VIERZEHN

Diese Blamage. Stella zog die Decke über den Kopf. Der Horror! Der absolute Crash. Sie hatte sich total blamiert. Nicht nur vor der Claasen, auch vor den anderen. Sie hatte tierisch Angst vor dem Referat gehabt. Schließlich war sie nicht gerade unsichtbar, wenn sie vor der Klasse stand, den Blicken der Haifische preisgegeben, ihnen geradezu in den Rachen schwimmend. Diese Blamage. Diese totale Blamage. Dabei konnte sie sich genau erinnern, dass sie das Referat in ihre Tasche gesteckt hatte. Kannst du das wirklich?, fragte eine andere Stimme in ihrem Kopf. Du leidest unter totaler Amnesie. Dein Gedächtnis löst sich auf. Die Vergesslichkeit breitet sich in dir aus wie...wie Gehirnkrebs.

Diese andere Stimme hatte das Gesicht von Marys Mangamädchen und den Klang von Marys Stimme. Mary. Stella hasste sie. Sie musste das Referat aus ihrer Tasche genommen haben. Wer hatte einen Grund? Wer die Gelegenheit? Mary. Mary war die Einzige, die es gewesen sein konnte. Jedenfalls lief derzeit in ihrem Leben alles schief. Es löste sich geradezu auf. Sie wollte mit jemandem darüber sprechen. Nein, nicht mit jemandem. Mit ihrer Mutter. Sie wollte ihre Mutter anbrüllen, denn wenn sie besser aufgepasst hätten, dann wäre der Unfall nicht passiert, dann wäre sie nicht auf dieser Insel gestrandet.

I don’t forget you. Even only my heart can hear your voice, Please return, when I am calling you. I am calling you now.

Der Text ging Stella nicht aus dem Sinn. Wo, verdammt noch mal, blieb die Antwort? Warum meldete sich ihre Mutter nicht?

I am calling you now. But the only answer is The whispering storm, The whispering storm of your silence.

Genau. Immer dieser blöde Wind, der draußen um die Häuser und die Bäume zog. Warum musste sie vierzehn sein? Wäre sie vier, könnte sie daran glauben, dass ihre Mutter, Sven auf den Knien, dort oben im Himmel saß und sie beschützte. Mein Gott, wäre das schön! Als es an der Haustür klingelte, zog sie die Bettdecke über den Kopf. Sie wollte jetzt nicht nur für die Welt, sondern auch für sich selbst unsichtbar sein. Es klingelte erneut. Sie hielt sich die Ohren zu, doch der Besucher gab nicht auf. Als sie nicht öffnete, schlug er mit der Faust gegen die Tür. »Ich weiß, dass du zu Hause bist!« Die Stimme kam ihr bekannt vor. War das Robin? Wie kam der hierher? Sie warf die Decke zur Seite, rannte die Treppe hinunter, riss die Haustür auf und schrie ihn an: »Verschwinde. Lass mich in Ruhe. Ich habe schon genug Probleme.« Er hob entschuldigend die Hände: »Ich bringe dir die Hausaufgaben.«

»Ich gehe nicht mehr zur Schule. Ich bin krank.« Er setzte den Rucksack ab, öffnete den Reißverschluss und zog einige Blätter hervor. »Es geht nichts über einen gesunden Fluchtinstinkt. Aber so schlimm ist die Claasen auch wieder nicht. Du hättest sie hören sollen. ›Poor girl‹. Die ganze Stunde immer wieder ›Poor girl. Her mother died...oh, oh!‹ Immer wieder. Im reinsten Oxfordenglisch. Das war echt gruselig. Ich werde es für einen Song verwenden. Pass auf.« Ohne sich zu rühren, stand Stella in der Haustür und sah zu, wie Robin seine Gitarre auspackte, sich auf die Stufen setzte und zu spielen begann. Treffend begann er die Stimme der Claasen zu imitieren.

Poor little girl. She wants to be alone. But she is crying in the dark oh, oh, oh!

»Idiot«, rief sie. Ein letzter Akkord und er erhob sich. »Habt ihr vielleicht eine Fertigpizza in der Gefriertruhe? Ich habe tierischen Hunger, ganz abgesehen von dem Ärger, den ich bekomme, wenn ich nicht pünktlich im Rosenhof zum Mittagessen erscheine. Bei der Ausrede musst du mir helfen...Wer ist das denn?« Er deutete nach unten, wo Freitag versuchte, sich an Stellas Beinen vorbei nach draußen zu schleichen. Den Kopf gesenkt, bildete er sich offenbar ein, er sei unsichtbar. Stella nahm die Katze hoch: »Das ist Freitag.« »Tag, Freitag. Oder spricht er nur Englisch? Hello, Mr Friday. Nice to meet you!« Er strich ihr übers Fell. »Magst du auch Salamipizza?« »Was soll ich machen?«, wandte sich Stella an Freitag. »Zu Robinson Crusoe sind nur Feinde auf die Insel gekommen.« Freitag leckte die Lippen, als ob er an die Salami auf der Pizza dachte.

»Du denkst auch nur ans Fressen!« »Kluges Tier«, sagte Robin, packte seinen Rucksack und die Gitarre und betrat den Flur. Auch Stellas Magen knurrte. Gott sei Dank hatte Pat vorgesorgt. Die Gefriertruhe war randvoll.

Robin leckte sich die Lippen wie Freitag und schob den Teller zur Seite. »Mann, das war gut. Ich kann das Kantinenfutter im Rosenhof nicht mehr sehen. Alles auf gesunder Basis versteht sich. So gesund, als würdest du direkt vom Acker essen.« Jetzt wo Stella gegessen hatte, ging es ihr ebenfalls besser. Sie stand auf und räumte das Geschirr zusammen. Auch Robin erhob sich, um ihr zu helfen. »Also, was war heute los?«, fragte er. »Mein Referat ist verschwunden.« »Hast du es zu Hause vergessen?« »Nein.« »Liegt es nicht auf deinem Schreibtisch?« »Nein, jemand muss es aus der Tasche genommen haben. Die haben bestimmt alle über mich abgelästert, oder?« »Ist das so wichtig?« Sie zuckte mit den Schultern. »Okay, die Robbie-Williams-Gang meint, du spielst dich auf. Hättest dein Referat gar nicht vorbereitet und würdest jetzt auf Amnesie machen. Die Jungs haben gemeckert, weil die Claasen daraufhin eine ›Exercise, please‹ nach der anderen angeordnet hat.« »Und Mary?« »Ja, die gute alte Mary, die hat tatsächlich ein bisschen übertrieben. Du wärest eine der Toten, die sich Nacht für Nacht im alten Pfarrhaus treffen. Dein Ziel sei es, ins Leben zurückzukehren. Aber, das ginge nur, wenn du in den Körper eines anderen Mädchens schlüpfst. Sie sei sich sicher, du hättest sie dazu auserkoren.« »Das glaube ich nicht!« »Ist auch besser so. Habe ich nämlich gerade erst erfunden. Aber genau das denkt sie vermutlich!« Stella begann zu kichern. »Wenn ich mir wirklich jemanden suchen müsste, um in dessen Körper zu schlüpfen, würde ich mit Sicherheit jemand anderen wählen.« »Wen denn?« Stella überlegte. »Ich will einfach ich bleiben, nur ich weiß nicht, wie. Und jetzt ist auch noch Mary . . .« Sie brach ab. »Was ist mit Mary?« Stella räumte das Besteck in die Geschirrspülmaschine. »Sie muss mir das Referat aus der Tasche geklaut haben. Anders kann es nicht sein. Ich weiß ganz genau, dass ich es gestern Abend in die Schultasche gesteckt habe.« Sie machte eine kurze Pause, bevor sie hinzufügte »Vielleicht ist sie sogar im Haus gewesen. Gestern Abend. Sie hat mir erzählt, dass sie schon einmal hier war. Als es noch leer stand.« »Wie soll sie denn hereingekommen sein?« »Es gibt eine Tür, die von außen in den Keller führt.« Robin drehte sich um: »Das können wir nachprüfen.« Stella folgte ihm hinaus in den Garten. Auf der Rückseite des Hauses führte eine schmale Treppe zum Kellereingang. Robin nahm die wenigen Stufen mit einem Satz und rüttelte an der Tür. »Abgeschlossen.« »Vielleicht hat sie einen Schlüssel. Was weiß ich. Aber Sie kann das Referat auch heute Morgen aus meiner Tasche genommen haben.« »Das glaube ich nicht. Du hast doch die ganze Zeit neben ihr gesessen.«

»Was weiß ich.« »Na«, antwortete er, »so wie es aussieht, hast du nur einen einzigen Freund, und das bin ich. Du solltest dich gut mit mir stellen.« »Sie ist nur eifersüchtig!« »Eifersüchtig? Auf wen denn? Wer ist der Auserwählte? Geht er in unsere Klasse?« Stella schwieg. »Du willst es mir also nicht sagen?« Sie schüttelte den Kopf. »Hör zu, diese Mary, sie sollte dir keine Angst machen. Sie ist harmlos.« Sie zuckte mit den Schultern. »Aber ich habe über etwas anderes nachgedacht. Was du über deine Mutter gesagt hast.« »Was meinst du?« »Dass sie das Steuer losgelassen hat.« Sie nickte. »Vielleicht bilde ich es mir auch ein. Alles ist so verschwommen da drin.« Sie klopfte an ihre Stirn. »Ich weiß nicht mehr, was wahr ist und was nicht.« »Alles, was in deinem Kopf entsteht, ist wahr.« Sie schaute ihn verblüfft an. »Glaubst du das wirklich?« »Klar. Was sonst. Du hattest eine Erinnerung! Das ist eine Spur, verstehst du? Spuren sagen immer etwas aus, seien sie auch noch so winzig. Sagt zumindest mein Vater und der muss es wissen. Du weißt nicht, warum deine Mutter gegen diesen Baum gefahren ist, oder?« »Nein. Mir gibt niemand eine Antwort.« »Hast du gefragt?« Stella schüttelte den Kopf. »Du musst deinen Vater fragen, was passiert ist. Wo genau war der Unfall?«

»Ich weiß nicht. Wir waren auf dem Rückweg von Kiel nach Bremen, wo wir Pat besucht haben.« »Pat?« »Eine Freundin meiner Mutter.« »Und dann?« »Ich weiß es nicht. Ich weiß es einfach nicht mehr. Ich kann mich nicht mehr erinnern.« »Woran genau kannst du dich nicht mehr erinnern?« »Was ist das denn für eine blöde Frage. An den Unfall und...« »Und?« »An die ganze Woche davor.« »Warum?« »Wie, warum?« »Das mit dem Unfall, das verstehe ich ja. Das war schließlich ein Schock. Was aber war in der Woche davor? War euer Urlaub schön? Irgendein Gefühl musst du doch haben?« Stella schüttelte den Kopf. »Ich erinnere mich an die Hinreise, an den Streit mit meiner Mutter, die die Musik abgeschaltet hat, damit mein Bruder schlafen konnte. Ich war wütend. Noch als wir bei Pat angekommen sind. Die beiden waren immer so . . . ich weiß auch nicht . . .« »Wie?« »So...Du weißt schon. Wie Erwachsene eben sind. Sie haben mich wie ein kleines Kind behandelt. Wie Sven. Nein, schlimmer. Ich war ein Störenfried. Ich war wütend. Daran erinnere ich mich.« Das Telefon klingelte. Stella ließ es klingeln. »Willst du nicht rangehen?«, fragte Robin. Stella schüttelte den Kopf. »Warum nicht?« »Weil nie jemand spricht.«

»Wie?« Verblüfft runzelte Robin die Stirn. »Es klingelt immer um diese Zeit, verstehst du? Aber am anderen Ende ist keiner.« »Immer um dieselbe Zeit?« »Ja, so gegen zwei Uhr.« »Warum?« »Keine Ahnung. Ich lasse es klingeln. Wenn mein Vater anruft, spricht er auf den Anrufbeantworter, dann nehme ich ab.« Robin erhob sich und griff zum Telefon. »Lass das«, versuchte Stella ihn davon abzuhalten, doch er hörte nicht auf sie. »Bei Norden.« Er lauschte wenige Sekunden, bevor er den Hörer zurücklegte. »Aufgelegt.« »Sag ich ja. Jeden Tag, wenn ich aus der Schule zurück bin und zu Mittag gegessen habe.« »Dagegen musst du etwas tun!« »Was kann ich schon dagegen machen!« »Du könntest dir einen neuen Anschluss geben lassen!« »Dazu müsste ich erst einmal meinen Vater davon überzeugen, dass es diese Anrufe gibt. Er denkt, dass ich nicht ganz klar im Kopf bin nach dem Unfall. Er nennt es übersensibel, aber was er eigentlich meint, ist, dass ich verrückt bin. Vielleicht stimmt es ja auch, und ich bilde mir alles nur ein. Ich meine, mir fehlt eine Woche meines Lebens. Da kann es schließlich sein, dass ich Dinge verwechsle, dass ich im Haus einen Geist höre, dass mein Referat einfach so verschwindet. Was weiß ich. Vielleicht ist ja Freitag der Geist.« »Trotzdem. Wir müssen etwas tun.« »Was willst du denn tun?« »Du sprichst noch einmal mit deinem Vater wegen des Unfalls. Frag ihn nach der genauen Ursache.«

Er erhob sich. »Ich muss jetzt gehen. Bekomme sowieso schon Ärger im Internat. Muss mir einen Platten im Reifen ausdenken oder so was. Wir haben eine Heimleiterin, Frau Fröhlich, die das genaue Gegenteil ihres Namens ist. Sie versteht überhaupt keinen Spaß.« Stella erhob sich ebenfalls. »Morgen sehen wir uns wieder in der Schule.« Statt einer Antwort zuckte Stella mit den Schultern. Als sie Robin zur Tür brachte, fühlte sie sich plötzlich erleichtert und seltsam gut gelaunt. Sie hatte ein Kribbeln im Bauch, wenn sie an ihn dachte. Sie kehrte in das Arbeitszimmer ihres Vaters zurück. Der Computer meldete eine neue Nachricht. Sie öffnete den Chatroom Byron. Als sie allerdings die Antwort las, war das Hochgefühl vorbei. Sie ließ sich auf den Stuhl fallen. Die Nachricht war von Mary Shelley.

Robinson Crusoe. Ich wünsche dir einen langen qualvollen Tod auf deiner Insel. Und Freitag soll mit dir sterben.