Der Abschied

Bis mir mein Vater eines Tages mit einer Geste, die energischer war als sonst, gestand, daß unsere Wallfahrt in Abancay zu Ende sein würde.

Um diese kleine, stille Stadt zu erreichen, mußten wir drei Departements durchqueren. Es war die längste und seltsamste Reise, die wir je zusammen unternommen hatten – etwa fünfhundert Meilen in vorher geplanten Tagesmärschen, die genau eingehalten wurden. Sie führte über Cuzco, wo er geboren worden war, studiert und seine Laufbahn begonnen hatte; doch er hielt sich dort nicht auf, im Gegenteil, er floh, als brenne Feuer unter seinen Füßen.

Wir überquerten den Apurímac, und in den blauen unschuldigen Augen meines Vaters sah ich jenen Ausdruck, den sie jedesmal annahmen, wenn er aus Enttäuschung eine neue Reise plante. Die Glut des Tals lähmte mich, er aber ritt still und versonnen dahin.

»Er ist noch immer der gleiche verfluchte Mensch«, sagte er einmal.

Und als ich ihn fragte, wen er meine, antwortete er: »Der Alte.«

Es gibt eine wilde Blume mit gelber Krone, die man amank’ay nennt; das Hin- und Herwiegen der großen Vögel heißt awankay. Awankay – im Fluge schweben und in die Tiefe blicken. Abancay! Das mußte ein zwischen Wäldern voll unbekannter Bäume verlorenes Dorf in einem Tal mit riesigen Maisfeldern sein, Feldern, die bis zum Fluß hinunterreichten. Heute glänzen die Dächer aus Wellblech grell, Gärten mit Maulbeerbäumen liegen zwischen den einzelnen Stadtvierteln, und die Zuckerrohrplantagen erstrecken sich bis zum Pachachaca. Die Stadt ist nicht frei, denn sie liegt auf fremdem Besitz, auf dem Land einer Hacienda.

An dem Tag, an dem wir dort ankamen, läuteten die Glocken. Es war vier Uhr nachmittags. Alle Frauen und der größte Teil der Männer knieten in den Straßen nieder. Mein Vater saß ab und fragte eine Frau nach der Ursache des Glockengeläuts und des Betens in den Straßen. Die Frau erzählte ihm, daß in diesem Augenblick Pater Linares, der heilige Prediger von Abancay und Rektor des Colegio, operiert werde. Vater befahl mir, vom Pferd zu steigen und neben ihm niederzuknien. Fast eine halbe Stunde beteten wir am Straßenrand. Niemand ging durch die Straßen, und die Glocken läuteten, als riefen sie zur Messe. Der Wind blies uns den Abfall von den Straßen ins Gesicht. Doch niemand erhob sich, um seinen Weg fortzusetzen, bis das Geläut der Glocken verklungen war.

»Er soll dein Rektor sein«, sagte mein Vater. »Ich weiß, daß er ein Heiliger ist, der beste Prediger in Cuzco und ein großer Lehrer der Mathematik und der spanischen Sprache.« Wir wohnten im Haus eines Notars, eines Studiengefährten meines Vaters. Auf der langen Reise hatte er mir von seinem Freund erzählt; er war überzeugt, daß dieser ihm in Abancay Klienten empfehlen würde und daß er so vom ersten Tag an arbeiten könnte. Aber der Notar war ein kranker Mann. Gebeugt und bleich, aufs äußerste geschwächt, konnte er kaum gehen. Ein Angestellter erledigte die Arbeiten des Notariats und bestahl ihn erbarmungslos.

Mein Vater empfand Mitleid mit seinem Freund, aber er klagte dauernd, daß er sich im Haus dieses Kranken und nicht in einem Wirtshaus niedergelassen hatte. Man richtete uns zwei Betten auf dem Boden im Schlafzimmer der Kinder her. Sie schliefen auf Fellen und wir auf den Matratzen.

»Gabriel, mein Bruder, verzeih«, sagte der Notar.

Die Frau ging mit niedergeschlagenen Augen umher und wagte weder zu sprechen noch aufzublicken. Wir wären viel lieber unter irgendeinem Vorwand davongegangen. »Wir hätten in ein Wirtshaus, in irgendein beliebiges Wirtshaus gehen sollen«, sagte mein Vater mit leiser Stimme.

»Nach so langer Zeit kommst du von so weit her, und ich bin nicht einmal imstande, mich um dich zu kümmern«, klagte der Kranke.

Mein Vater bedankte sich bei ihm und bat ihn um Verzeihung, doch er konnte sich nicht entschließen, ihm zu sagen, er solle uns gehen lassen. Es war nicht möglich. Die Stimme seines Freundes drohte jeden Augenblick zu erlöschen, er sprach mit größter Anstrengung. Die Kinder halfen der Mutter, sie sahen mich ohne großes Mißtrauen an, doch empfanden sie Scheu vor meinem Vater und wagten nicht, ihn anzusehen.

Mein Vater trug einen alten Anzug, den ein Dorfschneider angefertigt hatte. Sein Aussehen war vieldeutig. Er schien vom Land zu stammen, aber seine blauen Augen, sein blonder Bart, sein fehlerloses Spanisch und sein gutes Benehmen bestätigten diesen Eindruck nicht. Nein, wir riefen kein Mitleid hervor, aber wir verletzten auch nicht die Gefühle bescheidenerer Leute. Trotzdem war es ein grausamer Tag. Und wir fühlten uns glücklich, als wir am folgenden Abend auf einer Lehmbank in einem Raum voller Bretter schlafen durften, den wir in einer der Straßen im Zentrum der Stadt mieteten.

So, ganz plötzlich, begann unser Leben in Abancay. Und mein Vater verstand es, die ersten Unannehmlichkeiten zu nutzen, um das Fehlschlagen des eigentlichen Zwecks dieser Reise zu rechtfertigen. Er konnte nicht bleiben, er konnte kein Büro eröffnen. Zehn Tage lang klagte er über die Häßlichkeit des Ortes, die Stille, die Armut, die Hitze, das Fehlen von Klienten. In dieser Provinz gab es keinen Kleinbesitz; die Prozesse waren alle strafrechtlicher Natur, kleinliche Streitereien, die kein Ende nahmen. Das gesamte Land aber gehörte den Großgrundbesitzern, selbst die Stadt Abancay konnte sich nicht ausdehnen, weil sie von der Hacienda Patibamba umgeben war und weil deren Besitzer weder Reichen noch Armen Land verkaufte. Unter den Großgrundbesitzern aber gab es nur einige alte Rechtsfragen, die seit Jahrzehnten auf eine Lösung warteten.

Ich wurde im Colegio angemeldet und schlief im Internat. Mir wurde klar, daß mein Vater weggehen würde. Nach vielen Jahren gemeinsamer Reisen mußte ich nun zurückbleiben, und er würde allein weiterziehen. Wie immer würde irgendein Zufall seinen Weg bestimmen. In welches Dorf? Auf welchem Weg? Er würde nicht wieder nach Cuzco zurückkehren; er würde den Pachachaca überqueren, sich auf die andere Seite des Tals begeben und die auf der Höhe gelegenen Dörfer besuchen. Auf jeden Fall müßte er zuerst ins Tal hinuntergehen. Dann würde er die gegenüberliegende Kordillere hinaufreiten, er würde Abancay zum letzten Mal von einem fernen Paß, von irgendeinem blauen Gipfel aus sehen, wo er für mich unsichtbar wäre. Allein würde er dann ein anderes Tal, eine andere Pampa erreichen, seine Augen würden den Horizont und die Ferne in einer anderen Weise sehen, er würde schweigend zwischen Steinen und Büschen dahintraben; in den Schluchten und auf den Gipfeln würde der Himmel mit größerer Macht, mit großer Grausamkeit und Stille in seiner Seele versinken. Solange wir zusammen waren, gehörte die Welt uns, Freuden und Leiden gingen von ihm zu mir.

Nein, er konnte nicht in Abancay bleiben. Abancay war weder Stadt noch Dorf, es trieb meinen Vater zur Verzweiflung.

Aber er versuchte doch, mir zu beweisen, daß er sein Versprechen halten wollte. Er putzte sein Schild, auf dem ›Anwalt‹ stand, und befestigte es an der Hausmauer neben der Tür des Zimmers. Mit Hilfe einer Trennwand teilte er den Raum und machte im hinteren Teil auf einer Pritsche aus Lehmziegeln sein Bett. Er saß vor der Tür oder ging umher und wartete auf Klienten. Hinter der Wand schauten die Bretter hervor. Manchmal, wenn er vom Spazierengehen und vom Sitzen genug hatte, legte er sich ins Bett. Gelegentlich fand ich ihn so, verzweifelt. Sobald er mich sah, gab er sich den Anschein der Geschäftigkeit.

»Möglich, daß mir einer der Großgrundbesitzer eine Rechtssache übergibt. Das würde genügen …«, sagte er. »Auch wenn ich zehn Jahre in diesem Dorf verbringen müßte, so wäre wenigstens deine Zukunft gesichert. Wir würden ein Haus mit einem Garten mieten, und du bräuchtest nicht im Internat zu wohnen.«

Ich gab ihm recht. Aber er war daran gewöhnt, in Häusern mit großen Höfen zu leben und mit Dutzenden von Indios und Mestizen – seinen Klienten – auf Quechua zu plaudern, seine Rekurse zu diktieren, solange die Sonne den Patio erleuchtete und sich fröhlich über den Bretterboden des »Büros« ergoß. Nun fühlte er sich beengt, die Wände dieses Raums, der für Krämer gebaut war, bedrückten ihn.

Als er mich daher eines Tages in der Schule besuchte, und zwar in Gesellschaft eines Unbekannten, der wie ein Gutsbesitzer vom Dorf aussah, wußte ich, daß seine Abreise beschlossen war. Eine unbändige Freude leuchtete in seinem Gesicht. Beide hatten getrunken.

»Ich bin nur für einen Augenblick mit diesem Herrn gekommen«, sagte er. »Er ist aus Chalhuanca hierher gereist, um einen Anwalt zu sprechen, und wir haben beide das Glück gehabt, uns zu treffen. Die Angelegenheit ist einfach. Du hast die Erlaubnis, auszugehen. Komm nach der Schule ins Büro.«

Der Fremde gab mir die Hand.

Sie verabschiedeten sich sofort wieder. Die mit Leder verstärkte Reithose des Fremden, seine dicken Gamaschen, sein kurzer Rock, seine Krawatte mit dem dünnen Knoten im breiten Ausschnitt des Hemdes, die Farbe seiner Augen, seine Schüchternheit, sein Hut mit dem breiten Band – all dies sah genauso aus wie bei allen Gutsbesitzern aus indianischen Gegenden.

Am Nachmittag besuchte ich meinen Vater. Ich traf den Mann aus Chalhuanca im Büro, er saß auf einer Bank. Die Tür, die sonst weit offen stand, war angelehnt. Auf dem Tisch standen verschiedene Flaschen. Mein Vater bot dem Fremden ein Glas dunkles Bier an.

»Mein kleiner Sohn, die Sonne, die mich erleuchtet. Da ist er, Señor«, sagte er.

Der Mann erhob sich respektvoll und kam mir entgegen.

»Ich bin aus Chalhuanca, mein Junge. Dein Vater, der Doktor, ehrt mich.«

Er legte seine Hand auf meine Schulter. Um seinen Hals lag ein Tuch aus Vicuña-Wolle; die Knöpfe seines Hemdes waren violett. Er hatte helle Augen, doch in seinem sonnenverbrannten Gesicht erinnerten sie an die Augen eines Indio. Er glich allen anderen Freunden, die mein Vater in den Dörfern zu finden pflegte.

»Du bist der Trost des Herrn Doktors, du bist sein Herz. Ich, ich bin nur kurze Zeit hier. Auf ihn, Doktor!«

»Auf ihn!«

Und sie leerten jeder ein volles Glas.

»Er ist schon fast erwachsen, Señor Don Joaquín«, sagte mein Vater und zeigte auf mich. »Mit ihm bin ich schon fünfmal über die Kordillere gezogen, mit ihm bin ich die sandigen Küsten entlanggewandert. Wir haben auf den Punas, am Fuß der verschneiten Berge geschlafen, und wir sind hundert, zweihundert, fünfhundert Meilen weit geritten. Und nun ist er im Internat einer katholischen Schule. Wie wird er es ertragen, Tag und Nacht eingesperrt zu sein, er, der an so vielen Orten gewesen ist? Doch du bist in deiner Schule. Du bist am richtigen Ort. Und du sollst sie nicht verlassen, bis du fertig bist, bis zur Universität. Aber niemals, niemals sollst du Anwalt werden. Es ist genug des großen Übels mit mir.«

Er war unruhig. Ständig schritt er auf und ab. Er brauchte mir nichts mehr zu sagen. Hier war der Fremde, ein Halstuch aus Vicuña-Wolle, ein Hut indianischer Machart, Gamaschen mit gelben Schnallen, violette Knöpfe am Hemd, lange, vom Schweiß filzige Haare, grüne Augen, die von der Kälte wäßrig geworden waren. Er sprach Spanisch mit mir. Sobald er Quechua spräche, würde er das Halstuch abnehmen – oder es ordentlich um den Hals rollen.

»Ich, mein Junge, bin aus Chalhuanca und führe einen Prozeß gegen einen Großgrundbesitzer. Jetzt will ich es ihm zeigen. Wie der Falke, wenn er den Sperber im Flug in Stücke reißt. Dank der Ratschläge deines Vaters, natürlich. Warum soll er mich eigentlich nicht in mein Dorf begleiten? Nicht wahr, Doktor?«

Er wandte sich an ihn, aber mein Vater antwortete nicht und kehrte ihm den Rücken zu.

Der Fremde sah mich von neuem an.

»Glaube nichts, mein Junge. Ich bin aus Chalhuanca. Ich bin gekommen, um Ratschläge für meinen Prozeß zu holen. Hier ist der Doktor. Wie ein Sperber hat er alles begriffen. Ich war bereits gebunden. Doch ein Anwalt ist ein Anwalt und weiß mehr als ein Schreiberling. Verdammte Schreiberlinge! Nun werden sie sehen! Payhunak’a nerk’-achá …« Und er machte seinem Ärger auf Quechua Luft.

Mein Vater konnte kaum an sich halten. Vergeblich versuchte er zu verbergen, daß er gehen würde. Die naiven Versuche seines Freundes, der die Nachricht vertuschen wollte, verrieten die Reisepläne erst recht und verstörten meinen Vater noch mehr. Er stützte sich auf den Tisch und weinte. Der Mann aus Chalhuanca versuchte ihn zu trösten. Er sprach auf Quechua zu ihm, bot ihm alle Belohnungen an, die man in der Sprache der Indios versprechen kann, damit die großen Kümmernisse für einen Augenblick vergessen werden. Dann wandte er sich an mich:

»Chalhuanca ist nicht weit von hier, mein Junge«, sagte er.

»Hinter diesen Bergen, in einem kleinen Tal. Wir werden im Auftrag deines Vaters kommen, um dich zu holen. Wir werden Feuerwerkskörper knallen lassen, wenn du den Platz betrittst, die Trommeln werden wirbeln und die Tänzer springen. Du wirst mit Dynamit im Fluß fischen, zu Pferd über alle Hügel reiten, du wirst Rehe, Kaninchen und Wildschweine jagen.«

Ich ließ ihn reden und trat zu meinem Vater. Lange Zeit blieben wir nahe zusammen. Der Fremde redete auf Quechua weiter, ging lärmend um uns herum und rief immer lauter und begeisterter:

»Chalhuanca ist besser. Ganz nahe beim Dorf gibt es einen Fluß, und wir haben die Fremden gern. Niemals ist ein Anwalt dorthin gekommen, niemals. Man wird Sie wie einen König empfangen, doctorcito. Alle werden sich verneigen, wenn Sie vorübergehen, und den Hut abnehmen, wie es sich gebührt. Sie werden Land kaufen, Doktor, der Junge soll ein Pferd und gute Ackergeräte aus Metall haben … Du wirst im Galopp durch die Furt reiten und auf meinem Gut mit der Peitsche knallen und das Vieh zusammentreiben. Wir werden auf den Inseln im Fluß Enten jagen, und du wirst vor den wilden Stieren der Hacienda die capa schwingen. Weine nicht! Es ist eher ein Wunder des Schutzpatrons von Chalhuanca, daß er dieses Dorf für euch ausgewählt hat. Auf Ihr Wohl, Doktor! Lassen Sie den Kopf nicht hängen! Steh auf, braver Junge! Auf Ihr Wohl, Doktor! Auf daß Sie sich von diesem traurigen Ort verabschieden!«

Mein Vater stand auf. Der Mann aus Chalhuanca goß mir ein halbes Glas Bier ein:

»Er ist ja schon fast erwachsen, erwachsen genug für diese Gelegenheit!«

Es war das erste Mal, daß ich mit meinem Vater trank. Und seine Freude über die lockenden Pläne der Zukunft kehrte zurück, wie immer am Vorabend der Reisen.

»Ich werde in Chalhuanca bleiben, mein Sohn, und mich endlich irgendwo niederlassen. Wie der Herr sagt, will ich in den Ferien mit einem feurigen Pferd auf dich warten, auf dem du über die Hügel und im Galopp durch die Furten reiten kannst. Ich werde am Ufer des Flusses ein Landhaus kaufen und eine Mühle aus Stein bauen lassen. Vielleicht kommt Don Pablo Maywa und richtet sie ein. Irgendwo muß man sich niederlassen, man kann nicht immer so weiterwandern wie der irrende Jude … Der gute Alcilla soll bis zum Dezember dein Vormund sein.«

Wir trennten uns fast fröhlich, beide mit der gleichen Hoffnung, die uns jedesmal nach der Mühsal eines Dorfes ermutigte, wenn wir beschlossen, uns wieder auf den Weg zu machen.

Er würde über die Kordillere auf der anderen Seite des Pachachaca gehen und den Fluß auf einer steinernen Brücke mit drei Bogen überqueren. Auf dem Gipfel würde er Abschied vom Tal nehmen und neue Felder sehen. Und wenn er in Chalhuanca neue Freunde träfe, würde er über meine Abwesenheit traurig sein, und ich würde dann Schritt für Schritt das große Tal und die Stadt entdecken, würde die Schläge einer traurigen, mächtigen Strömung spüren wie alle Kinder, die allein in der Welt sind, in einer Welt voller Ungeheuer und Feuer, in einer Welt voll großer Flüsse, die mit herrlicher Stimme singen, wenn sie gegen Steine und Inseln stoßen.