ACHTZEHN
Stella hatte weder Freitagabend noch am Wochenende Gelegenheit gehabt, mit ihrem Vater zu sprechen. Pat war die ganze Zeit dabei gewesen und hatte ihm bei seinen Reisevorbereitungen geholfen. Sie wirbelte durch das Haus, als ob er für Monate mit der Nordstern unterwegs sein würde. Eines musste man Pat lassen, sie konnte wirklich gute Laune verbreiten. Ihr Vater war seit Langem nicht mehr so entspannt gewesen. Wie konnte sie ihm da von den Zeitungsartikeln erzählen, geschweige denn, von einem Obduktionsbericht sprechen? Sie blieb daher die meiste Zeit in ihrem Zimmer und übte auf der elektrischen Gitarre für das Schulkonzert. Schließlich war es so weit. Der Abschied fiel Stella schwer. Drei Tage wollte er wegbleiben. Sie stand auf der Treppe vor dem Haus. Er legte den Arm um ihre Schultern. »Ich rufe jeden Tag an. Du hast meine Nummer. Wenn etwas ist, komme ich sofort zurück.« Sie nickte und schluckte die Tränen hinunter. »Keine Panik, Bootsmann. Ich werde das Schiff schon schaukeln. Ich bin der Captain, oder?« Er hätte das sagen müssen, nicht sie. Schließlich war er erwachsen. Sie aber war erst vierzehn und auf dieser Sandinsel gestrandet wie Robinson Crusoe mit nichts als einer Katze als Gefährten. Er drückte sie fest an sich und raunte ihr ins Ohr: »Du bist das Wichtigste für mich. Das einzig Wichtige.« Pat kam aus dem Haus. Zu einer weißen Hose trug sie ein hellblaues T-Shirt. »Was flüstert ihr da?«
»Seefahrergeheimnis.« Er lächelte Stella verschwörerisch zu. »So. Ihr habt also Geheimnisse vor mir«, lachte Pat. Auf hohen Schuhen folgte sie Johannes, der jetzt den Koffer im Auto verstaute. Auch dieser trug ein hellblaues Hemd. Sie gehörten zu einer Mannschaft, während Stella sich in ihrem rosa Sweatshirt vorkam wie Miss Piggy. »Du musst dir keine Sorgen machen«, hörte Stella Pat sagen. Dabei strich sie ihrem Vater über die Anzugjacke. Keine Ahnung, ob sie ihn damit trösten wollte oder ob sie ein Fussel störte. Wahrscheinlich Letzteres. Pat war ein Ordnungsfreak. »Stella und ich kommen zurecht, oder?« Pat zwinkerte Stella zu. »Klar«, antwortete diese. Ihr Vater hob die Hand, um ihr zuzuwinken. In diesem Moment stellte sich Pat auf die Fußspitzen und küsste ihn auf beide Wangen. Ihre Hand ließ sie auf seiner Schulter liegen, als sei sie dort festgeklebt. Stella verzichtete daraufhin, zu ihm zu laufen und ihn zum Abschied zu küssen. Stattdessen hob sie Freitag auf ihren Arm und tippte sich an die Kapitänsmütze. »Ist das seine neue Freundin?«, hatte Mary Shelley gefragt und ihre Oma hatte am Telefon gemeint, dass Gott sei Dank Pat da sei. »Ja, so eine Jugendfreundschaft«, hatte sie geseufzt, »die ist fürs Leben. Wenn man eine Freundin hat, auf die man sich verlassen kann, das ist ein Glück.« Ihr Vater stieg ins Auto und Pat kam zurück zur Treppe. So standen sie einträchtig nebeneinander und winkten dem Wagen nach, dessen Räder im Kies knirschten, als er aus der Ausfahrt bog. Ihr Vater hupte noch einmal. Am liebsten wäre Stella ihm nachgelaufen. Ein Gefühl, das sie am besten ignorierte, denn angeblich war es nach dem Unfall normal, dass sie unnormal reagierte. Dennoch. Früher war es ihr egal gewesen, wenn ihr Vater verreiste. Aber da hatte sie neben ihrer Mutter gestanden, die den Arm um ihre Schultern legte, sie fest an sich zog und meinte: »Und jetzt machen wir es uns gemütlich.« Sosehr Pat sich auch bemühte, es war einfach nicht dasselbe. Ihre Mutter hatte immer nach Sven gerochen, während Pat in eine Parfümwolke gehüllt war, von der Stella schlecht wurde. Bestimmt war das Parfüm mit Säften aus dem Verdauungstrakt von Walen hergestellt worden. Wenn Stella erwachsen war, würde sie auf keinen Fall Parfüm benutzen. Nicht nur, weil dafür Wale getötet wurden, wie ihr Vater ihr seit frühester Kindheit erklärt hatte. Weshalb störte ihn das bei Pat nicht? Der Stoß mit dem Kopf gegen die seitliche Autoscheibe hatte mehr als einen Gedächtnisverlust bewirkt. Er hatte auch ihr Seelenleben durcheinandergebracht. Oder war es wirklich die Pubertät, wie Pat am Abend zuvor ihrem Vater erklärt hatte. »Das ist eine schwierige Zeit.« Okay, Stella hatte gelauscht. Sie hatte sogar ihr Ohr von außen an die Wohnzimmertür gelegt, um jedes Wort zu verstehen. Andererseits, es war verständlich, dass sie neugierig war. Schließlich gab es in ihrem Kopf Löcher, die sie füllen musste. »Ich sollte mehr mit ihr sprechen«, hatte ihr Vater gesagt. »Was willst du ihr denn sagen?« »Alles. Sie ist alt genug, um es zu verstehen.« »Du weißt . . . jede Aufregung.« »Meinst du nicht, dass das Nichtwissen mehr Angst macht als das Wissen?« »Du bist Wissenschaftler«, hatte Pat gesagt, »es ist natürlich, das du so denkst. Aber Stella ist krank. Sie hatte eine schwere Kopfverletzung. Sie würde es nicht verkraften.« Stella hatte durch das Schlüsselloch gesehen. Das war absolut verboten...eswar auch nicht viel zu sehen gewesen, egal . . . jedenfalls war Pat aufgestanden und hinüber zu dem Sessel gegangen, in dem Johannes saß. Pat hatte ihm die Hand auf die Schulter gelegt und er hatte seine darübergelegt. Was, verdammt noch mal, was durfte sie nicht wissen? Sie wusste genau, in ihrem Kopf waren die Erinnerungen. Sie hatte sie nur am falschen Platz abgelegt. Mehr nicht. Aber Geheimnisse, von deren Existenz man weiß, waren beängstigend. Als ob man in der Luft schwebt und jederzeit fallen kann. Aber, halt, stopp, Geheimnisse waren auch, dachte sie plötzlich, wie der Ozean, wie der Weltraum. Sie waren nichts weiter als die Rückseite des Mondes. Man musste sie einfach erforschen. Das war alles.
Das Abendessen verlief schweigsam. Pats Absätze klapperten laut auf dem alten Steinboden, während sie hin-und herlief, um Tee zu kochen. Wie alle Erwachsenen war sie der Meinung, Tee oder Kakao sei eine Art Gegenzauber bei allen Problemen. Stella beobachtete sie und überlegte, wie sie das Gespräch anfangen konnte. »Hast du noch Hausaufgaben zu machen?«, riss Pat sie aus ihren Gedanken. Stumm schüttelte sie den Kopf. »Ist was?« »Was darf ich nicht wissen?«, fragte Stella plötzlich. »Wie meinst du das?« Pat sah sie verwirrt an. »Ihr verheimlicht mir etwas.« Pat drehte sich zum Spülbecken, stand dort eine Weile reglos und schaute zum Fenster hinaus. »Was war mit Mama? Warum ist sie gegen diesen Baum gefahren?« Pat seufzte tief, goss eine Tasse Tee ein, stellte sie vor Stella und sagte: »Trink!«
Stella umfasste die Tasse mit beiden Händen. »Ich merke doch, dass etwas nicht stimmt.« »Du hast recht«, sagte Pat. »Und wahrscheinlich solltest du es wissen. Du bist alt genug.« »Was sollte ich wissen?« »Dein Vater wollte es dir von Anfang an sagen, aber ich war dagegen. Ich dachte, es sei besser so. Ich wollte dich schützen.« »Wovor?« »Deine Mutter war...ich meine, das hast du sicher gemerkt... nach der Geburt von Sven war sie einfach nicht mehr sie selbst.« Was redete Pat da? Was meinte sie damit? »Hast du nicht gemerkt, dass sie viel geweint hat, erschöpft war? Sie hat es offenbar nicht mehr ausgehalten.« »Was hat sie nicht mehr ausgehalten?« »Das Leben.« Pat trat hinter Stella und legte die Hand auf ihre Schulter. »Ich glaube, sie hat das Leben nicht mehr ausgehalten.« »Das Leben mit uns? Mit mir, Sven und Papa?« Der Schock traf Stella unvorbereitet. Genauso gut könnte ihr Herz stillstehen, sie könnte aufhören zu atmen, zu essen, zu denken, zu laufen, zu schlafen. Die ganze Welt kam zum Stillstand. »Du meinst, dass sie...« Nein, sie konnte es nicht aussprechen. Nicht einmal denken wollte sie es, aber Pat kam ihr nicht zu Hilfe. Stella wollte jetzt endlich die Wahrheit wissen, die ganze Wahrheit. »Du meinst, sie ist absichtlich gegen diesen Baum gefahren?« »Ja«, hörte sie Pat wie aus weiter Ferne sagen. »Warum habt ihr mir das nicht erzählt?« »Stella, wie hätten wir dir das sagen können? Wie kann ein Kind den Gedanken ertragen, dass die eigene Mutter es mit in den Tod nehmen wollte?«