei manchen gar nicht, ob die Löcher von der Natur oder von Menschen gemacht worden sind. Beim Kopfwehstein war es halt der schlafende heilige Wolfgang, bei anderen Steinen sind es blutige Rituale oder gar Menschenopfer. Der Stein soll bei Schmerzen helfen, du musst nur deinen Kopf in das Loch legen.«
»Vielleicht brauchen wir das ja gleich, wenn wir uns weiter den Kopf zerbrechen.«
»Ich hab eine Idee, was Mister X gesucht haben könnte. Versprich mir aber bitte, dass du mir dafür nicht böse sein wirst«, sagte der Tandler nach einer Weile.
»Sebo, so was kann man nicht versprechen! Wenn ich nicht weiß, was du mir erzählen wirst, kann ich doch auch nicht wissen, ob mich das wütend oder traurig oder fröhlich machen wird.«
Da hatte Isis zweifellos recht. Auch dem Tandler kam es immer seltsam vor, wenn Menschen emotionale Reaktionen quasi »vorbestellen« wollten.
»Ich hab im Deckel einer Zuckerdose aus dem Hausrat von Frau Zamberk einen Schließfachschlüssel gefunden.«
Isis schien das nicht aus der Fassung zu bringen. »So was kann doch passieren, wenn man einen Hausrat auflöst, oder nicht?«
»Dass man so was findet, schon …«
»Und was ist daran jetzt nicht normal?«
»Ich hab versucht herauszufinden, bei welcher Bank das Schließfach ist und wem es gehört«
Auch das schien Isis nicht zu irritieren. »Was hast du erfahren?«, fragte sie.
»Das Schließfach gehörte Adriana Zamberk. Deine Mutter hat eine Vollmacht dafür.«
Isis blieb stehen. »Seit wann weißt du das?«
»Seit gestern. Ich wollte es dir eigentlich gleich sagen, aber du warst gestern so aufgebracht, da dachte ich …«, log er.
Isis setzte sich mitten auf dem Waldweg, auf dem sie gerade unterwegs waren, hin. Ihr Gesicht war kreidebleich. Besorgt fühlte der Tandler ihren Puls, sie sah aus, als würde sie gleich ohnmächtig werden. Er erinnerte sich an seinen letzten Erste-Hilfe-Auffrischungskurs. Stabile Seitenlage? Füße hochlegen? Was sollte er tun?
»Geht gleich vorbei«, flüsterte Isis und atmete mehrmals tief in den Bauch. Ihr Puls beruhigte sich. Der Tandler setzte sich zu ihr auf den Boden.
»Magst du mir sagen, was dich gerade so aus der Fassung gebracht hat?«, fragte er vorsichtig.
»Ich hab dir, glaube ich, erzählt, dass meine Mutter und Adriana … ich nenne es einmal ›weltanschaulich divers‹ eingestellt waren. Hab ich?«
Er nickte bestätigend.
»Das ist nur … leider nicht ganz vorbei.«
»Was meinst du damit?« Der Tandler konnte sich schlecht vorstellen, dass zwei ältere Damen mit über siebzig Jahren weiterhin mit Kommunen oder Ashrams verbunden waren.
»Tante Adi und meine Mutter haben linke Splittergruppen unterstützt.« Isis begann zu weinen. »Ein Schließfach, für das meine Mutter eine Vollmacht hat, das hat bestimmt damit zu tun. Ich will gar nicht dran denken, was die beiden wieder Dummes gemacht haben!« Sie knabberte nervös an einer Haarsträhne.
Die Waffen, das Geld … vielleicht gehörte das gar nicht den Bulgaren oder Zamberk-Tachov. »Ich hab in der Garage Geld und Waffen gesehen«, sagte der Tandler leise.
Isis hob den Kopf.
»Ich hab gedacht, die gehören dem Zamberk-Tachov und seinen Freunden aus Bulgarien. Weil sie ja auch weg waren an dem Tag, an dem sie die Autos abtransportiert haben.«
»Ich hab damals, bevor die Autos weggeschafft worden sind, die ganze Nacht nicht geschlafen«, Isis klang erschöpft, »der Giftzwerg hat damit nichts zu tun. Die Lieferungen sind nie über den Margarethenweg gebracht oder abgeholt worden, immer über den Kalvarienberg – also die Kirche Sankt Margarethen – oder über das Gelände der Brückenbaufirma unten an der Donaulände. Von beiden Orten kommst du aufs Schlossgelände, dort sind keinerlei Kameras und auch kein gesicherter Zaun, weil es sehr unwegsam, steil und zugewuchert ist. Und sie kamen immer in einer Neumondnacht oder bei schlechtem Wetter.«
»Moment. Das war nicht das einzige Mal, dass …?«
Isis blickte ihm direkt in die Augen. »Du kannst mich jetzt anzeigen. Ich bin Mitwisserin von mehreren Straftaten meiner Tante und meiner Mutter. Geld und Waffen haben mit den beiden zu tun.«
»Ich werd dich ganz bestimmt nicht anzeigen«, beteuerte er und hoffte, dass alles, was er weiter erfahren würde, nicht so schlimm wäre und er sein Wort halten könnte.
»Das Geld, das geht in Länder, in denen Menschenrechtsaktivisten verfolgt werden und NGOs es schwer haben. Der Widerstand gegen Regierungen mit Diktatorenphantasien wird natürlich auch vom Westen mit Spendengeldern und offiziellen Mitteln unterstützt, aber das reicht alles nicht. Es gibt ein paar Organisationen vor Ort, die im Untergrund agieren und eine gute Arbeit machen. Die kriegen kein Geld von unserer Regierung oder der EU, die sind darauf angewiesen, dass Geld über andere Kanäle zu ihnen fließt. Alles, was über elektronischen Transfer kommt, kann nachverfolgt werden. Bargeld ist in solchen Ländern immer noch besser. Von Linz aus wird das Geld über den Landweg weiterverteilt, und wo das nicht möglich ist, wird es eben in anderen Waren versteckt und per Schiff oder Flugzeug transportiert. Tante Adi hat die Garage zur Verfügung gestellt, damit das Geld über einen Zeitraum von mehreren Monaten gesammelt werden konnte. Das geht schon seit über dreißig Jahren so, genauer gesagt, seit der Eiserne Vorhang weg ist.«
Der Tandler war sprachlos.
»Weißt du, das war alles ohne Risiko. Meine Mutter hat die Kontakte hergestellt, Tante Adi einfach die Garage nachts nicht abgeschlossen, wenn sie gewusst hat, dass eine Lieferung kommt. Ein Spaziergänger mit Rucksack wandert auf den Kalvarienberg, wartet oben, bis es dunkel wird. Er geht dann hinten den steilen Berg hinunter und gelangt direkt zum Grundstück. Der Zaun dort ist so zugewachsen, da kann man mit Hilfe zweier Bäume, die links und rechts stehen, drüberklettern. Denselben Punkt erreicht man über das Gelände der Baufirma, die ist meistens unbewacht, da ist nicht viel los, da fällt ein Auto, das nachts dort geparkt ist, nicht weiter auf. Man landet oben hinterm Glashaus, wenn man auf die Bäume klettert.«
»Aber der Zamberk-Tachov –«
»Der Giftzwerg hat nichts davon gewusst. Die Garage war der sicherste Ort, da hat er nie rumgeschnüffelt, weil den die Oldtimer überhaupt nicht interessiert haben. Der fährt nichts unter dreihundert PS, und laut und protzig aufgemotzt muss es sein. Die Oldtimer waren für ihn eine reine Kapitalanlage. Dass Tante Adi die verkaufen könnte, ohne dass er Geld kriegen würde, das war seine einzige Angst. Also hat Adi ihm versprochen, die Autos für ihn aufzuheben, bis er alles übernimmt. Die Sammlung hat noch ihr Großvater aufgebaut.«
»Der ist nie in die Garage gegangen?«
»Doch, wenn wir sie demonstrativ aufgemacht haben, nachdem das Geld abgeholt worden war. Er hat sich dann ein- oder zweimal einen von seinen lächerlichen Designeranzügerln schmutzig gemacht – natürlich hab ich dafür gesorgt, dass überall Schmieröl oder anderer Dreck war – und sogar gesagt, dass wir gefälligst abschließen sollen, der Gestank nach Öl und altem Auto würde seine Nase beleidigen.«
»Aber als ich das erste Mal im Schloss war, da waren die Garagen offen.«
»Ja, weil diesmal alles, aber auch alles anders war. Tante Adi hat, als sie noch klar bei Verstand war, meine Mutter gebeten, endlich damit aufzuhören. Wir haben uns dann auf eine letzte Lieferung geeinigt, weil meiner Mutter ja auch klar war, dass sie das Schloss nicht mehr nutzen kann, wenn ich ausgezogen bin. Doch das war eigentlich erst für den Dezember geplant. Und dann ist alles irgendwie schneller gegangen, Tante Adi hat körperlich stark abgebaut, der Giftzwerg drauf bestanden, dass sie ins Pflegeheim geht … da war erst die Hälfte der Geldlieferung da. Ja, und dann geh ich eines Tages in der Früh in die Garage und seh, dass ein weiterer Schrank genutzt wird und dass da Waffen drin sind. Das war am 1. Juni, vor etwas mehr als drei Wochen.«
»Was hast du gemacht?«
»Tante Adi war nicht ansprechbar. Ich hab sie besucht, aber ich glaube, dass auch sie nichts davon gewusst hat. Sie war ja geistig an manchen Tagen besser, an anderen schlechter beisammen. Selbst wenn sie es einmal gewusst haben sollte … Jedenfalls hab ich meine Mutter angerufen. Die hat mir irgendwas von plötzlicher Krisensituation und Ausnahme erzählt und dass ich mich nicht so anstellen solle, es werde gleich in der nächsten Nacht jemand kommen, das sei alles noch mit Adi abgesprochen. Mit einer sterbenskranken alten Frau was absprechen! Meine Mutter hat nicht gewusst, dass der Giftzwerg mit den Investoren schon dabei war, alles auszuräumen. Woher auch? Jetzt hat es auf einmal pressiert. Aber wenn du denkst, dass solche Untergrundaktivisten schnell und spontan handeln, hast du dich getäuscht. Jeden Tag hab ich sie angerufen, jeden Tag hat sie erzählt, dass in der nächsten Nacht alles abgeholt werden würde. Bis ich ihr gesagt hab, dass der Zamberk-Tachov die Autos nach Bulgarien bringen und die Garage freiräumen lässt, ist nichts passiert. Ich hab offen gestanden damit gerechnet, dass ich am Autoabholtag die Garage aufmache und der Zamberk-Tachov das Geld und die Waffen dort vorfindet.«
»Wahrscheinlich hätten die das auch gleich mitgenommen. Entschuldige bitte, das war ein müder Witz.«
Isis lachte trotzdem.
»Und jetzt?«, fragte der Tandler.
»Jetzt gehen wir die paar Meter weiter zum Kopfwehstein, legen beide unsere Köpfe drauf und hoffen, dass es hilft. Und dann gehen wir zurück nach Riedl«, sagte Isis und stand auf. »Wahrscheinlich sind in dem Schließfach irgendwelche Sachen von den Aktivisten, ich will das gar nicht wissen.«
»Ich schon, weil es auch etwas ganz anderes sein könnte«, meinte der Tandler.
»Und was sollte das sein?« Der Gedanke, ihrer Mutter vom Schließfachschlüssel zu erzählen, schien Isis nicht zu gefallen.
»Es passt für mich nicht zu den anderen Vorfällen, den Einbrüchen zum Beispiel.«
»Natürlich passt das zusammen! Du hast dein Büro in der Schmiedegasse, und dort um die Ecke ist auch das Büro von den autonomen Gruppen.«
»Und die haben auch Frau Zamberk umbringen lassen? Und schalten die Alarmanlage aus und durchwühlen dein Zimmer?«
Isis blieb stehen. »Stimmt. Der Einbruch im Schloss, das können die nicht gewesen sein. Wie hätten sie an die Codes für die Anlage kommen sollen?«
»Und der Mord an Adriana Zamberk«, wiederholte der Tandler. »Das passt nicht zusammen. Du kannst nicht sicher sein, dass das Schließfach zum politischen Leben deiner Tante gehört.«
Sie gelangten am Kopfwehstein an. Etwas ratlos blickte Isis auf den Stein, der leicht erhöht lag und vor dem jemand einen Holzrost abgestellt hatte, damit man sich hinlegen und den Kopf in der Schale platzieren konnte. »Hast du schon …?«
»Ja, hab ich, und der Kopf ist noch dran«, sagte er. »Bequem ist es nicht, aber geschadet hat es auch nicht.«
Isis streckte sich auf dem Rost aus und legte ihren Kopf in die deutlich sichtbare Einbuchtung im Stein.
»Wo ist eigentlich der Schlüssel?«, fragte sie unvermittelt, als sie wieder aufstand.
»An einem sicheren Ort«, erwiderte der Tandler, obwohl er gar nicht mehr so überzeugt war, dass die Kette an seinem Hals dieses Kriterium erfüllte.
Sie fragte nicht weiter nach.
»Lass uns zurückgehen. Hast du noch mehr Geheimnisse?«, wollte Isis nach einer Weile wissen.
Der Tandler lachte. »Jeder Mann hat Geheimnisse. Aber in Bezug auf deine Tante Adi und unseren Mister X hab ich keine. Ich hab dir alles gesagt. Hast du noch welche?«
Isis schüttelte den Kopf.
»Bist du ganz sicher?«
»Sebo, ich hab dir wirklich alles über meine Mutter und Tante Adi erzählt!«
»Ich meine das Loch im Zaun«, sagte der Tandler.
»Was für ein …? Ach, du meine Güte, die Buben! Das hab ich wirklich völlig vergessen. Ich hab den Jonas und seine Freunde schon so lange nicht mehr gesehen!«
Er sah sie ungläubig an. Er konnte sich nicht vorstellen, dass man so etwas Wesentliches wie einen versteckten Zugang zum Gelände einfach vergessen konnte.
»Sebo, schau bitte nicht so! Du musst mir glauben. Ich hab das wirklich vergessen, weil das Loch so schmal ist, dass nur Kinder durchpassen. Das war letztes Jahr im Sommer, da hab ich den Jonas und zwei andere kleine Buben beim Fußballspielen erwischt, und sie haben mir gezeigt, wie sie aufs Grundstück gelangen. Ich hab probiert, ob ich durchpasse. Die haben mich befreien müssen, weil ich im Zaun hängen geblieben bin. Der Rhododendron dahinter ist so dicht, spätestens dort hätte ich nicht mehr weiterkriechen können, ohne dass mein Gewand zerrissen wäre. Ich hab Tante Adi gefragt, die hat gesagt: ›Lass sie ruhig, so ist wenigstens ein bisserl Leben im Park.‹ Deshalb hab ich ihnen erlaubt, dass sie weiter dort spielen, aber ihnen das Versprechen abgenommen, dass sie nie jemandem von dem Loch erzählen. Woher weißt du davon?«
Er schilderte seine Begegnung mit dem kleinen Fußballer.
»Das war der Jonas, der wohnt gegenüber. Da hast du ihn ja gut ausgetrickst. Hoffentlich hat er das nicht auch anderen verraten.«
»Jemand weiß vom Loch im Zaun«, sagte der Tandler und berichtete Isis, was Herr Stupser ihm von seinen nächtlichen Beobachtungen mitgeteilt hatte.
»Du meinst, das Loch ist jetzt groß genug, dass auch Erwachsene durchpassen?«
»Ich weiß es nicht, aber es scheint so zu sein. Zumindest wäre das die logische Erklärung dafür, wie jemand aufs Grundstück gelangt ist, ohne von den Kameras erfasst zu werden, und bei ausgeschalteter Alarmanlage dein Zimmer durchsuchen konnte. Herr Stupser sagte, dass eine Person klein und zierlich gewesen ist und die beiden, die vorm Tor gewartet haben, eher stämmig und grobschlächtig. Wenn die kleine Person auch gelenkig ist, kann sie sicherlich durchschlüpfen.«
Isis dachte nach. »Meinst du, dass die Buben jemandem den Zugang verraten haben?«
»Das glaub ich nicht. Die Aktivisten könnten allerdings davon gewusst haben. Vielleicht hat ihnen Adriana davon erzählt, und sie haben gezielt nach dem Loch im Zaun gesucht. Vielleicht hat aber auch der Giftzwerg zufällig das Loch entdeckt.«
Isis sah ihn zweifelnd an. »Kannst du dir vorstellen, dass der im Fendi-Fetzen auf allen vieren durch einen Rhododendronbusch kriecht?«
Der Tandler musste bei diesem Gedanken lachen.
»Und was machen wir jetzt?« Isis wirkte ratlos.
»Am Montag nach Innsbruck fahren«, schlug er vor. »Und du rufst deine Mutter an und sprichst mit ihr über das Schließfach.«
»Hast du denn Zeit? Musst du nicht arbeiten?«
»Weißt du, ich bin nicht der Star-Entrümpler von Linz. Ich bin froh, wenn ich ein oder zwei vernünftige Aufträge in der Woche habe. So was wie das Schloss ist für mich ein Sechser im Lotto. Ich hab tatsächlich die ganze nächste Woche frei.« Dass er dafür zwei Kunden würde abweisen müssen, verschwieg er.
»Ich ruf meine Mutter am Wochenende an«, versprach Isis. »Wollen wir heute Abend so tun, als wären wir stinknormale und ganz langweilige Freunde, die gemeinsam ins Kino oder essen gehen?«
»Willst du nur so tun oder wirklich ins Kino?«
»Ich will ins Kino. Und nachher essen. Irgendeinen schrecklich kitschigen Film, nichts mit Morden oder Einbrüchen.«
»Und auch nichts mit internationalen Untergrundaktivisten oder Waffenlieferanten.«
Sie lachte und schien wieder unbeschwert fröhlich zu sein. »Dann wird es schwierig, weil das Kinderprogramm nur am Nachmittag läuft, das schaffen wir nicht mehr. Da bleibt nur noch die Liebesschmonzette oder die dumme Teeniekomödie.«
»Ich mag heute nicht allein bleiben«, sagte Isis. Sie waren tatsächlich ins Kino gegangen und hatten sich einen preisgekrönten südkoreanischen Film angesehen, der als Satire angeworben wurde, aber davon handelte, dass eine arme Familie sich in das Haus und Leben einer reichen Familie einschleicht. Im Keller der Reichen wohnte heimlich eine weitere Person in einer Art Bunker. So hatte der Film bei Isis eher einen klaustrophobischen und weniger einen satirischen Eindruck hinterlassen.
»Ich schlaf auf der Couch im Wohnzimmer«, schlug der Tandler vor, dem nach all den Dingen, die er heute erfahren hatte, auch nicht ganz wohl war. Im Gegensatz zu Isis hatte er sich wenig auf den Film konzentrieren können, sondern über radikale Aktivisten, Einbrecher und Mörder nachgedacht. »Dorian hat für mich Sperrbalken organisiert, die können morgen eingebaut werden, dann sind alle Türen wieder einbruchsicher.«
Als sie auf dem Treppenabsatz vor der Wohnung angelangt waren, riss Frau Wewerka wütend ihre Tür auf. »Herr Tandler, so geht das nicht weiter! So einen Wirbel, wie Sie heut gemacht haben, eine Unverschämtheit!«
»Liebe Frau Wewerka, wir kommen grad erst zurück und waren seit heute kurz nach Mittag weg. Kann es sein, dass Sie die Flöhe husten hören?«
»Das weiß ich doch nicht, wem Sie noch alles einen Schlüssel für Ihre Wohnung gegeben haben und wer da ist, wenn Sie nicht da sind«, entgegnete sie empört. »Da wird mit Schubladen geklappert und mit Kastentüren gedroschen – so nicht!« Frau Wewerka verschwand wieder in ihrer Wohnung und schloss laut und vernehmlich die Tür.
»Die spinnt doch«, zischte der Tandler.
»Vielleicht war wirklich jemand in der Wohnung«, flüsterte Isis. »In deinem Büro und im Stadl ist schon eingebrochen worden, das ist eigentlich der einzige noch unberührte Ort.«
Der Tandler sah sich das Schloss genauer an. Keinerlei Kratz- oder Aufbruchspuren, auch der Schlüssel funktionierte, ohne zu haken. In der Wohnung sah es aus wie vor ein paar Stunden, als sie nach Riedl aufgebrochen waren.
»Also hier war niemand«, meinte er, nachdem er und Isis alles mehrfach kontrolliert hatten. »Ich frag mal bei der Frau Dr. Mühringer, ich hab Licht gesehen, ich glaube, sie ist da.«
Der Tandler läutete bei seiner Nachbarin ein Stockwerk tiefer. Sie öffnete sofort und bat ihn in die Wohnung. Er fragte sie, ob ihr irgendwelcher Lärm in seiner Wohnung aufgefallen sei.
»Von Ihnen hör ich nie was«, sagte Frau Dr. Mühringer, »aber es gibt Neuigkeiten. Vorher war die Frau Fandler da und hat sich ein Beruhigungsmittel geholt. Ich nehm ja ab und zu was aus meiner Praxis mit heim. Stellen Sie sich vor: Bei der Familie Fandler ist eingebrochen worden!«
Fandlers wohnten direkt über Frau Wewerka.
»Es ist nichts gestohlen worden«, fuhr Frau Dr. Mühringer fort, »aber alle Schränke, Kästen und Schubladen wurden durchwühlt, als ob einer was gesucht hätt. Ein Glück, dass die zwei grad nicht daheim, sondern länger einkaufen waren. Was sind Sie denn auf einmal so dasig, Herr Tandler, geht es Ihnen nicht gut?«
Er setzte sich auf den Sessel, den Frau Dr. Mühringer ihm angeboten hatte. Die Ärztin eilte an ihren Medikamentenschrank und kam wenig später mit einem Glas Wasser und einer Brausetablette zurück. Als sich die Tablette aufgelöst hatte, bat sie den Tandler, alles zu trinken. »Stärkt Kreislauf und Durchblutung – und schmecken tut es auch«, erklärte sie. »Warum haben Sie sich denn grad so erschrocken?«
Weil an meiner Tür kein Namensschild hängt, das Fandler-Schild in verschnörkelter Schreibschrift oben aber auch als »Tandler« gelesen werden konnte, dachte er, sagte aber: »Weil der Herr Fandler schon ziemlich alt und herzkrank ist, wenn dem was passiert wär …«
»Ja, die haben Glück gehabt, dass sie nicht da waren, wie es passiert ist«, meinte Frau Dr. Mühringer. »Unser Hausdrachen, die Frau Wewerka, weiß übrigens nicht, dass eingebrochen worden ist. Die war nicht daheim, als die Polizei gekommen ist, und hat den ganzen Trubel nicht erlebt. Wir Nachbarn haben uns ausgemacht, dass wir der Schnoflerin auch nix davon erzählen. Rauskriegen wird sie es eh früher oder später, aber wenn ich mir vorstell, wie die sich ärgert, wenn sie erfährt, dass sie einmal nicht mitgekriegt hat, was im Haus los war …« Frau Dr. Mühringer kicherte schadenfroh.
Der Tandler versprach, Frau Wewerka nicht aufzuklären, und ging zurück in seine Wohnung.
»Gut für uns, dass an deiner Tür kein Namensschild ist«, meinte Isis, nachdem er ihr berichtet und für sie beide einen Schnaps eingeschenkt hatte.
»Du glaubst auch, dass da jemand den Tandler gesucht und die Fandlers mit mir verwechselt hat?«
»Nach dem Namen Tandler gesucht hat«, korrigierte Isis. »Ob unser Mister X dich oder mich oder den Schließfachschlüssel sucht, wissen wir nicht.«
»Oder die Briefe«, warf er ein. »Die sind nämlich auch noch da. Und je mehr ich über den Inhalt nachdenke, desto mehr bin ich davon überzeugt, dass sie von jemandem geschrieben wurden, der Angst vor einer anderen Person gehabt hat. Und die könnte die Briefe jetzt suchen.«
»Noch einen Schnaps, und dann lass uns schlafen gehen. Das war alles ein bisserl viel in den letzten Tagen, ich kann nicht mehr«, sagte Isis und kippte den albanischen Schnaps hinunter, als wäre er Limonade.
Sicherheitshalber verbarrikadierte der Tandler die Wohnungstür mit Hilfe seiner Schuhkommode. Ihn quälte die Frage, ob der Einbrecher gemerkt hatte, dass er in der falschen Wohnung gewesen war, und zurückkehren würde.