ZWEI
Der Tag ging in die Dämmerung über. Vor dem dunklen Himmel erhob sich der alte Leuchtturm über den Dünen. Die Luft roch nach Meer, Salz und Fisch und die rote Sonne tauchte im Meer unter, als wollte sie ein Vollbad nehmen.
House of the Rising Sun.
Stellas Gitarrenlehrer hatte ihr den alten Song aus der Steinzeit der Musik vorgeklimpert und dabei sehnsüchtig die Augen geschlossen. Wie peinlich! Ein erwachsener Mann. Na ja, jetzt war sie ihn für alle Zeiten los. Wenigstens ein Vorteil, den das neue Leben hatte. Er hatte immer nach Zigaretten gerochen und war absolut dagegen gewesen, absolut dagegen, wie er wiederholt hatte, dass sie eine E-Gitarre bekam. Kurz, er war ein Spielverderber. Ihr Vater bog in eine schmale Zufahrtsstraße ein und nur Minuten später in einen mit Kies bedeckten Hof. Links befand sich ein schlichtes einstöckiges Gebäude, das offenbar erst vor Kurzem neu verputzt worden war. Im Gegensatz zu den anderen Häusern auf der Insel besaß es ein mit grauem Schiefer gedecktes Dach. Dahinter lag ein schmaler Streifen Wiese, auf dem einige alte Obstbäume standen, dann ein Weg und dahinter Felder, die bereits abgeerntet waren. Das ehemalige Pfarrhaus war das einzige in der Gegend, in dem kein Licht brannte. Lediglich zwei Bauernhöfe lagen in seiner Nähe. In der Ferne leuchteten Lampen wie Irrlichter in der Abenddämmerung. Ihr Wagen hielt direkt hinter einem nagelneuen schwarzen Sportcoupé mit getönten Scheiben, die den Blick in sein Inneres verhinderten. »Wow, wem gehört der denn?« »Pat.« »Seit wann besitzt sie so einen Schlitten?« Anstelle einer Antwort hupte ihr Vater mehrmals. Die Kapitänsmütze auf dem Kopf, stieg Stella aus, erleichtert, dass sie endlich angekommen waren. Obwohl seit dem Unfall drei Monate vergangen waren, machte ihr Auto fahren noch immer Angst. Sie hatte dann das Gefühl, in ein großes Dunkel zu fahren. Noch immer war das Letzte, woran sie sich erinnerte, dass sie ins Auto gestiegen war, um mit ihrer Mutter und Sven zu Pat zu fahren, die in der Nähe von Kiel lebte. Nicht weit vom Meer, dessen Geheimnisse größer waren als die des Weltraums, wie ihr Vater immer sagte. Wie viel Zeit fehlte ihr? Stunden? Tage? Ihr Vater stellte sich neben sie: »Hier sind wir also.« »Ziemlich abgelegene Gegend, oder?« »Wir wollten ein neues Leben anfangen.« ER wollte, nicht Stella. ER versuchte wegzulaufen vor der Vergangenheit. ER hatte sich freiwillig auf diese Insel gerettet. ER wollte ein neues Leben beginnen. Wie denn? Indem er das alte einfach wegwarf, als sei es nie gewesen? Doch diese Diskussionen hatten sie zu Genüge geführt, daher bemerkte Stella lediglich: »Es kommt mir ein bisschen kitschig vor.« »Findest du?« Er legte die Hand an die Stirn, als ob die Sonne ihn blendete, und starrte das Haus an, als prüfe er, ob irgendwo KITSCH draufsteht.
»Es sieht aus wie ein englisches Herrenhaus in einem dieser Filme, die Oma immer schaut, wenn sie bügelt.« »Pat hat sich viel Mühe gegeben. Es ist ein Glück, dass sie das Haus gefunden hat.« »Aber verlange nicht von mir, dass ich reiten lerne.« Ihr Vater sah sie verständnislos an, wie so oft. Er nahm seine Brille ab, als ob er so einen besseren Durchblick bekäme: »Wie kommst du denn darauf?« »Leute, die in solchen Häusern wohnen, reiten immer. Sie tragen schwarze Stiefel, alberne ausgebeulte Hosen und in den dramatischen Szenen fallen sie vom Pferd, ausgerechnet wenn sie schwanger sind.« Endlich verstand er und grinste. »Ich habe mir nie viel aus Pferden gemacht.« »Nein, du würdest dich lieber von einem Wal verschlucken lassen.« »Stimmt, ich wollte schon immer wissen, wie es in seinem Inneren aussieht.« Er schwieg kurz. »Komm, das Gepäck kann ich später holen. Schauen wir uns das Haus an. Pat hat es eingerichtet. Außerdem hat sie eine Überraschung für dich.« Pat, die eigentlich Patricia Anders hieß, war eine alte Freundin ihrer Mutter. Gewesen. Sie war eine Freundin gewesen. Doch wer war diese Frau in dem schmalen weißen Rock und den hohen Schuhen, die jetzt in der Haustür erschien und winkte?
Mama?
Nein. Natürlich nicht. Aber war das Pat? Wirklich Pat? Stella hatte sie ganz anders in Erinnerung. Hatte sie nicht immer verwaschene Jeans und Männerhemden getragen, blonde kurze Haare gehabt und war ziemlich dick gewesen? Jetzt trug sie die Haare schulterlang und hatte sie dunkel gefärbt. Noch ein Erwachsener, der sich offenbar vorgenommen hatte, sein Leben zu verändern und die Vergangenheit hinter sich zu lassen, dachte Stella. »Pat bleibt noch ein bis zwei Tage«, hörte sie ihren Vater sagen, »bis du dich in der Schule eingelebt hast. Ich muss morgen nach Bremen ins Institut. Wenn ich zurückkomme, fangen wir an mit unserem Leben zu zweit.« Stella spürte einen Stich in ihrem Herzen. Kaum angekommen, ließ er sie bereits allein. Typisch. So war er eben. Ein Reisender, ein Seefahrer. Offenbar hatte er nicht die Absicht, sich zu ändern. Was konnte das für ein Leben zu zweit werden, wenn einer ein Nestflüchter war? Als ihr Vater die Enttäuschung in ihrem Gesicht erkannte, erklärte er hastig: »Ich habe noch einiges im Institut zu erledigen. Pat ist ja da.« Ja, Pat war da und lächelte ihr aufmunternd zu, als ob sie ihr sagen wollte: »Ich weiß, es ist schwer. Auch ich habe eine Freundin verloren, aber ich werde dir helfen, hier auf der Insel neu anzufangen.« Sie musste nach vorne schauen, ihr Leben wieder in die Hand nehmen, neuen Kurs einschlagen. Der Ansicht war auch ihre Oma. Deswegen hatte sie ihr die Kapitänsmütze ihres Großvaters geschenkt. Sie ging die Treppe hoch und auf Pat zu, die sie in die Arme nahm. Für einen Moment verharrten sie so. Stellas Herz schlug laut, als sie über Pats Schulter durch die Eingangstür in den Hausflur sah. Ein Gefühl sagte ihr, sie sollte umdrehen. Unwillkürlich zuckte sie zusammen. Doch Pat hielt sie fest, wischte sich kurz über die Augen und sagte dann betont munter: »Das Haus ist wirklich ein Glücksfall. Es hätte deiner Mutter gefallen. Sie wollte immer auf der Insel leben.« Wieder dieser Stich im Herzen. Hätte. Ein Wort, das sie in Zukunft begleiten würde.
Stella machte sich los und Pat schob sie energisch ein Stück vor. »Komm, ich zeige dir alles.« »Wie viele Zimmer hat es?«, fragte Stella und trat in den Flur. »Zehn.« »So viele?« »Gefällt es dir nicht?« »Klar«, antwortete Stella. »Echt toll. Bloß dass wir nur zu zweit sind.« »Du wirst dich schon einleben. Freust du dich auf die Schule?« Pat hatte keine Kinder, sonst wüsste sie, dass eine neue Schule vergleichbar war mit einem Haifischbecken. Stella konnte sich die Blicke richtig vorstellen. Wenn die anderen erfuhren, was ihr passiert war, würden sie mit Sicherheit tuscheln. Andererseits, keine Panik. Sie fand schnell Freunde. Vermutlich auch in einem Haifischbecken. Schließlich war sie in ihrer alten Schule beliebt gewesen. Hatte zu den Auserwählten gehört. Zu denen, die den Ton angaben. Sie hatte so viele Briefe im Krankenhaus von Freunden und Klassenkameraden erhalten, dass sie nicht alle beantworten konnte. Auch Caro hatte die ersten Wochen jeden Tag geschrieben. Allerdings war seit zwei Monaten kein einziger Brief mehr gekommen. Vermutlich war sie noch immer verliebt. In diesen Michael. Dem Foto nach ein ideales Double für David Beckham. »Ehrlich gesagt, ein bisschen Panik habe ich schon«, sagte Stella, zog den Haargummi aus dem Pferdeschwanz und schüttelte ihre Haare glatt. »Ach was, Panik. So ein großes Mädchen wie du.« Pat strich Stella liebevoll eine Strähne aus der Stirn »Ich bin sicher, du wirst hier schnell neue Freunde finden.« Stella schwieg. Tatsache war, sie war hier auf der Insel eine Fremde. Wie Robinson Crusoe war sie, nachdem sie Schiffbruch erlitten hatte, auf der Insel angeschwemmt worden, und hatte wie dieser die Absicht, sie so schnell wie möglich wieder zu verlassen. Der Geburtsort ihres Vaters war Bremen. Wie der von Robinson Crusoes Vater. Beide stammten aus einer Familie von Abenteurern und Seefahrern. Stellas Großvater war Kapitän gewesen. Ihr eigener Vater unternahm immer wieder Expeditionen mit der Nordstern, einem deutschen Forschungsschiff. »Deine Mutter hätte gewollt, dass du tapfer bist«, erklärte Pat, »dass wir alle tapfer sind.« Hätte. Hätte. Hätte. Ihre Mutter hatte sie verlassen. Sie hatte sie einfach auf der Erde im Stich gelassen und hatte nur Sven mit sich genommen. Stella griff nach der Kapitänsmütze ihres Großvaters und drehte sie nach hinten. »Na ja«, erklärte sie, »die neue Schule ist bestimmt . . .«, ihr fiel so schnell kein Wort ein, »…ultracool.« Ihr Vater nickte erleichtert. Mein Gott, war der leicht zu täuschen. Er hatte keine Ahnung, dass ein Wort wie »ultracool« im wirklichen Leben nicht mehr bedeutete als nett. Pat ging voraus, den lang gezogenen Flur entlang, der am anderen Ende vor einer braunen Tür endete. Links hing ein großer Spiegel in einem vergoldeten Rahmen. Pat hielt kurz inne und warf einen prüfenden Blick hinein, bevor sie auf ihren hohen Schuhen weiterging. Die Absätze klackten laut auf dem alten Steinboden, der das Haus kalt machte und klamm. Alles war fremd. Nicht nur der Boden oder dieser riesige Spiegel, auch die Bilder und die alte Truhe mit den aufwendigen Schnitzereien. Ein alter Pastor hatte hier gewohnt. Na super! Das Haus war heilig. »Was möchtest du zuerst anschauen?« Pat drehte sich zu ihr um. »Mein Zimmer.«
»Dann komm. Es ist oben.« Pat ging vor ihr die Treppe hoch. Die alten Holzstufen knarrten unter ihren Schritten. An den weiß gestrichenen Wänden hingen Aquarellbilder von der Insel. Ganz oben der Leuchtturm, dessen Signallampe einem Schiff auf dem sturmgepeitschten Meer den Weg wies. Ihr Zimmer lag rechts. Eine Art Puppenstube mit schrägen Wänden, Dachbalken und blau-weißer Blümchentapete. Ein unbekannter abgenutzter Teddybär saß auf der gestreiften Bettwäsche mit Spitzenbesatz. Laura Ashley ließ grüßen. »Komm her, bei schönem Wetter kannst du das Meer sehen!« Pat stand an dem runden Fenster, das in der Giebelwand wie das Bullauge eines Schiffes saß. Stella trat neben sie. Unten grenzte ein weißer, hoher Zaun das Grundstück von einem schmalen, ungepflegten Feldweg ab. Ein alter Walnussbaum wuchs fast in das Zimmer hinein. »Toll«, erwiderte Stella höflich. Pat meinte es schließlich gut, aber sie wusste genau: Wie Robinson Crusoe würde sie die Tage zählen, indem sie Striche in den alten Holzbalken ritzte, der aus der weißen Decke ragte. Bis sie irgendwann von der Insel befreit wurde. Dann fiel ihr Blick auf ihre Gitarre. Nein, es war nicht ihr altes Instrument, es war...sie konnte es kaum glauben, es war eine E-Gitarre. Sie stand unter der Dachschräge. Sie stieß einen Begeisterungsschrei aus. »Wo habt ihr die denn her?« »Im Internet gekauft«, antwortete Pat stolz und strich mit ihren rot lackierten Fingern über den braunen Lack des Musikinstrumentes. »Ich finde es so praktisch. Du kannst sie leise stellen und störst niemanden, wenn du übst.« Stella antwortete nicht. Eine E-Gitarre war nicht dazu da, um Stille zu verbreiten. Es ging vielmehr um den vollen Sound des Lebens. Sie hatte geglaubt, in der Stille auf der Insel automatisch gehörlos zu werden, doch jetzt konnte sie dieses Haus aufschrecken. Falls der letzte Pfarrer noch als Geist auf dem Dachboden lebte, würde er spätestens ausziehen, wenn sie zu üben begann. »Gefällt sie dir?« Ihr Vater schaute sie fragend an. Stella nickte. Okay, sie hatte sich zwar eine weiße gewünscht, aber was soll’s. »Danke«, sagte sie. Er hob verlegen die Hände. »Danke nicht mir, das war allein Pats Idee.« »Danke«, wandte sie sich an Pat, die ihren Vater zufrieden anlächelte. Stella nahm die Gitarre in die Hand und setzte sich auf ihr neues Bett. Gewohnheitsmäßig begann sie die ersten Akkorde anzuschlagen. Sie wollte das Lied für das Schulkonzert spielen, das an ihrer alten Schule im September hatte stattfinden sollen und das nun ohne sie ablaufen würde. Doch die Griffe fielen ihr nicht mehr ein. Ihr Kopf war leer. Da war es wieder, das große Loch, in das ihre Gedanken fielen und verschwanden wie ein Albtraum, an den man sich am nächsten Morgen nicht mehr erinnert, weil man ihn einfach nur vergessen will. »Ich kann mich an nichts erinnern«, flüsterte sie. Alle schwiegen. Die Stille hing im Raum. Sie breitete sich aus wie eine schwarze Flüssigkeit. Als hätte Stella ein Gefäß umgestoßen, aus dem jetzt die Trauer floss.
Retrograde Amnesie.
Die Ärzte hatten es ihr ausführlich erklärt.
Gedächtnisverlust für den Zeitraum vor Eintreten des Unfalls. Im Gedächtnis gespeicherte Bilder oder Zusammenhänge können nicht in das Bewusstsein geholt werden.
Das klang wie ein Computerfehler in ihrem Gehirn. Irgendein Virus auf der Festplatte, der ganze Tage in den Zwischenspeicher kopierte. Sie musste einfach Geduld haben, so Dr. Heilmann, der eigentlich Mayer hieß. Irgendwann tauchten sie wieder auf, die Erinnerungen. Wie Inseln im Ozean der Gedanken. Pat hob energisch Stellas Koffer aufs Bett, öffnete ihn und begann auszupacken. Offenbar wollte sie ihr damit zu verstehen geben, es sei besser, etwas zu tun, als zu grübeln. In ihrer Hand hielt sie nun das blaue Notizbuch, das Dr. Mayer Stella zum Abschied geschenkt hatte. »Dein Logbuch«, hatte er erklärt, »wenn du aufbrichst zu der Reise zurück. Und wenn sie auftauchen, die Gedächtnisinseln, kannst du sie hier festhalten.« Er hatte eindeutig eine poetische Ader, der gute Herr Mayer, und viel mit ihrem alten Gitarrenlehrer gemeinsam.
Stella. So leise wie Vogelgezwitscher. Stella. Stella.
Stella nahm Pat das Buch aus der Hand. »Ich mache das schon.« Bloß nicht heulen, Kapitän, dachte sie. Da spürte sie etwas Weiches an ihrer Wange. Es bewegte sich. Ihre Hand griff danach. Ein klägliches Maunzen. Erst leise, dann immer lauter. Sie schaute zur Seite, und als sie sah, was ihr Vater in den Händen trug, freute sie sich zum zweiten Mal an diesem Tag. Tränen traten ihr in die Augen. Eine Katze. Eine kleine schwarze Katze mit einem weißen Fleck ums rechte Auge. Als ob sie ein Monokel trug und unheimlich klug war. Mein Gott, seit Jahren hatte sie sich eine gewünscht. Erst war die Stadtwohnung zu klein gewesen, dann die Schwangerschaft ihrer Mutter und natürlich Sven. Die Katze versuchte sich aus den ungeschickten Händen ihres Vaters zu befreien.
Sie miaute erbärmlich, den verzweifelten Blick auf Stella gerichtet. »Vielleicht«, meinte Stella an ihren Vater gewandt, »verstehst du ja etwas von Bakterien im Packeis, aber lass bitte die Katze in Ruhe.« Sie nahm ihm das schwarze Fellknäuel ab und hob es in die Luft. »Freitag«, stellte sie schließlich zufrieden fest. »Genau! Das ist gut! Das gefällt mir!« Den verständnislosen Blick ihres Vaters ignorierte sie. Zärtlich strich Stella der Katze mit der Hand über das schwarze Fell, aus dem ihr das weiß umrandete Auge entgegenblinzelte. Sie legte den Kopf zur Seite, schaute das Tier noch einmal prüfend an und nickte schließlich: »Freitag. Sie soll Freitag heißen.«