»Ach, ist das herrlich.« Nora, ihre beste Freundin, strahlte mit der Sonne um die Wette.
Dass es so ein schöner und vor allem warmer Junitag werden würde, damit hatten sie nicht gerechnet. Der Wetterbericht hatte sich wieder einmal gründlich getäuscht. Kein Wölkchen war am Himmel zu sehen.
Nun saßen sie mitten im Ortszentrum von Zell am See und genossen ihre Auszeit vom Alltag. Valerie hatte Nora nach dem Unterricht von der Volksschule abgeholt, wo sie schon viele Jahre unterrichtete. Für sie begann nun ein verlängertes Wochenende, was bedeutete, dass sie in den nächsten Tagen genügend Zeit hatte, um bei Valerie im Hotel vorbeizuschauen. Ein bisschen Wellness konnte nie schaden. Da die Sommersaison noch nicht begonnen hatte, konnte Valerie sich ihre Arbeit so einteilen, dass sie gemeinsam in die Dampfsauna gehen oder bei einer Yogaeinheit mitmachen würden, wie es eben passte. Das war zu den Feiertagen im Mai und Juni schon Tradition. Vorerst war aber ihr Freundinnentag angesagt. Mit ein paar Snacks aus der Hotelküche, die Valerie extra mitgenommen hatte, hatten sie sich auf den Weg gemacht.
Ihr Programm sah stets gleich aus. Zuerst ein langer Spaziergang, dann ein Caffè Latte im Zentrum, ein ausführlicher Einkaufsbummel, ein stilvolles Abendessen und im Anschluss daran ein kurzer Abstecher ins Casino. Mit Abstand das Lustigste an diesen Ausflügen war das Umziehen vor dem Restaurantbesuch. Schließlich war es ihnen wichtig, sowohl dort als auch im Casino passend gekleidet zu sein. Da sie nicht über Nacht blieben und kein Zimmer zur Verfügung hatten, war das durchaus eine Herausforderung. Hier war Einfallsreichtum gefragt. Von engen Kaffeehaustoiletten über akrobatische Umziehübungen im Auto bis hin zu einer Fahrt in den Wald vor ein paar Monaten, wo sie sich ungesehen etwas Schickes anziehen wollten, war schon allerhand vorgekommen. Da sie damals prompt von einem Spaziergänger überrascht worden waren, brauchten sie eindeutig eine bessere Lösung.
»Sag mal, wo ziehen wir uns denn heute um?« Nora grinste, lehnte sich zurück und schob ihren Caffè Latte von sich.
Valerie musste nicht lange überlegen. »Ich hab gestern schon darüber nachgedacht. Für enge Toiletten fühle ich mich mittlerweile wirklich zu alt. Aber wir könnten runter an den See fahren und uns einen kleinen Badeplatz mit Umkleidekabinen suchen.«
Nora griff sich mit der Hand an die Stirn. »Geniale Idee. Warum sind wir da nicht schon früher draufgekommen? Das ist doch logisch an einem Badesee. So machen wir es, aber erst gehen wir bummeln. Ich brauch unbedingt neue Schuhe.«
Als sie später in Ortsnähe einen passenden Badeplatz gefunden hatten, war es schon spät. Allein die vollen Mülleimer erinnerten an die Badegäste, die das schöne Wetter zur Abkühlung genutzt hatten, obwohl der See noch ziemlich kalt war.
Nora stupste Valerie an. »Du, schau, dort drüben. Wir müssen leise sein. Da steht ein Pärchen am Steg. Die sollen nicht unbedingt mitbekommen, dass wir uns hier umziehen.«
Valerie kicherte und blickte in Richtung See. »Na, die sind aber noch ziemlich frisch verliebt, so wie die sich küssen. Eigentlich schauen sie gar nicht mehr so jung aus, zumindest er.«
Nora sah ihr über die Schulter. »Ich wette, dass er verheiratet ist und sich eine Jüngere angelacht hat. Der hat mit Sicherheit eine Menge Geld, so wie er angezogen ist. Darauf stehen doch viele Frauen, und dann ist es ihnen auch egal, ob er Familie hat oder nicht.«
Valerie hatte sich an solche Aussagen ihrer Freundin gewöhnt. Die romantische Ader, die Nora als junges Mädchen gehabt hatte, war im Laufe ihrer Ehe verloren gegangen. Nach dem, was damals vorgefallen war, konnte sie sie sogar verstehen. Schließlich hatte Wolfgang sie betrogen – und nicht nur einmal, wie sich im Nachhinein herausgestellt hatte.
Leise, damit sie nicht gehört wurden, verschwand jede von ihnen in einer Kabine. Getrennt waren sie nur durch eine dünne Bretterwand, die von den Waden bis über den Kopf reichte. Begleitet von Gekicher und Scherzen zogen sie sich um. Gegen Abend hatte es deutlich abgekühlt, weshalb Valerie Gänsehaut bekam, als sie auf einem Bein balancierend in ihre Strümpfe schlüpfte. Obwohl bald schon die Sommerferien begannen und somit die wärmste Zeit im Jahr anbrach, musste man sogar an den schönsten Tagen in den Bergen mit kühlen Nachttemperaturen rechnen. Dieser Gedanke ließ sie gleich noch stärker frösteln.
Fertig umgezogen traten sie ins Freie, sahen sich vorsichtig um und bemerkten, dass das Pärchen verschwunden war. Gut gelaunt machten sie sich auf den Weg in ihr Lieblingsrestaurant.
Nach einem Abendessen, bei dem sie nicht auf die Kalorien achteten, sondern sich auch noch mit einer Nachspeise verwöhnen ließen, schlenderten sie hinüber zum Casino. Mit den Begrüßungsjetons traten sie an den Roulettetisch und überlegten, wo sie setzen sollten. Manchmal hatten sie Glück und fuhren mit einem kleinen Gewinn nach Hause, aber meistens waren nach ein paar Runden die Jetons verspielt, und sie genossen entspannt die Atmosphäre in den stilvollen Räumlichkeiten, bevor sie sich auf den Heimweg machten.
Als Valerie zusah, wie der Croupier die Kugel ins Rollen brachte, stieß Nora sie unsanft in die Rippen. »Du, schau mal. Ist das nicht der Typ vom Steg?«
Damit hatte sie recht. Sie hatten ihn zwar nur von der Seite gesehen, aber auch Valerie war überzeugt davon, dass es derselbe Mann war. Seine Begleiterin konnte sie nirgends erspähen. Zielstrebig ging er zu einem der anderen Roulettetische. Die Anzahl an Jetons, die er vor sich hinlegte, war beachtlich. Sie hatten wohl richtig vermutet, als sie über seinen finanziellen Hintergrund spekuliert hatten.
Valerie drehte sich wieder um und stellte fest, dass auch ihr letzter Begrüßungsjeton vom Tisch gezogen worden war. Das war’s dann. Sie würden sich noch ein oder zwei alkoholfreie Cocktails holen, von der Bar aus ihre »sozialen Studien« betreiben und gemütlich nach Hause fahren.
Froh, sich endlich setzen zu können, suchten sie sich zwei freie Hocker. Obwohl viel los war, hatten sie Glück. An ihren Drinks nippend, ließen sie den Blick schweifen und überlegten sich mögliche Lebensgeschichten für einzelne Gäste, die interessant aussahen. Das war ein Hobby von ihnen. Sie hatten die skurrilsten Ideen und mussten oft auf dem Heimweg noch darüber lachen.
Eben dachten sie sich eine Geschichte zu einem älteren Pärchen aus, das an einem der Spielautomaten stand, da hörten sie lautes Gezeter von einem der hinteren Roulettetische. Ein Gast beschimpfte wüst den Croupier und war dabei ziemlich ausfallend. Im restlichen Casino wurde es ruhig, und etliche Gäste schlenderten nach hinten, neugierig, was dort vor sich ging.
Da die gelöste Stimmung weg war und Nora und Valerie nicht vorgehabt hatten, lange zu bleiben, nahmen sie ihre Handtaschen und machten sich auf den Weg zur Garderobe. Im Vorbeigehen sahen sie, dass es der Mann vom Steg war, der so einen Aufruhr verursachte. Der große Haufen an Jetons war verschwunden, auf seiner Stirn war Schweiß zu sehen, sein Gesicht war gerötet, und die Haare standen in alle Richtungen. So wie es aussah, hatte er seinen gesamten Spieleinsatz verloren.
Valerie hatte solche Szenen schon des Öfteren erlebt. Vermutlich war er ein Spieler, ein Getriebener, der nicht aufhören konnte, bis er all sein Geld verzockt hatte. Es war traurig, wenn sich jemand nicht im Griff hatte. Aber nicht umsonst wurde Spielsucht als Krankheit eingestuft.
Erschüttert von dem Anblick machten sie sich auf den Nachhauseweg. Es war ein schöner Freundinnentag gewesen, auch wenn der Vorfall im Casino zum Schluss die gute Laune etwas getrübt hatte. Insgesamt waren sie aber zufrieden. Diese kleine Auszeit vom Alltag, die sie sich ab und zu gönnten, war eben Gold wert.