ELF
Regentropfen schlugen gegen die Scheibe des Busses, mit dem Stella nach Hause fuhr. Sie wischte die beschlagene Fensterscheibe mit einer Hand frei und starrte hinaus. Am Straßenrand neigten sich die Bäume im Wind. Sie hatte gewusst, dass das mit der Band ein Reinfall werden würde. Marys Augen hatten vor Wut gefunkelt. Ach was, Wut, das war Hass gewesen. Ihre Augen hatten vor Hass gebrannt, sodass der dunkle Lidschatten wie Asche von den schwarz getuschten Wimpern rieselte. Dabei hatte sie sich lediglich mit Robin unterhalten, mehr nicht. Das mit dem Arm um ihre Schultern, das war doch nur, weil sie geweint hatte. Ihre Mutter war tot, ihr Bruder. Er wollte sie trösten. Robin Hood spielen. Warum kapierte Mary das nicht einfach? Wasser spritzte hoch, als der Bus quietschend an der Haltestelle hielt. Sie war die Einzige, die ausstieg. Die letzten hundert Meter bis zum alten Pfarrhaus ging sie im strömenden Regen. Der Bus dröhnte laut, als er um die Kurve fuhr. Sie hoffte, Mary würde ihr die Gelegenheit geben, alles zu erklären. Sie musste das wieder ins Lot bringen. Die Vorstellung, den Rest des Schuljahres neben einem Mädchen zu sitzen, das sie hasste, war voll deprimierend. Außerdem mochte sie Mary. Sie hatte zwar eine irre Art zu reden, aber sie versuchte wenigstens nicht, auf Mitleid zu machen. Im Gegenteil. Mary Shelley liebte alles, was nicht normal war. Und Stella war nicht normal. Sie war überzeugt, Mary würde ihr am liebsten ihr Gehirn abkaufen, um zu erfahren, wie das war, das Gedächtnis zu verlieren. Umso krasser, dass sie ausgerechnet in den smarten Robin verliebt war. Obwohl sie nach dem heutigen Nachmittag durchaus verstand, dass Mary in seiner Gegenwart weiche Knie bekam. Als sein Arm sie festgehalten hatte, hatte es sich angefühlt wie ein Versprechen, dass ihr nichts passieren konnte. Das Haus lag in völliger Stille, als Stella den Flur betrat. Nachdem sie die klatschnassen Schuhe ausgezogen hatte, rannte sie hoch in ihr Zimmer, um die Kleider zu wechseln. Für einen Moment setzte sie sich auf die Bettkante und schaute zum Bullauge, wo die Zweige des alten Nussbaums gegen das Glas schlugen, als ob er anklopfen würde. Seine knorrigen Äste sahen in der hereinbrechenden Dunkelheit wie lange Finger aus. Ein Schauer lief durch ihren Körper. Stell dich nicht so an, Stella! Energisch sprang sie auf, um die Schultasche für den nächsten Tag zu packen. Sie blätterte das Referat kurz durch und steckte es zwischen die Schulhefte. Dann zog sie ihr Logbuch unter der Matratze hervor, in dem sie die wenigen Erinnerungsfetzen, die sie die letzten beiden Wochen überfallen hatten, eintrug. Sie nahm es mit nach unten in die Küche, wo sie die Milch aus dem Kühlschrank holte und zu einem langen Schluck ansetzte, als Freitag ihr schmeichelnd um die Beine strich. Sobald sie das Wort »Kühlschrank« dachte, war er schon da. »Du weißt, dass du fett wirst, wenn du weiter so frisst.« Sie füllte ihm Katzenfutter in die Schüssel. »Außerdem stinkt das Futter.« Freitag schien das nicht zu stören. »Ist es dir scheißegal, was andere über dich denken?« Ja, offenbar war es der Katze scheißegal. Sie schaute nicht einmal auf.
»Mir nicht. Mir ist es verdammt noch mal nicht egal, dass Mary mich jetzt hasst.« Freitag schmatzte, leckte sich die Lippen, überlegte kurz, schien sagen zu wollen: »Reg dich ab.« »Was soll ich jetzt machen?« »Nichts? Ich soll nichts machen? Du bist mir wirklich keine Hilfe. Von mir kriegst du heute keine Leckerbissen mehr. Da kannst du Gift drauf nehmen.« Sie nahm die Flasche Milch mit. Im Wohnzimmer schaltete sie den Fernseher ein. Auf VIVA kamen die neuesten Charts. Das Video von Marys Lieblingsgruppe lief.
Die Wahrheit ist ein Chor aus Wind. Kein Engel kommt, um Euch zu rächen. Diese Tage Eure letzten sind. Wie immer war der Text düster, voller Blut und Gewalt. Plötzlich zweifelte Stella, dass Mary ihr verzeihen würde. »Soll ich Mary anrufen?«, fragte sie Freitag, der es sich auf dem Sofa bequem machte. Nickte er oder war er am Einschlafen? »Was, wenn sie mich abblitzen lässt? Wenn sie mich nicht erklären lässt, wie alles war?« Ihr schien, als ob Freitag mit den Schultern zuckte. Sie schob ihn vom Sofa herunter: »Du bist mir ja eine schöne Hilfe, verdammt noch mal. Kannst du mir nicht einen Rat geben?« Ihre Mutter, ihre Mutter hätte gewusst, was sie machen sollte. An wen sonst könnte sie sich wenden? Wen fragen? Wem ihre Sorgen erzählen? Caro! Seit jeher hatte sie Caro alles erzählt. Warum nicht jetzt? Sie konnte sie anrufen. Sie holte das Telefon aus dem Flur und kuschelte sich auf das Sofa. Draußen peitschte der Regen. Die beiden Birken, die wie zwei Wächter das Gartentor einrahmten, neigten sich einander zu, als wollten sie sich anlehnen. Das Tor schlug gegen den Pfosten. Sie hatte es geschlossen und den Hebel vorgeschoben, oder nicht? Egal. Sie wählte Caros Nummer. Die Freundin meldete sich sofort. Sie musste neben dem Telefon gesessen haben. »Caro, bist du es?« »Stella? Wie geht es dir?« Sehr begeistert klang ihre Stimme nicht. Nicht so, als hätte sie sehnsüchtig darauf gewartet, dass ihre älteste Freundin sie anrief. »Gut.« »Was Neues auf deiner Insel?« Wo sollte sie anfangen? Alles war neu. »Ich war heute zum ersten Mal bei der Band. Wir haben in sechs Wochen ein Konzert.« »Vor wem spielt ihr denn? Vor dem Klub der alten Matrosen?« Caro brach in Lachen aus. »Ich habe meinen eigenen Song, den die Band spielt.« »Cool. Irgendwann kommst du ganz groß raus.« Eine Weile fiel kein Wort. Schließlich fragte Stella: »Was macht die Liebe?« »Er hat mich geküsst.« Caro kicherte. Für einen Moment war es wie früher. »Hat es geschmeckt?« »Nicht wirklich.« »Dann lass es!« »Vielleicht muss ich noch üben.« »Vielleicht ist er nicht der Richtige.« Wieder Schweigen. »Ist etwas nicht in Ordnung?«, hörte sie Caro fragen. Freitag schreckte aus dem Schlaf, als hätte er schlecht geträumt. Er sprang auf, den Schwanz gestreckt, die Ohren gespitzt.
Stella begann ihn zu streicheln und versuchte ihn auf den Schoß zu nehmen, doch er sträubte die Haare. »Habe ich dir von Mary Shelley erzählt?« »Der Gothiclady?« »Ja.« »Was ist mit ihr?« »Sie ist sauer«, brach es aus Stella heraus. Aus dem Flur hörte sie ein Geräusch. War ihr Vater schon zurück? Sie lauschte. Nichts rührte sich. Sie musste sich verhört haben. Caro hatte offenbar etwas gesagt, denn sie fragte plötzlich: »Bist du noch dran?« »Was? Ja, klar. Ich dachte nur, mein Vater kommt nach Hause.« »Ich habe gefragt, warum sie sauer ist.« »Sie ist in einen Typen verknallt, und denkt, ich habe was mit ihm?« »Hast du?« »Nein«, rief Stella entrüstet. Unwillkürlich dachte Stella an Robins Arm um ihre Schultern. Es war nicht dasselbe wie ein Kuss, aber es hatte sich gut angefühlt. Sofort schob sie den Gedanken wieder beiseite und dachte an Mary. »Ist er cool?«, fragte Caro. »Hm.« »Also ja.« »Er ist der Gitarrist in der Band.« »Also Jonas, der ist ein Superschwimmer. Du müsstest ihn mal sehen. In seinem einteiligen Schwimmanzug. Rot! Stell dir das mal vor.« Ging jemand die Treppe hoch? Stellas Herz klopfte. Mary hatte gesagt, im alten Haus würde es spuken. Gehörten dazu Schritte und knarrende Stufen?
»Hörst du mir eigentlich zu?«, fragte Caro am anderen Ende entrüstet. »Was hast du gesagt?« »Bist du ihn in verknallt?« «Nein.« »Ich bin total verknallt.« Das war ja nichts Neues. Seit einem Jahr drehte sich bei Caro alles um irgendeinen Typen. »Sein Foto liegt unter meinem Kopfkissen«, hörte Stella sie sagen. »Bringt das was?« Caro kicherte. »Süße Träume.« Jetzt waren die Schritte oben im ersten Stock. Sie gingen Richtung Dachboden. »Also, was ist mit dieser, sie heißt Mary, oder?« »Eigentlich Antje, aber sie will Mary genannt werden . . .« »Sie ist mit Sicherheit verrückt. Wenn sie zickt, schieß sie in den Wind. Die sind sowieso alle irre in dieser Szene. Allein schon die Musik, die sie hören.« Plötzlich hoffte Stella, dass ihr Vater endlich nach Hause kam. Noch nie hatte sie solche Sehnsucht nach ihm gehabt. Nicht einmal, als er für zwei Monate mit der Nordstern unterwegs gewesen war. Über Weihnachten und Silvester. Damals hatte sie sich vorgestellt, dass ihr Vater auf dem Deck des Schiffes stand, inmitten der weißen Wüste. Jetzt war er nicht mehr als fünf Kilometer von ihr entfernt, doch es kam ihr weiter vor. Wieder ein Knacken. Oder doch ein Schritt? Oder einfach der Wind, der der Insel keine Ruhe ließ? Draußen prasselte der Regen. Stella sah zu, wie Hagelkörner auf dem Fensterbrett aufschlugen. »Aber sie ist die Einzige, die mit mir spricht«, hörte sie sich sagen. »Warum sagst du ihr nicht, dass du nichts von diesem Robin willst? Ruf sie an.«
»Ich glaube nicht, dass sie mir zuhört. Sie war so wütend.« »Schick ihr eine SMS.« »Ich weiß nicht, ob sie überhaupt ein Handy hat.« »Dann schreib ihr eine Mail.« Eine Mail? Das war eine gute Idee. Sie könnte alles erklären. Eine Tür schlug zu. Irgendwo zog es. Stand ein Fenster offen? Hinterkopfgefühle. Sie wollten ihr etwas sagen. Nur was? Wo hatte sie dieses Geräusch schon einmal gehört? »Du hast recht. Das mache ich.« »Na also.« »Danke für den Rat.« »Nichts zu danken. Noch ein Tipp: Falls dieser...wie heißt er?« »Robin.« »Wie Robin Hood? Ach du meine Güte... also, wenn er versucht, dich zu küssen, und es gefällt dir nicht, sag ihm, du hättest schon gegessen.« Als Stella auflegte, musste sie unwillkürlich grinsen. Caro war unbezahlbar. Aber sie wusste, ihr erster Kuss würde anders werden. Denn bei ihr durfte die Liebe nicht nur ein Experiment sein, sondern sie musste verliebt sein, bevor sie einen Jungen küssen konnte. Stella lauschte in den Flur. Kein Geräusch war zu hören. Sie musste sich getäuscht haben. Mary hatte ihr gesagt, dass es im Haus spukte. Aber es war ihre Fantasie, die ihr einen Streich spielte. Ihre Nerven waren überreizt und ihr Gedächtnis lief sowieso nur noch auf Standby. Der Computer stand im Arbeitszimmer ihres Vaters. Sie schaltete ihn an, tippte ihr Passwort ein. Mary hatte ihr einen Zettel gegeben mit ihrer E-Mail-Adresse und den Zugangsdaten für den Chatroom. Bisher hatte sie es noch nicht versucht. Aber jetzt war die Gelegenheit dazu. Es ging ganz einfach. Niemand war online. Sie war ganz allein im Chatroom. Auf der Hauptseite wurde sie von einem Mangamädchen begrüßt, das Ähnlichkeit mit Mary hatte. Als Erstes musste sie einen Namen wählen: Robinson. Auf dem Bildschirm erschien:
Hallo Byronfan, du heißt Robinson?
Ja, tippte Stella.
Wem willst du eine Nachricht schicken?
Stella rief die Liste der User auf, in der sich lediglich ein Name fand: Mary Shelley. Sie klickte ihn an und begann ihre Nachricht einzugeben.
Alles ein Missverständnis mit Robin. Hatte nur eine Erinnerung...du weißt schon, meine Mutter. Wirklich. Sonst war nichts. Kannst du mir glauben. Bis morgen in der Schule. Robinson Crusoe
Erleichtert schickte sie die Nachricht ab. Mary würde es schon verstehen, dass sie nichts von Robin wollte. Obwohl er verdammt cool war. Jetzt endlich konnte sie sich entspannt vor den Fernseher legen. Ihr Vater würde wie immer erst gegen acht Uhr zurück sein. Sie schaltete den Apparat an. Freitag strich unruhig um sie herum. »Hast du schon wieder Hunger?« Er schien mit dem Kopf zu schütteln. Sie spürte, wie sein Fell vibrierte, als er den Körper an ihr Bein presste. Seine Ohren waren gespitzt. Was hatte er nur? Dann hörte sie es auch. Diesmal ganz deutlich. Schritte auf dem Flur. Ihr Herz schlug laut. Das Blut rauschte in ihren Ohren. Ihr war eiskalt. Langsam ging sie Richtung Wohnzimmertür. Wieder ein Geräusch. Ein Einbrecher?
War das eine Autotür, die zufiel? Waren sie zu zweit? Was sollte sie tun? Als Erstes das Licht löschen. Nun stand sie völlig im Dunkeln. Sie war hier draußen ganz allein. Der nächste Nachbar wohnte mindestens einen halben Kilometer weit weg. Aber sie hatte das Telefon. Wie war die Nummer ihres Vaters? Freitag miaute laut. »Pst, sei leise!« Sie tastete sich zur Tür und hielt einen Moment inne. Wieder maunzte Freitag. Wieder zischte sie: »Pst!« Ohne Zweifel. Immer noch war jemand im Flur. Ihr Herz schlug. Ihr Kopf dröhnte wie nach dem Aufwachen im Krankenhaus. Automatisch griff ihre Hand nach dem Türdrücker. Was machst du da, Stella? Ein weit entfernter Gedanke. Nicht mehr als ein Echo der Angst. Schon verhallt, noch ehe zu Ende gedacht. Sie öffnete die Tür und erschrak vor dem Licht. Eine gebückte Gestalt stand an der Haustür. Stella hatte nichts, womit sie dem Eindringling auf den Kopf schlagen könnte. Mit Verwunderung stellte sie fest, dass sie fähig dazu wäre. Sie könnte ausholen und kräftig zuschlagen. Mit einem Buch, einer Statue, sogar einem Hammer. Damit die Angst aufhörte, die ihren Kopf zum Zerspringen brachte. Viel Ruhe, hörte sie den Arzt sagen, dann wird sich die Erinnerung schon wieder einstellen. Aber jede Aufregung oder ein Schock kann gefährlich werden. Passen Sie gut auf sie auf.
Daraufhin hatte ihr Vater etwas geantwortet, das Stella nicht aus dem Kopf ging, obwohl sie so getan hatte, als ob sie nicht zuhörte.
»Ich wäre froh«, hatte er gesagt, »wenn ihre Erinnerung zurückkäme, vielleicht könnte ich dann verstehen, warum meine Frau gegen diesen Baum gefahren ist. Auf offener Strecke. Ganz plötzlich. Scheinbar ohne Grund.« In diesem Moment drehte sich die Gestalt zu ihr um. Ein Mann. Er trug eine Kapuze über dem Kopf. Wie im Film. Als liefe alles nach Drehbuch. Sie müsste jetzt schreien und brachte keinen Laut hervor. Ihre rechte Hand krallte sich in die linke. Die Katze schoss an ihr vorbei und jemand rief: »Freitag.« Diese Stimme. Sie war ihr vertraut. Vertraut. Alles war in Ordnung. In Ordnung. »Stella, was ist mit dir?«, rief ihr Vater. »Du bist ja kreidebleich.«