DREI

Wie immer derselbe Traum. Keine wirkliche Erinnerung, sondern Bilder, die ihre Fantasie nach Lust und Laune in der Nacht zusammengepuzzelt hatte. Stella saß auf dem Rücksitz des kleinen Wagens ihrer Mutter. Sie raste durch einen Wald. Es gab keinen Weg, nur Bäume. Es war geradezu unmöglich durchzukommen. Jede Minute, jede Sekunde würden sie gegen einen der Stämme knallen mit einer Geschwindigkeit, die das Auto in der Mitte spalten würde. Und das Schlimmste! Sie war angeschallt, aber der Gurt wand sich um ihre Kehle, zog sich fester und fester. Dabei musste sie doch nach vorne. Sie musste das Auto aus dem Dickicht lenken. Niemand außer ihr konnte das tun. Und dann die Erkenntnis: Die beiden Plätze vor ihr waren leer und das Lenkrad fehlte. Regen drang durch das Autoblech. Sie spürte ihn auf ihrem Gesicht und schlug die Augen auf. Wo war sie? Was war das für ein Zimmer? Stellas Herz schlug heftig. Sie war schweißgebadet, als sie sich aufrichtete. Ach ja, auf der Insel gestrandet. Puh, was für ein scheußlicher Traum! Geradezu abartig widerwärtig. Einfach Horror! Stella war Freitag dankbar, dass er sie abgeleckt und aus dem Schlaf gerissen hatte. Auch wenn der Wecker erst sechs Uhr früh zeigte. Durch das Bullauge sah Stella dichten Nebel. Er lag über der Insel, als sei diese noch nicht richtig wach. Genau wie sie selbst.

Vom Nussbaum war lediglich ein Schatten zu erkennen. Graue Finger, die sich nach ihr ausstreckten. Positiv denken, dachte sie, immer positiv denken. Sie wollen dich begrüßen. Ein Baum ist ein Freund. Das stand in jedem Kinderbuch. »Na«, sagte sie zu der Katze, die vor dem Bett saß und sie aufmerksam beobachtete, »wirst du mich jetzt jeden Morgen wecken?« Ihre Frage verstand Freitag als Aufforderung, erneut aufs Bett zu springen. »Lass sie nur nicht ins Bett, sonst gewöhnt sie sich daran«, hatte Pat sie am Vorabend gewarnt. Doch Stella hatte gar nicht hingehört. Warum auch? Freitag sollte sich schließlich daran gewöhnen. Es war schön, nicht alleine zu sein in der Nacht, wenn die Träume kamen. Freitag begann zu schnurren, als ihre Hand seinen Nacken kraulte. »Die Katze ist kein Kater, du musst ihr einen weiblichen Namen geben«, hatte Pat gesagt. Namen waren wie die Augenfarbe. Nicht zu ändern. »Ich muss aufstehen«, gähnte Stella »aber du kannst liegen bleiben. Weißt du, wie gut du es hast?« Freitag antwortete nicht, sondern krümmte den Rücken, um sich in der Bettdecke eine Mulde zurechtzutreten. Vorsichtig zog Stella die Beine an, schob die Decke ein Stück zurück und stand auf. »Du musst nicht in die Schule gehen.« Freitag erstarrte für einen Moment. »Das ist nicht fair. Du hast es wirklich gut. Sag, kannst du mir nicht auch beibringen, Mäuse zu fangen? Ich könnte Nacht für Nacht mit dir auf Streifzug gehen. Würde dir das gefallen?« Freitag fuhr sich ein paar Mal rasch mit den Pfoten durchs Gesicht und legte sich tatsächlich zum Schlafen. »Das ist nicht nett von dir, es dir gemütlich zu machen, während ich ins Haifischbecken muss. Wenn du jetzt schläfst, dann tausche ich dich gegen einen Hund. Der wäre dankbar. Dankbar«, wiederholte Stella und schlüpfte in die Hausschuhe, »mich an meinem ersten Tag zu begleiten. Es wäre ihm eine Ehre. Aber du? Dich kümmert es einen Scheiß, wie es mir geht, oder?« Freitag hob den Kopf und lauschte. »Wirst du an mich denken heute Vormittag?« Stella legte ihren Kopf auf den Katzenkörper und roch die Wärme und das bedingungslose Vertrauen in das Leben. Sie war eine durchschnittliche Schülerin. Vielleicht sogar etwas besser und bisher gerne zur Schule gegangen. Warum fürchtete sie sich jetzt? Vielleicht war es wirklich so, wie Pat gestern voller Zuversicht gesagt hatte. Sie würde sich schnell eingewöhnen und neue Freunde finden. Auch ihr Vater hatte zugestimmt: »In deinem Alter ist man neugierig und der Ort, wo diese Neugierde befriedigt werden kann, ist die Schule.« »Das glaubst du ja wohl selbst nicht«, hatte Stella widersprochen, »ich weiß zufällig, dass du ein ganz miserabler Schüler warst.« »Woher hast du das denn?« Mama hat es mir erzählt, hatte ihr schon auf der Zunge gele-gen...Sie hatte es nicht ausgesprochen, sondern gesagt: »Ich weiß es von Oma.« »Die eigene Mutter fällt mir in den Rücken«, hatte er Pat erklärt, die das Weinglas an den Lippen herzlich in sein Lachen eingestimmt hatte. Stella aber hatte ein komisches Gefühl gehabt, weil sie plötzlich gewusst hatte, dass sie »Mutter« nicht einfach aus dem Wortschatz löschen konnte, nur weil die eigene tot war. Sie zog die älteste Jeans über, die sie besaß. Dazu ein dunkelblaues T-Shirt. Die Haare zu einem Pferdeschwanz binden. Nur nicht auffallen. Das stand in ihrem Logbuch auf der ersten Seite. »Ich finde, du solltest dich nicht so hängen lassen«, erklärte sie Freitag, der aufsprang, als hätte er verstanden, sich streckte, vom Bett hüpfte und um ihre Beine strich. In diesem Moment wusste Stella sicher, dass sie Freitag nie eintauschen würde. Gegen keinen Hund der Welt und gegen niemanden sonst. »Ich weiß ja, du willst dein Frühstück. Es geht dir nicht wirklich um mich, aber ich verzeihe dir.«

Der Frühstückstisch war reichlich gedeckt. Pat hatte sich Mühe gegeben. Sogar Blumen hatte sie im Garten geschnitten. »Gut geschlafen?« »Hm«, murmelte Stella. »Hast du geträumt?« Pat beobachtete sie besorgt. »Nein.« Dennoch verfolgte Pat sie weiter mit diesem kummervoll prüfenden Blick, als würde sie ihr nicht glauben. Hatte sie nachts wie in der Zeit nach dem Unfall laut geschrien und Pat, deren Zimmer genau gegenüberlag, hatte sie gehört? Sie beschloss, Pats Blick zu ignorieren, und sah zu, wie diese das Brot dick mit Butter bestrich. »Was möchtest du, Schatz, Marmelade oder Käse?« Offenbar wusste sie nicht, dass Stella morgens keinen Bissen zu sich nahm, nur Tee trank. »Hab keinen Hunger.« »Du musst frühstücken.« Das Messer fuhr in die Marmelade. Stella wollte nicht diskutieren. Nicht morgens um sieben. »Ist Johannes schon weg?« Seit dem Unfall brachte sie das Wort Papa nicht mehr über ihre Lippen, sondern nannte ihren Vater immer beim Vornamen. »Er musste früh los, um die erste Fähre zu erwischen. Er hat heute einen wichtigen Termin im Institut.«

»Ja, ja, alles, was er tut, ist wahnsinnig wichtig. Ich verstehe nicht, wie das Vorkommen von Plankton interessanter sein kann als mein erster Schultag.« »Er räumt heute seinen Schreibtisch im Institut. Es fällt ihm sicher nicht leicht. Er gibt das alles auf, damit er sich um dich kümmern kann. Seine wissenschaftliche Karriere, die Reisen mit der Nordstern. Weißt du, was das bedeutet, an so einem Projekt mitzuarbeiten? Mit diesem Forschungsschiff zur Antarktischen Halbinsel unterwegs zu sein?« »Was hat er denn aufgegeben?«, protestierte Stella. »Packeis, Plankton, Bakterien. Echt spannend.« Pat schwieg einen Moment und sagte dann: »Du musst das verstehen, Stella, auch für ihn ist es nicht einfach. Schließlich arbeitet er seit fast zwanzig Jahren für das Institut. Dieser Job war sein Traum. Und du bist ja schließlich nicht allein, oder?« Sie bemühte sich um einen aufmunternden Ton. »Ich bin ja auch noch da. Ich bringe dich zur Schule.« »Ich kann doch auch mit dem Fahrrad fahren!« Nach dem Traum war Stella nicht nach Autofahren zumute. Außerdem war es verdammt peinlich, in ihrem Alter zur Schule gebracht zu werden. Als wäre sie ein Baby. Mama hätte das verstanden.

Mama. Hätte.

»Ich hasse Auto fahren!« Pat schaute sie lange an. »Du musst vergessen«, sagte sie schließlich. »Vergessen.« »Mit dem Vergessen«, antwortete Stella trotzig, »habe ich ja, wie wir wissen, kein Problem, sondern damit, mich zu erinnern.« Sie konnte nicht verhindern, dass sie laut wurde, dass ihr die Tränen in die Augen schossen. »Da ist nun mal Nirwana in meinem Kopf. Alle erzählen, dass meine Mutter mit hundert Sachen in einen Baum gerast ist. Auf offener Strecke. Aber ich kann es nicht glauben«, sie schlug sich mit der Hand an die Stirn, »weil hier nichts ist, verstehst du? Vielleicht träume ich nur. Was, wenn diese ganze Scheiße einfach nur ein verdammter Albtraum ist? Was, wenn ihr mich alle anlügt?« Pat erstarrte. Schließlich schluckte sie schwer, wandte sich ab und Stella hatte das Gefühl, dass sie ihr etwas verschwieg. Warum? Vor was wollte Pat sie schützen?