SIEBEN
Die Holztreppe, die hoch zum Dachboden führte, knarrte. Je höher sie kam, desto staubiger wurde es. Bis hierher hatte Pats Renovierungseifer nicht gereicht. Wenn Stella Pat richtig verstanden hatte, dann standen dort oben die Kisten mit Dingen aus ihrem ersten Leben. Eine Tür versperrte den Weg zum Dachboden. Sie drückte die Klinke nach unten. Abgeschlossen. Sie versuchte, den Schlüssel umzudrehen. Er ließ sich nicht bewegen. Oder klemmte die Tür lediglich? Sie warf sich dagegen. Nichts rührte sich. Beim nächsten Versuch zog sie die alte Tür ein Stück zu sich heran, bevor sie den Schlüssel drehte. Quietschend sprang der Schlüssel um und die Tür mit lautem Knall auf. Stella starrte in einen dunklen Raum. Es war kaum etwas zu sehen. Die Luft roch modrig und feucht. Kein Laut war zu hören, alles war still, als hätte sie mit dem Betreten des alten Dachbodens auch die Zeit verlassen und sei in eine andere übergewechselt. Eine Gänsehaut jagte ihr über den Rücken. Sie versuchte, sich im Halbdunkel zu orientieren. Langsam setzte sie einen Fuß vor den anderen. Als sie an einen Gegenstand stieß und nach Halt suchte, rieselte Staub von den Dachbalken herab. Ekelhaft! Vielleicht war es doch keine gute Idee. Dachböden waren etwas für Gruselromane. Vielleicht hatte Pat recht und der Vormittag war heute genug Aufregung für sie gewesen. Sie sollte sich hinlegen. Hinlegen. Verdammt, sie war wochenlang im Krankenhaus gelegen. Sie hatte vom Liegen die Nase voll.
I don’t forget you.
Even only my heart can hear your voice.
Ich vergesse euch nicht, auch wenn nur mein Herz eure Stimme hört. Na gut, jetzt hatte sie wenigstens den zweiten Satz ihres Songs.
I don’t forget you. Even only my heart can hear your voice.
Sie flüsterte leise den Text vor sich hin, während sie sich weiter an Kisten, Regalen, Bildern und alten Blumentöpfen entlangtastete, auf einen schwachen Lichtkegel zu, der durch ein rundes Fenster fiel. Langsam gewöhnten sich ihre Augen an das Halbdunkel. Das Fenster war von einem Vorhang verdeckt. Sie schob ihn zurück. Staub flimmerte im Licht. Die Sonnenstrahlen trafen auf ein großes Gemälde in einem schweren Goldrahmen. Ein Schauer überlief sie. Der Mann, den es zeigte, sah streng aus. Seine Augen starrten sie an. Unwillkürlich trat sie einen Schritt zur Seite, doch sein Blick ließ sie nicht los. War er das gewesen? Der Pastor? Sie drehte sich um und spürte noch immer seine Blicke in ihrem Rücken. Auf dem Dachboden standen unzählige Kisten, auf denen zentimeterdick der Staub lag. Offenbar hatte niemand den Besitz des Pastors weggeräumt. Sie hatten das Haus mit seiner Vergangenheit gekauft. Aber wo standen die Kisten, in denen ihre Erinnerungen waren? In einem der alten Schränke? Sie zog eine Tür auf. Sie hing lose in den rostigen Scharnieren, sodass sie ihr fast entgegenfiel, als sie aufsprang. Doch der Schrank war leer. Rechts von ihr hing ein Mantel über einer Wäscheleine. Ein schwarzer Mantel mit Kapuze. Der würde Mary ganz sicher gefallen. Schließlich gehörte das Haus jetzt ihnen und damit alles, was auf dem Dachboden war. Das nächste Mal würde sie Mary mitnehmen. Sie schob den Mantel zur Seite. Dahinter standen noch mehr Kartons, die alle mit einer dicken Staubschicht bedeckt waren – bis auf einen. Ihre Hand strich über den Deckel. Nur wenig Staub blieb an ihren Fingern kleben. Plötzlich überfiel Stella unbändige Sehnsucht danach, eine Erinnerung an ihre Mutter zu finden. Etwas in den Händen zu halten. Irgendetwas – ein Foto, wenigstens ein einziges, einen Ring, ein Tuch, das nach ihr roch. Sie ließ sich neben der Kiste auf den Boden nieder. Als sie diese behutsam öffnete, stieg ein modriger Geruch in die Luft. Bücher. Nichts als Bücher. Grau vom Staub. Sie nahm eines heraus und öffnete es. Ein altes Gebetbuch für Kinder. Diese Kiste hatte offenbar auch dem Pastor gehört. War das sein Name, der vorne im Buchdeckel stand? Jonathan Anderson? Sie legte das Buch zur Seite und nahm das nächste heraus. Eine Bibel für Kinder. Ein Name in einer krakeligen Kinderschrift auf dem Deckblatt Claus Anderson. Auch im nächsten Buch derselbe Name. Diesmal Marco Polo. Die Reise nach Peking.
Seltsam – jemand war erst vor Kurzem hier oben gewesen und hatte die Kiste geöffnet. Warum? Und wer? Da entdeckte Stella, eingeklemmt zwischen den Bücherstapeln, einen hölzernen Rahmen. Ein alter Bilderrahmen. Neugierig zog Stella ihn hervor. Doch als sie ihn umdrehte, war er leer. Jemand hatte das Foto, das er einmal aufbewahrt hatte, entfernt – und zwar vor noch nicht allzu langer Zeit. Es waren noch Fingerabdrücke auf dem Glas zu sehen. Stella schloss den Deckel der Kiste wieder und schaute sich weiter um. Wo waren die Sachen aus ihrem früheren Leben? Sie konnten doch nicht einfach verschwunden sein? Standen sie noch bei ihrer Großmutter? Ihr Vater hatte dort einige Kisten untergestellt, als sie bei ihr gewohnt hatten. Plötzlich spürte sie, wie schmerzlich sie sich nach einem Bild ihrer Mutter sehnte.
I don’t forget you. Even only my heart can hear your voice.
Sie würde ihre Großmutter anrufen und danach fragen. Schließlich konnten sich die Sachen ja nicht in Luft aufgelöst haben. Sie trat zurück ans Fenster. Wie das Bullauge in ihrem Zimmer zeigte es Richtung Meer. In der Ferne war der Leuchtturm zu erkennen. Das Meer war nicht zu sehen. Als sie den Vorhang zuzog, legte sich erneut Dämmerung über den Raum. Ihre Augen hatten sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt. Sicheren Schritts fand sie den Weg zurück zur Tür. Ihr Kopf schmerzte. Etwas stach hinter ihren Augen. Nein, es stach nicht, es war ein kleiner Hammer, der an ihre Stirn klopfte. Sie war zu müde, um zu versuchen, ihre Erinnerungen heraufzubeschwören. Plötzlich bewegte sich etwas zu ihren Füßen. Sie stolperte und konnte sich gerade noch an einem der alten Schränke festhalten, dessen Holz laut knarrte. Was war das? Zusätzlich zu dem Hämmern in ihrem Kopf schoss wieder die Angst in ihr hoch. Das Gefühl, in einer fremden Welt gelandet zu sein, in der sie sich nicht zurechtfand. Unwillkürlich trat sie zu und traf auf etwas Weiches, Lebendiges. Sie hörte einen leisen Schrei, dann ein Fauchen, bis Freitags Jammern in ein klägliches Miauen überging. »Freitag«, rief Stella. »Warum hast du nicht gesagt, dass du es bist?« In einer Welt, in der die Dinge außer Kontrolle gerieten, war es nicht unmöglich, dass Katzen ihre Sprache verstanden. Sie beugte sich hinunter und nahm das Tier auf den Arm. »Ich dachte, du schläfst?« Als Antwort miaute Freitag. »Gehen wir hinunter«, sagte Stella. »Das ist ein blöder, alter Dachboden, der fremden Leuten gehört.« Als sie gerade auf der Treppe war, klingelte unten im Flur das Telefon.
Freitag auf dem Arm, rannte sie los. Die Katze sprang hinunter, als sie das Gespräch entgegennahm. »Bei Norden.« Keine Antwort. »Hallo?« Alles blieb still. Stella wollte gerade die Verbindung unterbrechen, als sie es hörte. Jemand atmete laut. Ein schleifendes Geräusch, wie wenn man die Handflächen aneinanderrieb. »Hallo?« Keine Antwort. »Ist da jemand?« Stille! Offenbar hatte sich der Anrufer verwählt. Sie legte das Telefon zurück und fing Freitag ein, der mit dem Riemen von Pats Handtasche spielte. »Komm, machen wir es uns gemütlich.« Draußen knirschte der Kies unter Autoreifen. Ohne zu wissen warum, rannte Stella schnell hoch in ihr Zimmer. Mit einem Blick aus dem Fenster überzeugte sie sich davon, dass es tatsächlich Pat war, die zurückkam. Schnell schlüpfte sie unter die Bettdecke. Vor Schreck sprang Freitag aus ihrem Arm auf den Boden. Sie zog die Decke bis hoch unter das Kinn und vergrub ihr Gesicht im Kissen. Fragend schaute Freitag sie vom Fußboden aus an. »Komm!« Pat schloss die Haustür auf. »Komm«, flüsterte sie der Katze zu, »komm zu mir.« Freitag zögerte. Kurzerhand zog Stella Freitag nach oben und schob ihn unter die Bettdecke. Gemeinsam atmeten sie im Takt. Als sie hörte, dass Pat die Treppe hochkam, schloss Stella die Augen und flüsterte: »Tu so, als ob du schläfst.« Wie auf Kommando schmiegte sich Freitag dicht an ihren Körper und begann zu schnurren. »Psst«, flüsterte Stella. »Wenn sie dich entdeckt, nimmt sie dich mit.« Leise öffnete sich die Tür. Stella hielt den Atem an. Fast hätte sie Freitag den Mund zugehalten, allerdings schätzte die Katze die Gefahr richtig ein. Nicht ein Laut war zu hören. Nur ihr Schwanz schlug aufgeregt gegen Stellas Hand. Als sich die Tür wieder leise schloss, entspannte sich Stella. Sie war so müde. Begleitet von Freitags Schnurren, nickte sie über der Frage ein, warum sie sich vor Pat versteckt hatte. Sie war eine Freundin der Familie. Sie konnte ihr vertrauen, oder nicht? Doch da war dieses Gefühl, dass Pat ihr etwas verschwieg. Etwas, von dem sie offenbar nicht wollte, dass Stella es erfuhr. Betraf es den Unfall? Plötzlich fühlte sie sich einsam. So musste sich Robinson Crusoe auch gefühlt haben. Vollkommen allein auf der Welt. Mit dem Unfall waren nicht nur ihre Beine gebrochen, sondern noch etwas anderes. Ihr Vertrauen und die Sicherheit, dass das Leben ihr das Beste gab, was es zu bieten hatte. Doch wie hatte ihre Mutter immer in den Momenten gesagt, in denen sie ihr böse war und Vorträge hielt: »Das Leben ist nun mal kein Supermarkt mit Billigangeboten. Man muss für alles kämpfen.« »Mit diesem Spruch kannst du dich bei der Kirche bewerben«, hatte Stella geantwortet.
I don’t forget you. Even only my heart can hear your voice, Please return, when I am calling you. I am calling you now.
Schlief sie? Träumte sie? Stella sah die Sonne untergehen. Sie fiel einfach vom Himmel wie ein Ball.
Windräder drehen sich langsam und gleichmäßig. Wir sind auf dem Weg zu Pat. Der Himmel ist rot wie Mamas Lippenstift. Im Seitenfenster flattert ein Tuch hektisch im Fahrtwind. »Mann, es zieht«, rufe ich genervt. Die Hand meiner Mutter greift nach rechts zum Kindersitz. Sie streicht Sven liebevoll die nassen Haare aus der Stirn, nicht ohne dazu dieses Sven-Gesicht zu machen, mit dem sie jederzeit in Hollywood auftreten könnte. Ich höre richtig die Geigen im Hintergrund, obwohl der Lastzug, den wir überholen, in meinen Ohren dröhnt. Unwillkürlich seufze ich. Der Blick meiner Mutter fällt wie auf Kommando in den Rückspiegel. Ja, antwortet mein Blick, ich weiß, dass ich aus der Nummer raus bin, in der man mir so über den Kopf streicht. »Gib schon her«, meint sie ebenfalls leicht genervt. Es gibt Momente, in denen wir uns blind verstehen, doch dann wieder möchte ich sie am liebsten am Straßenrand aussetzen mit diesem Schreihals neben ihr und davonfahren. Ich reiche ihr die CD nach vorne. Seit wir von zu Hause weggefahren sind, jammere ich, weil ich keine Musik hören darf. Wegen Sven natürlich. Der bestimmt kein Auge zumacht, bis er etwas zu essen bekommt. Ich kenne ihn schließlich schon seit einem halben Jahr, als er wie mein Vater zu sagen pflegt aus dem Krankenhaus frisch verpackt geliefert wurde. Mein Gott, der gute, alte Daddy denkt tatsächlich, ich sei fünf und könnte noch über seine Scherze lachen. Er hat verpasst, dass ich schon vierzehn bin. Ihm entgeht eine Menge. Als Meeresbiologe kennt er sich besser mit Fadenwürmern und Krebsen aus als mit seinen eigenen Kindern. »Lauter«, rufe ich und summe den Refrain mit. Meine Mutter ebenfalls, ja, sogar Sven wird ruhiger. Wusste ich es doch.
Music is the key.
Plötzlich liebe ich Sven, denn er scheint musikalisch zu sein im Gegensatz zu meiner Mutter, die sich, was ihren Musikgeschmack betrifft, auf dem Stand von Neandertalern befindet. It’s my life. Das ist ihr Lieblingssong. Von so einem Typen, der Jon Bon Jovi heißt, was wie eine Bonbonsorte klingt. »Du singst falsch«, stöhne ich. Zur Strafe fragt sie: »Hast du das Mozartstück auf der Gitarre geübt, bevor wir gefahren sind? Das Konzert ist in einer Woche.« »Klar.« Zur Bekräftigung nicke ich, obwohl es nicht stimmt. Mozarts Adagio auf der Gitarre. Funktioniert nicht, meiner Meinung nach. Aber wie immer: Mich fragt ja keiner. Nein, geübt habe ich nicht, sondern stattdessen mit Caro telefoniert. Die ist schon wieder verliebt. Doch ich soll meine Mutter nicht aufregen. Sie hat schließlich, so meine Großmutter am Telefon, eine Geburt hinter sich. Im Alter von zweiundvierzig ist das kein Zuckerschlecken. Ihre Nerven, sagt sie, du musst ihre Nerven schonen. So ein Kleinkind, das kostet Kraft. Sie bräuchte jetzt einen Mann, der zu Hause ist, der ihr hilft, sagt meine Großmutter. Ich weiß genau, wenn ich jetzt von Caro erzähle, will meine Mutter alles ganz genau wissen. Sie würde mit Sicherheit fragen, ob ich auch verliebt bin. Wie kann ein Mensch nur so neugierig sein. Ich singe lauter. Meine Mutter lässt das Steuer kurz los und zieht den Gummi am Pferdeschwanz nach oben. Eine schwarze Strähne hängt ihr ins Gesicht und bewegt sich leicht, wenn sie mit dem Kopf im Rhythmus der Musik wippt. Ihre Schultern zucken. Ihr Oberkörper geht hoch und runter. Ehrlich gesagt, sieht sie aus wie Svens Wackelfrosch, der noch in der Hand zu hüpfen beginnt, wenn man ihn aufzieht. »Oh Gott«, stöhne ich laut. »Was ist los?«, fragt sie. »Du singst nicht nur falsch, du bewegst dich auch absolut daneben.« »Wie, daneben?«
»Na ja, altmodisch eben.« Sie wirft mir einen strengen Blick zu. Falten ziehen sich über ihre Stirn wie Gedankenstriche. »Gib’s auf«, sage ich. »Egal, wie oft du dieses Lied hörst. Du wirst nicht mehr jung.« Ich beginne zu kichern. »Deine beste Zeit ist vorbei wie die von Jon Bon Jovi. Jetzt ist die Jugend an der Reihe.« »Nein, nein, nein, ich gebe nicht so schnell auf. Zeig es mir.« Ich beginne, mich auf der Rückbank im Rhythmus der Musik zu bewegen, übertreibe dabei maßlos. Sie beobachtet mich durch den Rückspiegel. »Ehrlich gesagt, sieht das aus, als ob du einen Anfall hast.« »Von wegen Anfall, das nennt man Tanzen.« Meine Mutter schaut zu Sven hinüber, dem trotz Hunger die Augen zufallen. Er schielt vor Müdigkeit. Augenblicklich macht sie die Musik leiser. Ich hasse ihn. »Mann«, protestiere ich. »Sei froh, dass er schläft«, zischt sie. »Du solltest auch die Augen zumachen. Wir brauchen noch ein paar Stunden, bis wir bei Pat sind.« Sie streicht sich die Strähne aus dem Gesicht. »Freust du dich auf Pat?« Wer will in meinem Alter schon Urlaub mit einem Baby und zwei vierzigjährigen Frauen machen, die sich bei meinem Anblick regelmäßig an ihre eigene Jugend erinnern und in Kichern ausbrechen. Ich nicke. »Ich auch«, strahlt sie glücklich. Windräder, Windräder, Windräder. Die Langeweile brennt sich in mein Gehirn. Irgendwo hinter dem Horizont liegt das Meer.