NEUN

Das Meer rauschte. Es hörte nie auf damit. Ebenso wie der Wind auf der Insel nie zum Stillstand kam. Unaufhörlich blies er ihr die Haare ins Gesicht. Stella saß im Sand. Seit Langem war es das erste Mal, dass sie alleine war. Es war ungewohnt. Seit dem Unfall hatte man sie kaum aus den Augen gelassen. Immer diese besorgten Blicke. Als hätte sie nicht nur ihr Gedächtnis, sondern auch den Verstand verloren. Es war komisch, hier allein zu sitzen. Als wäre sie tatsächlich Robinson Crusoe. Gerade eben erst auf dieser einsamen Insel gestrandet. Das Meer hatte sie in diese Düne geworfen und sie wachte auf, begriff in diesem Moment, dass sie alleine war. Es war nicht schwer, sich das vorzustellen. Genau dasselbe hatte sie im Krankenhaus nach dem Unfall empfunden. Das beunruhigende Gefühl, das sie ergriffen hatte, verschwand nur, wenn das Lärmen ihrer Klassenkameraden vom Turm zu ihr herab drang. Ab und zu erschien einer von ihnen am Fenster. Erst Pepe, dann Mikey und schließlich Robin, der auf sie hinunterschaute, als wolle er sich überzeugen, dass sie noch da war. Dann stürmten sie laut schreiend weiter die Treppen hinauf. Jungs waren überall auf der Welt gleich. Wenige Minuten später verstummten auch diese Geräusche. Der Wind wurde stärker und übertönte alles, sogar das Rauschen des Meeres. Er trieb die Wolken über den Himmel, wie die Sportlehrerin ihrer alten Schule sie durch die Halle gejagt hatte. Stella legte sich im Sand zurück und schloss die Augen.

Trotz des Windes wurde ihr in der Sonne, die auf den Sand brannte, warm. Sie zog die Jacke aus und legte sie neben ihren Rucksack. Gestern Abend hatte sie Caro angerufen, die gerade auf eine SMS von ihrer neuen Liebe wartete. Sie hatte Stella kaum zugehört, weshalb sich diese total verlassen gefühlt hatte. Wie jetzt. Wie seit drei Monaten. Kurz: Sie war dabei, sich zu bedauern. In dieses Loch zu fallen, das Selbstmitleid heißt. »Reiß dich zusammen, Captain«, sagte sie laut zu sich selbst und sprang auf. Wenn wenigstens Freitag hier wäre. Oder sie ihre Gitarre mitgenommen hätte, so wie Robin. War ja fast abartig, dass er sich nie von dem Instrument trennte. War er einsam wie sie? Aber er wurde von allen bewundert. Während sie niemanden kannte. Was soll’s, sie hatte sowieso keine Lust, jemanden kennenzulernen. Sie würde nicht auf der Insel bleiben, sondern weggehen. Bald. Denn wenn sie sich erst eingewöhnte, wenn man sie besser kannte, kamen mit Sicherheit die Fragen. Vermisst du deine Mutter? Wie ist das, wenn man sich nicht erinnert? Warst du sehr traurig? Nein, verdammt, Stella hatte sich gefreut, als sie erfuhr, dass ihre Mutter tot war. Und Sven. Unser Glücksbringer, hatte ihre Mutter zu Pat gesagt. Stella hielt die Hand vor die Augen, um sich vor dem grellen Licht der Sonne abzuschirmen.

Glücksbringer. Meine Mutter hält den blond gelockten Sven auf dem Arm. Ich sitze noch im Auto und beobachte, wie Pat aus dem Haus kommt. Sie trägt die üblichen ausgebeulten Jeans und eine lange karierte Bluse. Die blonden langen Haare hängen ihr ins Gesicht wie verkochte Spaghetti. »Hier«, sagt Mama, »unser Glücksbringer.«

Sven fängt an zu schreien, als Pat ihn entgegennimmt. »Sehr glücklich scheint er nicht zu sein«, sagt sie. »Und du sahst auch schon mal besser aus.«

Stella riss die Augen auf. Sie hätte mit Mary hochgehen sollen. Die war zwar total abgedreht, aber das war es, was sie brauchte. Nicht das normale Leben. Dieses betrügerische Leben. Ein totaler Reinfall. Es versprach einem etwas und hielt diese Versprechen nicht. Glück zum Beispiel. Oder dass Eltern immer am Leben bleiben.

Mama, musst du auch einmal sterben?

Wie alt war sie gewesen, als sie ihre Mutter gefragt hatte, vielleicht fünf oder sechs?

Mama, musst du auch einmal sterben?

Heute nicht, mein Schatz, hatte ihre Mutter geantwortet, und soweit sich Stella erinnerte, hatte sie sich mit dieser Antwort zufrieden gegeben.

Heute nicht.

Aber was war morgen? Was war übermorgen? Kurz entschlossen sprang Stella auf. Die Eingangstür zum Leuchtturm stand weit offen.

Als sie aufhörte zu zählen, hatte sie achtzig Stufen hinter sich. Von oben drangen die Stimmen und das Gelächter ihrer Klassenkameraden zu ihr. Einer der Jungs brüllte wie Leonardo di Caprio: »Ich bin der König der Welt.« Offenbar waren sie am Ziel angelangt. Unwillkürlich wurde ihr Schritt schneller. Dann plötzlich Ruhe. Sie blieb stehen. Hatte das Gefühl, dass der Leuchtturm im Wind schwankte, sich leicht zur Seite neigte, wie der schiefe Turm von Pisa. Oder war ihr schwindelig? Immer höher stieg sie. Eine Stufe nach der anderen. Ihre Beine schmerzten an der Stelle, an der die Knochen zusammengeschraubt waren. Sie wurde nur noch von Schrauben zusammengehalten. Seltsamer Gedanke. Nahm der Turm kein Ende? Sie war bereits völlig außer Atem. Warum war sie nicht unten geblieben? Schließlich stand sie an einem neuen Treppenabsatz. Ein Schild an der Wand: Betreten verboten. War sie im falschen Turm? Eine ganze Klasse hatte den Leuchtturm bestiegen und war plötzlich verschwunden. Hatte sich in Luft aufgelöst. War ins Meer gestürzt. Vielleicht waren sie schon ganz oben auf der Plattform, von der aus früher Leuchtfeuer gezündet worden waren, um Schiffen den Weg durch die Untiefen zu weisen. »Hallo«, rief Stella. Niemand antwortete. Sie stieg weiter hinauf. Mit Sicherheit waren das mehr als einhundertfünfundsiebzig Stufen. Jetzt konnte es nicht mehr weit sein. Noch eine Biegung und sie stand vor einer geschlossenen Tür aus schwarzem Metall, gegen die von außen der Wind drückte, sodass sie sich nicht öffnen ließ. Stella musste sich mit aller Kraft dagegenwerfen, bis sie plötzlich aufsprang, als hätte sie jemand auf der anderen Seite aufgezogen. Stella trat hinaus auf die Aussichtsplattform. Sie schwankte im Wind. Um das Geländer war ein rot-weißes Absperrband geschlungen und ein Teil der Barriere hing lose in den Scharnieren. Unwetter und Stürme hatten dem Geländer zugesetzt und es gelockert. »Hallo«, rief sie erneut. Sie glaubte Stimmen zu hören, doch es konnte auch der Wind sein. Wo waren alle? »Hallo! Wo seid ihr?« Keine Antwort. Sie horchte weiter. Nichts. Nur der Wind pfiff. Sie trat näher an das Geländer. Wie hoch war der Turm? Wie viele Meter waren es bis nach unten, wo das Wasser sich an den Felsen brach? Ihr war kalt. Was machte sie eigentlich hier? Sie hätte unten bleiben sollen. Offenbar war ihre Klasse irgendwo anders im Leuchtturm. Sie wandte sich zum Ausgang. Zu spät. Mit einem lauten Knall fiel die Tür wie von selbst ins Schloss. Oder war es der Wind gewesen? Stella versuchte, sie aufzuziehen, aber sie bewegte sich nicht. Sie zog mit aller Kraft. Keine Chance. Sie ließ sich nicht öffnen. Erstarrt hielt Stella inne. Der Wind war so laut, dass sie mit Sicherheit niemand hören würde, selbst wenn sie sich die Seele aus dem Leib schrie.

Stella. Jemand ruft mich. So leise wie Vogelgezwitscher. Stella. Stella.

Sie wollte weg. Nach Hause. Die Tränen schossen ihr in die Augen. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Ihr wurde schwindelig. Sie begann gegen die Tür zu trommeln. »Hilfe, hört mich denn niemand?« Verzweifelt warf sie sich gegen die Tür. Immer wieder, bis sie plötzlich ins Leere fiel. Nein, nicht ins Leere. Jemand fing sie auf. Unwillkürlich klammerte sie sich an diesen Jemand. Er hielt sie fest. Sie stieß gegen einen Gegenstand, der laut widerhallte. Ein dumpfer, klirrender Ton. »Was machst du denn hier oben?« Es war Robin.

Augenblicklich riss Stella sich zusammen. Ihre Angst ging niemanden etwas an. »Was wohl. Ich habe euch gesucht.« »Hast du das Schild nicht gesehen? Betreten verboten!« »Na und? Hältst dich wohl immer an die Gesetze? Weil dein Vater ein Bulle ist.« »Entschuldigung«, sagte er und drehte sich um. Die Gitarre schwang nach vorne. »Ich habe dich nach oben gehen sehen. Ich bin dir gefolgt, um dir zu sagen, dass wir im Museum sind. Dort wird ein Film gezeigt.« »Hätte mir ja auch jemand sagen können.« Er antwortete nicht, sondern ging vor ihr die Treppe hinunter. Stella folgte ihm, zitternd vor Aufregung und Kälte. Ein Stockwerk tiefer drehte er sich um. »Entschuldige, ich wollte dich nur warnen. Hier oben ist es verdammt gefährlich. Da haben sich schon viele Leute hinuntergestürzt. Daher ist es auch verboten hochzugehen.« »Na und«, antwortete Stella schnippisch, »ich habe keine Angst, du etwa?«