FÜNFZEHN

Am Freitag nach der Schule gab es auf dem Pausenhof das übliche Gedränge und Gerangel vor dem Wochenende. Alle hatten es eilig. Autos reihten sich vor dem Schulgelände aneinander und verstopften die Straße. Ein riesiger Lastzug hupte laut. Stella stand an ihrem Fahrrad und öffnete das Schloss. Sie hatte ihrem Vater nichts von dem Referat erzählt. Als er gefragt hatte, wie es gelaufen sei, sagte sie: »War okay.« Er hatte sich damit zufrieden gegeben. Wäre sie eine Bakterie unter dem Eis, hätte er sicherlich weiter nachgeforscht. Auch die Claasen hatte kein Wort mehr darüber verloren. Ein Zeichen dafür, dass niemand sie für normal hielt. Normale Kinder bekamen auf Referate, die sie zu Hause hatten liegen lassen, eine Sechs. Oder wurden verwarnt. Oder zum Nachsitzen verdonnert. Irgendeine Strafe eben. Sie dagegen wurde mit Mitleid bestraft. Zum Glück war Mary heute nicht in der Schule gewesen. So musste sie sich wenigstens nicht anzicken lassen. Sie rollte das Schloss zusammen, um es in der Schultasche zu verstauen. Dann hob sie das Rad aus dem Ständer. Als sie gerade aufsteigen wollte, bremste jemand scharf neben ihr. Robin saß auf seinem Mountainbike, die unvermeidliche Gitarre auf dem Rücken. Er sah verdammt gut aus. Seine blauen Augen funkelten, als er ihr direkt ins Gesicht sah. »Alles okay?«, fragte er. Sie nickte. In ihrer Schultasche hatte sie die E-Mail von Mary.

Für einen Moment dachte sie daran, sie ihm zu zeigen, überlegte es sich jedoch anders. Verräterin, hatte Mary gesagt. Sicher hatte Mary ihre Drohung nicht ernst gemeint. Niemand wünscht einem anderen den Tod. Sie war wütend gewesen. Wütend, weil sie dachte, Stella würde ihr Robin wegnehmen. Je weniger sie also mit Robin sprach, desto besser. Doch er stand neben ihrem Fahrrad und rührte sich nicht von der Stelle. »Ich habe gestern Post von meinem Vater bekommen.« Stella zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Es sind Zeitungsausschnitte über den Unfall deiner Mutter. Willst du sie sehen?« »Zeitungsausschnitte?« Sie sah ihn erschrocken an. »Was für Zeitungsausschnitte? Ich...« Stella brach ab, als sie Vanessa mit ihren Sklavinnen hinter Robin auftauchen sah. »Hey, Robin«, flötete Vanessa, »hast du nicht Lust, dich heute Abend mit uns am Strand zu treffen? Wir hören so gerne zu, wenn du Gitarre spielst.« Sie warf Stella einen spöttischen Blick zu. Robin beachtete sie nicht. »Hast du nie danach gefragt?«, wandte er sich beharrlich an Stella. Sie schüttelte den Kopf. Er sollte weggehen. Mary würde erfahren, dass er sich mit ihr unterhalten hatte. Abgesehen davon würde die Robbie-Williams-Gang Gift speien, wenn er noch länger neben ihr stand. »Bringt eh nichts«, sagte sie und legte die Schultasche in den Fahrradkorb. »Das kannst du nicht wissen.« Sie stieg auf. »Ich muss. Mein Vater ruft gleich an.« »Was ist los?«, rief Mona. »Kommst du nun an den Strand oder willst du mit Miss Amnesia herumhängen.« »Hab schon was vor.« »Du glaubst doch wohl nicht«, zischte Vanessa in Stellas Richtung, »dass Robin mit dir etwas zu tun haben will. Wer will schon mit einer reden, deren Mutter sich selbst . . .« »Halt die Klappe.« Der sonst so höfliche Robin wurde wütend. Seine Augen waren nun nicht mehr tiefblau wie der Himmel über dem südatlantischen Eismeer, sondern blauschwarz wie der Blick von Marys Mangagesichtern. Vanessa zog Mona weg. Offenbar wollte sie keinen Streit mit ihrem Idol provozieren. »Was meint sie denn? Was hat meine Mutter?« »Du solltest dir wirklich überlegen, ob du die Wahrheit wissen willst oder nicht.« Robin stieg auf sein Fahrrad, riss den Lenker nach oben, sodass sich das Vorderrad in der Luft drehte. Der Hinterreifen rutschte zur Seite. Gekonnt hielt er das Gleichgewicht, und als er wieder Boden unter den Füßen hatte, raste er davon und ließ sie allein zurück. Stella stieg ebenfalls auf ihr Fahrrad. Wahrheit, dachte sie Mary Shelley wollte Ehrlichkeit? Okay, sie würde ehrlich sein.

Mary wohnte am entgegengesetzten Ortsende. Ein kleiner Bauernhof, dessen Wohnhaus Ähnlichkeit mit einer Scheune hatte, so verwahrlost sah es aus. Vor einer Hütte lag ein großer schwarzer Hund, der ihr sofort entgegenrannte, als sie mit dem Fahrrad auf den Hof einbog. Er bellte laut, fletschte die Zähne und riss an der Kette. Stella blieb erschrocken stehen. Doch dann begriff sie, dass er nicht sie meinte, sondern den Postboten, der hinter ihr auf das Grundstück bog und schließlich neben ihr stehen blieb. »Kannst du die Post mitnehmen?«, fragte er. »Dieses Vieh hasst mich. Ich bin immer froh, wenn ich lebend wieder wegkomme.

Meinst du, der Alte würde den Hund zurückhalten? Nein, ich kann froh sein, dass er ihn nicht auf mich hetzt.« Er reichte Stella zwei Briefe und eine Zeitung. Dann stieg er wieder auf. »Geh dem Köter besser aus dem Weg.« Stella machte einen großen Bogen um die Hütte. Der Hund zerrte laut kläffend an der langen Kette. Hoffentlich riss er sich nicht los. Sie stieg vom Rad, stellte es an der Hauswand ab und ging zur Eingangstür. Sie suchte nach einer Klingel, fand aber keine. Also klopfte sie. Keine Reaktion, obwohl sie aus dem Haus Geräusche hörte. Töpfe klapperten laut. Vielleicht sollte sie besser gehen. Doch sie musste die Post abgeben. Ihr Blick fiel auf die Briefe. Der oberste war Werbung und darunter lag ein bunter Umschlag, der für Mary bestimmt war. Sie könnte Mary den Brief persönlich geben. So hätte sie einen Grund, mit ihr zu sprechen. Im nächsten Augenblick steckte sie ihn in die Schultasche. Jetzt drang aus dem Haus eine laut schimpfende Stimme. Wieder klopfte sie. Keine Antwort. Schließlich drückte sie den Türgriff nach unten. Die alte Haustür sprang quietschend auf und Stella stand in einem niedrigen Flur, dessen Steinfußboden völlig verdreckt war. Ein Bataillon Gummistiefel stand kreuz und quer, und mehrere abgemagerte Katzen schleckten Milch aus zahlreichen Tellern, in denen tote Fliegen schwammen. Stella war noch nie in so einem Haus gewesen. Wohnte Mary tatsächlich hier? In diesem Dreck? In diesem Gestank? »Hallo«, rief sie laut. Unwillkürlich bückte sie sich, um die Katzen zu streicheln, die jedoch nicht wie Freitag um ihre Hand strichen, sondern sie misstrauisch beäugten und fauchend zurückwichen. Sie heißen einfach nur Katze, hatte Mary gesagt. Jetzt verstand Stella warum. Sie gehörten nicht zur Familie, waren Fremde, die lediglich gefüttert wurden.

»Wer bist du?«, hörte sie hinter sich eine krächzende Stimme. Sie drehte sich um. Vor ihr stand eine alte Frau. Nicht viel größer als sie selbst. Sie trug ein schwarzes Kopftuch. Die dunkle Schürze war völlig verdreckt und die Füße steckten in hohen Hausschuhen. In der Hand hielt sie ein blutiges Küchenmesser. Stella richtete sich auf. »Entschuldigen Sie, ich suche Mary.« »Kenne ich nicht.« Erst jetzt fiel Stella wieder ein, dass Mary eigentlich Antje hieß. »Ich meine Antje.« »Nie da«, murmelte die Frau. »Treibt sich herum wie ihre Mutter.« »Wo ist sie denn?« »Weg.« »Kann ich mit ihrem Vater sprechen?« »Stall.« Die alte Frau schlurfte zurück in die Küche. Durch die geöffnete Tür sah Stella, wie sie einen Fisch ausnahm. Ekel stieg in ihr hoch. »Dann frage ich besser den«, rief sie schnell und wandte sich um. »Passt nicht auf«, murmelte die Frau, »der Döskopp.« Stella sah zu, dass sie wegkam. Als sie wieder draußen war, sah sie einen Mann, der, eine Zigarre im Mund, zwei Eimer über den Hof trug. Er ging gebückt und bemerkte sie erst, als sie ihn ansprach. »Entschuldigen Sie, ich suche Antje.« Misstrauisch beäugte er sie. Sein Blick ging von oben nach unten. Als er den Mund öffnete, um die Zigarre herauszunehmen, sah sie, dass ihm vorne ein Schneidezahn fehlte. Vielleicht, weil er den Platz für die Zigarre brauchte, um sie für immer und ewig zwischen den Zähnen festzuklemmen. »Wer bist du denn? Dich kenn ich nicht. Bist nicht von hier.«

»Wir wohnen im alten Pfarrhaus.« »Ach ja, vom Anderson.« »Ja.« »Deine Mutter ist tot, was?« Stella fuhr zusammen. »Ja.« Wusste denn jeder Bescheid? »Manchmal besser so«, murmelte der Mann. »Ich suche Mary, ich meine Antje. Wissen Sie, wo sie ist?« Sie wollte gerade hinzufügen, dass sie nicht in der Schule gewesen war, beschloss aber dann zu schweigen. Nein, sie war keine Verräterin. »Meine Lütte suchst du? Ich auch. Ich suche sie ständig.« Sein Gesicht war gerötet und sein Atem roch nach Alkohol. »War wieder mal nicht in der Schule, was?« »Ich muss sie dringend sprechen.« Der Hund begann wieder zu bellen. Aufgeregt rannte er vor seiner Hütte hin und her. Die schwere Kette rasselte bei jedem Schritt und zog ihn zurück. »Wissen Sie, wo sie sein könnte?« »Vielleicht am Weißen Friedhof. Dort treibt sie sich gern herum.« »Der Weiße Friedhof?« »Ja, dort wo die Kinder begraben liegen, die im Meer ertrunken sind.« Wieder schreckte Stella zusammen. Davon hatte sie noch nichts gehört. »Warum heißt er Weißer Friedhof?« »Weil alle Kreuze und Grabsteine weiß sind, warum sonst.« Er spuckte zu Boden. Ein Kinderfriedhof. Sie dachte an Sven. An den kleinen weißen Sarg, in dem die schwarz gekleideten Männer vom Bestattungsunternehmen ihren Bruder getragen hatten. »Du brauchst mich gar nicht so anzuschauen. Ich kann auch nichts dafür, dass die sich dort herumtreibt. Sie macht, was sie will. Ich kann sie nicht anbinden wie den Köter da.« Sein Gesicht verdunkelte sich für einen kurzen Moment. »Aber es ist gut, dass du sie besuchen kommst. Kriegt ja sonst nie Besuch. Nur am Telefon hängt sie jeden Tag. Weiß der Teufel, wen sie anruft. Immer um dieselbe Uhrzeit. Kaum aus der Schule da, schon den Hörer in der Hand. Marotten hat das Kind wahrlich genug.« Stella zuckte zusammen. Mary? War es Mary, die jeden Tag anrief? Ihre Stimme war vor Aufregung ganz heiser, als sie fragte: »Können Sie mir den Weg beschreiben?« »Er ist ganz in der Nähe. Hinter der Mühle. Weißt du, wo die Mühle ist?« »Ja, und vielen Dank! Ach ja, ihre Post!« Stella reichte ihm den Werbebrief und die Zeitung. Als sie wieder bei ihrem Fahrrad war und gerade aufsteigen wollte, rief er ihr etwas hinterher. Es klang wie: »Sag Pat einen schönen Gruß.« Hatte sie ihn richtig verstanden? Hatte er Pat gesagt? Dann ging er mit den beiden Eimern weiter Richtung Stall. Stella wusste nicht, ob er wankte, weil die Eimer so schwer waren oder weil er zu viel getrunken hatte. Sie beeilte sich wegzukommen. Hier also wohnte Mary. Auf diesem verwahrlosten Hof. Was war mit ihrer Mutter? Hatte sie keine Zeit, sich um das Haus zu kümmern?