EINS

Stella.«

Jemand ruft mich. So leise wie Vogelgezwitscher.

»Stella. Stella.«

Was ist los? Bin ich im Auto eingeschlafen? Muss ich wohl, denn ich bin noch immer müde. Meine Augenlider scheinen nicht mehr zu funktionieren. Immer wieder klappen sie zu, sodass ich erneut im Dunkel verschwinde, in dem sich der Geruch nach heißem Metall mit der schwülen Luft vermischt. Energisch reiße ich die Augen auf. Aus dem Schwarz der langen Nacht taucht ein Gesicht auf. Nicht mehr als ein Schatten. Nicht mehr als eine Maske. Ein unbekannter Mann beugt sich über mich. Seine Augen sind so groß! Mein Gott, er hat einen Mund wie Dagobert Duck. Was sagt er? Ich kann ihn nicht verstehen. Als ob er unaufhörlich leere Sprechblasen produziert. Etwas stimmt nicht. Ich sehe alles vergrößert. Wie durch eine Lupe. Wirklich seltsam. Dann schrumpft er zusammen auf normale menschliche Größe. Der sieht ja aus wie der Chefarzt in dieser Fernsehserie. »Du bist im Krankenhaus«, sagt er mit diesem falschen Lächeln, wie es auch Dr. Heilmann draufhat, wenn er im Film schlechte Nachrichten überbringt. Was gibt es da zu lächeln, will ich sagen, aber kein Wort kommt über

meine Lippen. Vielmehr bin ich damit beschäftigt, nicht wieder einzuschlafen. Stella, wach bleiben! Also, warum bin ich im Krankenhaus? Wir müssten doch eigentlich bei Pat sein. Sven, Mama und ich. Ich drehe den Kopf zur Seite. Ein großes Fenster rechts, durch das die Sonne fällt. Ein zweites Bett neben meinem. Es ist leer. Über mir schwebt ein Fernseher. Ich kann meine Augen nicht mehr aufhalten.

Wie lange habe ich geschlafen? Welcher Tag ist heute? Mein Vater sitzt neben meinem Bett. Er ist der Letzte, den ich erwartet habe. Wir haben ihn doch erst gestern zum Flughafen gebracht. Das Schiff. Die Nordstern. Sie läuft von Kapstadt aus. Er war auf dem Weg in eine Gegend, in der ein Flug zu einem Krankenhaus so unmöglich ist wie eine U-Bahnfahrt zum Mond. Sein Gesicht ist kreidebleich. Warum schaut er mich so seltsam an? Er reibt sich die Augen. Sind es Tränen oder ist er einfach nur müde? Seine Hand streicht über meinen Kopf! Was ist das denn? Hey, ich bin nicht Sven! Meine Kinderzeit ist vorüber! Falls du es noch nicht mitbekommen hast, Daddy, ich bin vierzehn. Streicheln verboten! Ich versuche mich aufzurichten, aber es geht nicht. Dort unten hängen meine Beine in der Luft. Mir wird klar: Ich bin im falschen Leben, im falschen Film. Also schließe ich meine Augen wieder. Klappe! Zweiter Versuch. Vielleicht gelingt es mir jetzt im richtigen Leben aufzuwachen. Dort, wo ich hingehöre. In unserer Wohnung in Bremen mit Blick auf die Weser, in meinem Zimmer, in meinem Bett, den Kopf tief ins Kissen gewühlt, die Beine hoch bis an die Brust gezogen, wie ich immer schlafe.

Augen auf. Kurz blinzeln. Nichts, nichts hat sich verändert. Noch immer lächelt von rechts dieser falsche Dr. Heilmann und von links mein Vater, der eigentlich im Eismeer sein sollte. Wer von beiden sagt: »Ihr hattet einen Unfall. Erinnerst du dich?« Welcher Unfall? Wo ist Mama? Wo ist Sven? Hinter meiner Stirn ist eine Mauer. Eine dunkle Wand. Sie kippt. Durch meinen Körper geht ein Schmerz, der hart und kalt ist wie eine Eisenstange. »Mama und Sven sind tot«, höre ich meinen Vater sagen. Er fängt an zu weinen. Aber meine Augen bleiben trocken. Jemand hat mir Sand hinter die Lider gekippt, in dem die Tränen versickern.