EINUNDZWANZIG

Als Stella am nächsten Morgen erwachte, fühlte sie sich total zerschlagen. Ihr Kopf dröhnte und eine leichte Übelkeit machte sich bemerkbar. Das Haus lag in völliger Stille. Nichts regte sich. Als ob es noch sehr früh wäre. Dennoch spürte Stella, dass es Zeit zum Aufstehen war. Doch heute kam sie nur langsam in die Gänge. Erstaunt stellte sie fest, dass ihre Decke zu Boden gerutscht war und sie in ihren Kleidern auf dem Bett lag. Was war gestern Abend passiert? Etwas war anders als sonst. Wo war Freitag? Es dauerte einige Minuten, bis ihr klar wurde, dass die Katze seit gestern Abend verschwunden war. Sie war durch das Bullauge geklettert und hatte sich auf Mäusejagd begeben. Stella sprang aus dem Bett und rannte hinunter in die Küche, wo Pat bereits am Frühstückstisch saß. »Wo ist Freitag?«, rief sie aufgeregt. »Guten Morgen, mein Schatz.« »Wo ist Freitag?« »Freitag? Ich dachte, er ist bei dir im Zimmer.« »Nein.« »Ich habe ihn heute Morgen noch nicht gesehen. Aber er kann ja nicht weit sein.« Sollte Stella erzählen, dass die Katze aus dem Fenster geklettert war? »Und wenn er wieder draußen ist? Er ist noch zu klein dazu.« »Beruhige dich. Es wird schon nichts passiert sein.« Stella hörte gar nicht richtig, was Pat sagte. Sie rannte zur Haustür. Bestimmt würde Freitag dort sitzen. Er hatte seit Stunden nichts mehr zu fressen bekommen und sie glaubte nicht, dass die kleine Katze in der Lage war, sich Mäuse zu fangen. Draußen im Hof war Freitag jedoch nicht. Vielleicht im Schuppen? Sie zog die Tür auf. Gartengeräte, Besen, die Leiter, ein altes Fahrrad. »Freitag! Freitag!«, schrie sie immer verzweifelter. Was, wenn ihre Katze verschwunden war? Wenn sie sich verirrt hatte? Sie alleine gelassen hatte? »Stella!« Sie ignorierte Pats Rufe. »Freitag! Komm, Kätzchen, komm.« »Du musst zur Schule. Komm herein frühstücken.« »Nein! Ich muss erst Freitag finden.« »Ich verstehe nicht, wie sie hinausgekommen sein soll. Meinst du, sie war die ganze Nacht draußen? Hast du gestern Abend nicht bemerkt, dass sie weg ist? Die Haustür war doch seit acht Uhr abgeschlossen. Ich war nicht mehr draußen, du etwa?« Stella schüttelte den Kopf. »Dann verstehe ich das nicht.« »Wir müssen sie suchen«, rief Stella niedergeschlagen. »Beruhige dich. Sie hat sich die Nacht über verkrochen. Aber wir stellen ihr den Fressnapf vor die Tür. Wenn sie Hunger hat, kommt sie schon wieder.« Stellas Panik wuchs. Sie war schuld. Sie hätte gestern Abend noch nach Freitag suchen müssen. Aber sie wusste gar nicht mehr, wie sie ins Bett gekommen war. Sie hatte sich nicht einmal ausgezogen. Wusste sie überhaupt noch, was Wirklichkeit war und was Fantasie? Pat trat auf sie zu und legte den Arm um ihre Schultern. »Sie kommt sicher wieder. Übrigens, heute habe ich einen Termin auf dem Festland. Ich werde erst spät am Abend zurückkommen. Du hast deinen Fisch gestern nicht fertig gegessen. Du kannst ihn zum Mittagessen aufwärmen.« Pat lächelte. Stella atmete auf. Sie hatte einen ganzen Tag alleine.

Mary war schon da, als Stella ins Klassenzimmer kam. Sie trug Kopfhörer und würdigte sie keines Blickes. Stella zog den Brief aus der Tasche, um ihn ihr zu geben. Doch Mary starrte stur gerade aus, auch als Robin an den Tisch trat. »Was ist mit Pat?« »Sie fährt heute aufs Festland.« »Dann komme ich vorbei.« Stella antwortete nicht, weil die Claasen das Klassenzimmer betrat und wie immer sofort mit dem Unterricht begann. Jede Stunde fixierte sie einen Schüler lange durch ihre Brille, bevor sie ihn zu sich nach vorne zitierte. Heute hatte sie sich Mary ausgesucht, die jedoch nicht reagierte, weil sie immer noch Musik hörte. Die Claasen musste wirklich schlecht sehen trotz ihrer dicken Brille. »Antje«, rief sie erneut. Keine Reaktion. Wenn Mary nicht aufstand, würde sie mit Sicherheit eine Sechs kassieren. Stella konnte nicht anders. Sie stieß Mary in die Seite, um sie auf die Lehrerin aufmerksam zu machen. Mary nahm die Kopfhörer ab. Ihr Blick allein schien Stella töten zu wollen: »Lass deine Finger von mir.« »What’s the matter?«, fragte die Claasen und kam zu ihrem Tisch. »Ich möchte nicht länger neben dieser Verrückten sitzen, die sich nicht mehr an ihre Mutter erinnern kann. Sie hat nicht einmal ein Bild von ihr. Das ist doch nicht normal.« Die ganze Klasse hielt den Atem an.

»Halt die Klappe, Frankenstein«, sagte Robin. »Bullensöhnchen«, gab Mary zurück. »Was ist hier los?« Vor Aufregung wechselte die Claasen gegen ihre Gewohnheit ins Deutsche und schaute Stella an, die wie versteinert aufstand. Die Robbie-Williams-Gang drehte sich zu ihr um. Vanessa grinste. Die Metallbrackets sahen aus wie eine Reihe Haizähne. Stella hatte völlig vergessen, dass sie in einem Haifischbecken gelandet war. »Antje, steh auf!« Antje blieb sitzen. »Antje, steh sofort auf!« Die Stimme der Claasen überschlug sich vor Aufregung. Betont langsam erhob das Mädchen sich. Dabei setzte sie wieder den Kopfhörer auf, was die Claasen nun endgültig zum Überkochen brachte. »Du verlässt augenblicklich die Schule. Wir werden deinen Vater benachrichtigen.« »Das ist ihm scheißegal!«, antwortete Antje. Stella, die noch immer stand, spürte, wie das Mädchen neben ihr zitterte. So cool, wie sie tat, war sie nicht. Sie hatte beschlossen, keine Regeln der Erwachsenen mehr zu akzeptieren. Mary war tapfer und mutig, während sie selbst feige war. Sie war zu feige, um die Erwachsenen nach ihren Lügen zu fragen. Mary packte ihre Tasche. »Hier«, Stella schob ihr den Brief zu, »der ist für dich.« Mary schaute desinteressiert auf den Umschlag, bis sie plötzlich blass wurde. Sie riss den Brief an sich, stand auf und verließ, ohne sich noch einmal umzudrehen, das Klassenzimmer, während die Claasen ihr schockiert nachstarrte. Auch als Mary den Raum längst verlassen hatte, haftete ihr Blick immer noch an der Tür. Erst als das Gekicher und das Getuschel in der Klasse an Lautstärke zunahm, drehte sich um. »Kommen wir zu Aktiv und Passiv im Englischen.«

In der Pause kam Robin zu Stella. »Was ist denn mit Mary los? Sie war ja schon immer durchgeknallt, aber so wie heute habe ich sie noch nie erlebt.« »Sie ist in dich verliebt.« Robin starrte sie an. »Was?« »Sie ist total in dich verknallt und auf mich eifersüchtig. Hast du das nicht bemerkt?« »Sehe ich etwa so aus wie diese Gothictypen, mit denen sie am Friedhof rumhängt?« Stella schüttelte langsam den Kopf. »Sie hängt mit niemandem auf dem Friedhof herum. Sie sitzt dort allein und liest irgendwelche seltsamen Gedichte über den Tod. Und . . .«, jetzt plötzlich wurde Stella etwas klar »es gibt auch außer ihr niemanden in diesem Chatroom.« »Früher war sie voll in Ordnung, bis ihre Mutter abgehauen ist . . .« »Ihre Mutter ist abgehauen?« »Vor einem Jahr. Mit so einem Touristen, der bei ihnen ein Zimmer hatte. Das war voll der Skandal, verstehst du. Danach ist Antje total abgedriftet. Ich meine, diese Frankensteingeschichte, das ist wirklich gruselig, dass da einer aus Menschenknochen einen neuen Menschen erschafft und ihm Leben einhaucht.« »Aber auch traurig. Schließlich ist dieses hässliche Monster total verzweifelt, weil es sich danach sehnt, dass jemand es mag.« Robin schaute sie an: »Du kennst das Buch?« »Nein, ich habe das aus dem Internet.« Sie schwieg einige Sekunden und fuhr fort: »Bringt Frankenstein nicht alle möglichen Leute um . . .?« Sie konnte nicht weitersprechen. Diese Gedanken waren absurd. Einfach völlig daneben. »Was?«, fragte Robin. »Lies das!« Sie hielt ihm Marys Mail hin. Er las den Text durch »Die spinnt ja noch mehr, als ich dachte.« Der Pausengong ertönte. »Sicher ist es Mary, die immer anruft. Und sie war neulich in unserem Haus.« Der Pausengong ertönte zum zweiten Mal. »Wir müssen in die Klasse«, sagte Robin. »Jedenfalls knöpfe ich sie mir vor. Sie kann nicht einfach solche Mails schicken. Du kannst sie dafür anzeigen. Mit vierzehn fällt sie unter das Jugendstrafrecht.« »Freitag ist immer noch weg.« »Mach dir keine Sorgen. Katzen haben sieben Leben.«

Als Stella nach Hause kam, war Freitag weiterhin verschwunden. Sie warf sich aufs Bett und dachte an Mary. Auch deren Mutter war weg, aber sie war nicht tot. Mama war nicht freiwillig gestorben. Nein, das konnte nicht sein. Sie wollte das nicht glauben. Sie musste sich erinnern. Erinnere dich! Stella suchte verzweifelt nach irgendetwas, irgendeinem Bild, und sei es auch noch so winzig klein, das ihr die Vergangenheit erklärte. Doch ihr Kopf war leer. Leer. Leer. Leer. Unten läutete das Telefon. Sie stand auf. Vielleicht war es ihr Vater? Er hatte sich seit seiner Abreise nicht mehr gemeldet. Auch das war nicht normal. Sonst telefonierte er mindestens einmal am Tag mit ihr, um sich zu überzeugen, dass es ihr gut ging. Stella rannte nach unten. Sie musste ihn fragen, ob ihre Mutter sich tatsächlich... Nein, es konnte nicht sein. Aber wenn jemand ihr diese Frage beantworten konnte, dann Johannes. Er war der Einzige, den sie noch hatte. Außer Robin. Sie nahm das Gespräch entgegen. Bereits in dem Moment, in dem sie den Telefonhörer in der Hand hielt, wusste sie, dass das ein Fehler war. Sie hatte es satt. Wirklich satt. Das konnte niemand anders als Mary sein. »Hör auf damit, Mary«, rief sie. »Das ist nicht mehr lustig. Ich habe dir doch nichts getan.« Am anderen Ende hörte sie jemanden atmen. Nein, das war kein Atmen. Jemand lachte. Heiser. Kaum hörbar. Wie das Rascheln von Laub. »Mary?« Wie immer legte der Anrufer auf und gleich darauf ertönte das gleichmäßige Tuten im Hörer. Stella warf das Telefon auf die Halterung. Es fiel zu Boden und zersprang auf dem Steinboden. Sie hob die Einzelteile auf und versuchte, sie wieder zusammenzusetzen. Es gelang ihr. Trotzdem blieb die Leitung tot, als sie den Hörer an ihr Ohr hielt. Auch das noch. Wenn Robin jetzt anrief, würde er sie nicht erreichen. Und seine E-Mail-Adresse hatte sie nicht. Sie ging in die Küche. Auf dem Küchentisch lag ein Zettel von Pat. Fisch ist im Kühlschrank. Guten Appetit, mein Schatz. Pat meinte es mit Sicherheit gut, aber sie wollte einfach nicht wahrhaben, dass Stella keinen Fisch mehr aß. Sie nahm das Essen aus dem Kühlschrank und wollte es gerade in den Mülleimer werfen, als ihr einfiel, dass Pat die Reste dort finden würde. Besser war, sie spülte sie die Toilette hinunter. Sie ging mit dem Teller hoch ins Bad, das nach Pats Parfüm roch. Der süßliche Geruch nach Räucherstäbchen verursachte ihr Kopfschmerzen. Doch da war noch etwas anderes. Ein Gedanke am dunklen Horizont ihrer Erinnerungen. Wie das

Schiff, das Robinson als Ausweg erschien, aber am Ende immer eine Gefahr barg. Dieser Parfümgeruch. Hast du ein neues Parfüm?, hatte ihre Mutter gefragt. Pat hatte ihr den Arm hingestreckt und irgendetwas gesagt. Wie war der Name gewesen? Sie musste dieses Bild festhalten. Wie ihre Mutter und Pat unter dem Fenster saßen und sich unterhielten. Warum hatte ihre Mutter geweint? Warum? Dr. Mayer hatte gesagt, wenn sich irgendwo ein loses Ende finde, ein Erinnerungsfädchen, dann müsse sie fest daran ziehen, damit ihr Gedächtnis wiederkomme. Sie musste Pats Parfüm finden.